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TEILDOKUMENT:
Ann-Christin Jörgensen; Farschid Dehnad:
Druck-Ausgabe: Seite 71 Der Stadtteil Vahrenheide, vor allem Vahrenheide-Ost, ist ein sozialer Brennpunkt. Das Stadtbild im Bereich Klingenthal/Plauener Straße ist gekennzeichnet durch seine dichte Hochhausbebauung, enge Wohnverhältnisse, und aufgrund des Belegungsrechtes der Stadt Hannover (über 80%) leben hier viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, wie z.B. Deutsche, Kurden, Türken, Sinti und Roma, Italiener und Spätaussiedler aus der GUS. Durch diese Zusammensetzung der BewohnerInnenstruktur ergeben sich erhebliche soziale Spannungen, von denen besonders Kinder und Jugendliche betroffen sind. Laut Statistikstelle der Stadt Hannover vom 30.6.1995 leben allein im Klingenthal/Plauener Straße insgesamt 598 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 27 Jahren. Gerade kontaktarme Wohngebiete, die eine nicht ausreichende Infrastruktur haben sowie unattraktive und fehlende Freizeitangebote, sind der Nährboden von Rumhängen" und Zeit totschlagen" der Jugendlichen. Die immer stärker nachlassenden familiären und nachbarschaftlichen Lebensbedingungen im Stadtteil führen gerade bei ihnen zu einer Orientierungs- und Perspektivlosigkeit für die Zukunft. Zur Stärkung der eigenen Identität bilden diese Jugendlichen unterschiedliche Gruppierungen, bei denen sich abzeichnet, daß sie immer mehr Waffen tragen und auch benutzen. Diese belastende Lebenssituation führt oftmals zu Konflikten, die gewalttätige Lösungen hervorrufen bzw. forcieren. Ziel unserer Arbeit ist es, Hilfe bei der Lebensorientierung anzubieten. Dadurch sollen die positiven Kräfte der Jugendlichen entwickelt und erweitert werden. Fachliches Wissen und professionelles Handeln stellen wir als Streetworker für psychosoziale Probleme, Hilfe in Notlagen und Krisensituationen, Durchsetzung von Rechtsansprüchen Schul-. Berufs-, Wohnungs- und Freizeitproblemen zur Verfügung. Druck-Ausgabe: Seite 72 Auf der individuellen Ebene geht es um Persönlichkeitsstabilisierung und Persönlichkeitsentwicklung und der daraus folgenden erweiterten Handlungskompetenz der Jugendlichen. Auf der sozialen Ebene geht es um die Entwicklung und Einübung sozialer Kompetenzen mit der Konsequenz, daß die Jugendlichen ein erweitertes Verhaltensrepertoir erlangen. Um den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht zu werden, verstehen wir uns als Streetworker. Streetwork ist für uns in erster Linie eine methodische Vorgehensweise und Kontaktform im Sinne aufsuchender, mobiler, akzeptierender Jugendarbeit und nicht Konzept. Ein Streetworker muß eine gefestigte Persönlichkeit sowie ein hohes Maß an psychischer Belastbarkeit besitzen. Da jeder Jugendliche individuell ist, muß ein ausgeprägtes Differenzierungs- und Einfühlungsvermögen vorhanden sein. Wir wollen durch Motivation und Initiative Jugendliche in die Lage versetzen, von der Rolle des Passiven in die Rolle des aktiv Handelnden überzuwechseln. Dadurch wird der Jugendliche immer mehr in die Eigenverantwortung geführt. Dies setzt natürlich absolute Mobilität voraus, damit wir uns in die Lebenswelten der Jugendlichen hineinbegeben können. Streetwork ist grundsätzlich ein lebensweltnaher und niedrigschwelliger Arbeitsansatz, der immer problem- und sachorientiert ist. Gegenüber den Jugendlichen muß eine Grundlage geschaffen werden, die von Vertrauen und Langfristigkeit bestimmt wird. Dies ist nur mit einer grundsätzlich positiven Einstellung, die keine Anbiederei und Kritiklosigkeit, sondern kritische Sympathie ist, zu gewährleisten.
Beispiel: Erlebnispädagogische Freizeitaktivität Klettern
Speziell beim Klettern lassen sich Eigenerfahrungen sowie die Gefühle von Unsicherheit oder Geborgenheit verbal thematisieren. Dadurch werden sie vom unbewußten Erleben in das Bewußtsein transportiert. Sinnliche Aspekte von Eigen- und Fremdwahrnehmung spielen durch die Tätigkeit selbst auch einmal eine zentrale Rolle im interaktivem System der Gruppe, die dem eigenen bewußten Nachvollziehen zugänglich gemacht werden können. Druck-Ausgabe: Seite 73 Medium ist zunächst der eigene Körper und die eigene Sensibilität als Mittelpunkt des Prozesses. Der zunächst individuelle Charakter des Kletterns eröffnet den Teilnehmerlinnen Freiheit, momentanen eigenen Bedürfnissen unmittelbar nachzukommen. Herausgefordert wird ein authentischeres Sich-Zeigen schließlich dadurch, daß die Kletternden kaum verbergen können, wie sie sich gerade fühlen. Das schafft nicht nur hinsichtlich der äußeren Anforderungen unfertige Situationen, sondern bedingt das Einlassen auf innere unfertige Situationen, auch das bewußte Erfahren möglicherweise sehr unerwünschter, verdrängter und unbewußt gewonnener Aspekte der eigenen Persönlichkeit. Die Jugendlichen haben ihre Grenzen erweitert, indem sie sich mit ihnen konfrontiert haben. Sie erleben sich neugierig, kreativ, offen, relativ angstfrei und umgeben von Freunden.
Beispiel: Erlebnispädagogische Freizeitaktivität Graffiti
Das Sprayen beim Graffiti ermöglicht es, Jugendlichen einen anderen Umgang mit eigenen Stärken und Schwächen zu finden und diese neu zu definieren. Beim Sprayen geht es immer auch um Grenzerfahrungen im Kreativitätsbereich. Es geht hier um die bewußte Wahrnehmung subjektiver, latenter, künstlerischer Vorstellungen und deren Verschiebungen. Welche Stärke wird gefunden, etwas zu gestalten und Verantwortung dafür zu übernehmen? Dieses Gefühl stärkt das Selbstbewußtsein als auch das Vertrauen in eine andere Person und somit den Sinn für die Gruppe als Team. Um gemeinsam ein Bild zum Thema: Gewalt im Alltag von Jugendlichen" entwerfen und gestalten zu können, müssen sich die Jugendlichen mit Ursachen und Erscheinungsformen von Gewalt auseinandersetzten. Dadurch sollen sie angeregt werden, auch über gewaltreduzierende Strategien nachzudenken. Des weiteren haben wir das Ziel, die Jugendlichen, die zum Teil schon Sprüherfahrungen besitzen, weg von illegalen Nachtsprühaktionen zu bekommen und ihnen als Alternative legale Arbeitsflächen zur Verfügung zu stellen. Den Jugendlichen, die noch keine Sprüherfahrungen besitzen, wird zugleich die Möglichkeit der Nutzung von legalen Wänden gegeben. Druck-Ausgabe: Seite 74 Als Abschluß möchten wir folgende Zeilen von Berthold Brecht mit auf den Weg geben: "Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flußbett, das ihn einengt, nennt niemand gewalttätig. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999 |