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2. Internationalisierung, Einkommen und Beschäftigung

Seit den frühen achtziger Jahren nahm die weltwirtschaftliche Verflechtung über Handel, Kapital- und Technologieströme (Globalisierung) deutlich zu. Daran war die EU ebenso beteiligt wie die USA und Japan. Der Anteil der Warenausfuhr an der Bruttoproduktion einer nach Größe und Offenheit annähernd repräsentativen Gruppe von OECD–Ländern stieg im Durchschnitt von 26% (1980) auf ca. 35% (1993), die Einfuhrdurchdringung stieg entsprechend. Der Anstieg der Direktinvestitionen von ca. 0,5% auf ca. 1 % des BIP spiegelt die geographische Diversifizierung der Unternehmensstandorte im globalen Maßstab wider (Franzmeyer u.a. 1996: 57, 70).

In der gleichen Zeit hat sich - trotz stagnierender oder gar schrumpfender Bevölkerung - in Westeuropa die Zahl der Arbeitslosen ebenfalls drastisch erhöht. In Westdeutschland stieg die Arbeitslosenquote um nicht weniger als 5 Prozentpunkte. Nimmt man die Ausdrucksformen versteckter Arbeitslosigkeit wie unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung, Frühverrentung und Rückgang der Erwerbsquote hinzu, so scheint die Leistungsfähigkeit der westeuropäischen Arbeitsmärkte noch deutlicher im Sinken begriffen (Franzmeyer u.a. 1996: 12f.). Anders dagegen in den USA: Hier entstanden weit über 10 Millionen Arbeitsplätze, und trotz relativ kräftiger Bevölkerungszunahme sank die Arbeitslosenquote um 3 Prozentpunkte. Vielfach wird diese voneinander abweichende Entwicklung auf hüben gegenüber drüben größere Rigidität der Arbeitsmärkte auf der Mikroebene wie Lohninflexibilität, starre individuelle oder kollektive Arbeitszeiten, regionale und berufliche Immobilität, sozialpolitische disincentives zur Arbeitsaufnahme, hohen Kündigungsschutz und attentistisches Einstellungsverhalten zurückgeführt (OECD 1994), aber auch z.B. auf eine unterschiedliche Reaktionsfähigkeit des Bildungssystems.

Es gibt jedoch empirische Evidenz dafür, daß das höhere Beschäftigungsniveau der USA sehr weitgehend durch eine größere und stetigere Dynamik der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bedingt ist (Franzmeyer u.a. 1996: 124f.). Nicht nur war im Durchschnitt der letzten 15 Jahre das Wirtschaftswachstum in den USA höher als in Westeuropa, vielmehr waren zugleich in den USA anders als in Europa die Aufschwünge nach den Rezessionen von Anfang der achtziger und Anfang der neunziger Jahre lang und die vorausgegangenen Abschwünge kurz und gemäßigt ("soft landing"). Dies war im wesentlichen das Verdienst einer besseren Koordinierung der US-Wirtschaftspolitik. Insbesondere reagierte die Geldpolitik, nachdem sie sich zu Anfang der achtziger Jahre durch eine unnachgiebig restriktive Quittierung der Inflationsbeschleunigung gehörigen Respekt verschafft hatte, in der Folgezeit sehr sensibel auf Entspannungssignale vom Güter- und Arbeitsmarkt. Unternehmen wie Arbeitnehmervertreter eskomptierten ihrerseits den erwiesenen Stabilitätswillen der Fed und hielten sich in ihren Preis- und Lohnforderungen zurück. So konnten weitere Stabilisierungskrisen vermieden werden. In Deutschland und den übrigen Ländern des D-Mark-Blocks litt die wirtschaftliche Aktivität dagegen lange Zeit unter einer Politik hoher Zinsen, die die Bundesbank auch 1993 noch fortsetzte, als von Inflationsgefahr keine Rede mehr sein konnte. Zwar wurde das nominale Zinsniveau gesenkt, doch in Anbetracht der praktisch zum Stillstand gekommenen Preisentwicklung blieb das reale, für Investitionsentscheidungen maßgebliche Zinsniveau relativ hoch. Aber auch zuvor hatte die Bundesbank in offenbarer Fehleinschätzung der im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung stehenden geldpolitischen Notwendigkeiten (Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute 1992: 589f.) überzogen und damit in ganz Westeuropa Wachstumspotential verspielt. Infolgedessen blieb das Wirtschaftswachstum in den meisten Fällen deutlich unter 3% p.a. - zu wenig für nachhaltige Beschäftigungsimpulse. Denn daß auch in Deutschland und dem übrigen Westeuropa die Beschäftigungsentwicklung nicht von der gesamtwirtschaftlichen Dynamik "entkoppelt" ist, hatten eindrucksvoll die späteren achtziger Jahre belegt, als die Arbeitslosigkeit unter dem Eindruck eines langanhaltenden konjunkturellen Aufschwungs allenthalben in Europa zurückgegangen war.

Auch ein Vergleich von Internationalisierung der Wirtschaft und zunehmender Arbeitslosigkeit nach durchschnittlicher Dynamik wie zeitlicher Variabilität zeigt, daß der Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen nicht eng sein kann. Denn während die Internationalisierung zwar mit gelegentlichen Beschleunigungs- und Verzögerungsschüben, insgesamt aber doch relativ langsam vonstatten ging, stieg in Europa die Zahl der Arbeitslosen insgesamt sehr viel schneller, und zwar in Schüben, die mit den Internationalisierungsschüben keineswegs immer kongruent waren. Zudem hätte viel dafür gesprochen, daß der in allen Ländern rasch wachsende und im Vergleich zum verarbeitenden Gewerbe in weiten Teilen noch arbeitsintensive Dienstleistungssektor, bei dem die Exponiertheit gegenüber dem Internationalisierungstrend eher abnimmt, in der Lage hätte sein sollen, Arbeitskräfte zu absorbieren, wenn das gesamtwirtschaftliche Aktivitätsniveau es zugelassen hätte.

Anders als auf das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsniveau wirkt Internationalisierung durchaus stark auf die Struktur der Beschäftigung nach Sektoren und Qualifikationsprofilen. Herausragender Trend ist die Abnahme der Nachfrage nach wenig qualifizierter Arbeit - mit entsprechendem Druck auf die Löhne in diesem Segment - bei gleichzeitiger Zunahme der Nachfrage nach hochqualifizierter Arbeit - auch wenn diese teuer ist. So ergab eine jüngste Untersuchung der Technischen Universität Hannover, daß bei aller Kostenrhetorik der Verbände die übertarifliche Bezahlung in den angeschlossenen Unternehmen weit verbreitet ist. Auch sind in der deutschen Wirtschaft die für wenig qualifizierte Arbeit geltenden unteren Lohngruppen vielfach kaum besetzt. Für diesen "skill-bias" sind im wesentlichen die wachsende Konkurrenz durch Niedriglohnländer bei arbeitsintensiven Produkten und der entsprechende Zwang zur Spezialisierung auf technologieintensive Produkte in den Industrieländern (der freilich vom autonomen technologischen Fortschritt schwer zu trennen ist) verantwortlich (Nickell/Bell 1995; Wood 1995).

Der Lohnkostenvorteil von Schwellen-, Transformations- und Entwicklungsländern ist so groß, daß die Hochlohnländer der OECD hier auf keinen Fall konkurrieren können. Dies ist bei vernünftigem Strukturwandel auch gar nicht nötig. Denn die in den Niedriglohnländern verdienten Devisen fließen größtenteils als Nachfrage nach Technologiegütern in die Industrieländer zurück. Die Exporte Westdeutschlands in diese Ländergruppe sind ebenso rasch gestiegen wie die Importe von dort; die Expansionsrate dieses Handels lag um ein Vielfaches über der des deutschen Außenhandels insgesamt (Lindlar 1995: 656). Das Wettbewerbsproblem der Industrieländer ist es vor allem, in Konkurrenz zueinander bei solchen Technologieprodukten innovativ zu bleiben und auf höchste Qualität zu sehen. Dann lassen sich - zumindest temporär, d.h. solange bei den von ihnen entwickelten "Produktzyklus-Gütern" das Innovationsmonopol besteht - sogar Preissteigerungen auf den Exportmärkten durchsetzen. Damit verbessern sich für das Exportland die Terms of Trade (Verhältnis der Ausfuhr- zu den Einfuhrpreisen) und damit ohne zusätzlichen Faktoreinsatz die Realeinkommen.

Die erhöhte Kapitalmobilität verstärkt den Trend zur Spezialisierung der Hochlohnländer auf Technologie- und Qualitätsprodukte. Über Direktinvestitionen nutzen auch Unternehmen aus Industrieländern ausländische Lohnkostenvorteile; es kommt zu einer weiteren Zerlegung der Wertschöpfungskette (outsourcing). Mit der Komplementarität zwischen Kapitalmobilität und Mobilität von Teilen des technischen Wissens werden in den Zielländern komparative Vorteile auch für mittlere bis höhere Technologiesegmente der Produktskala erzeugt, und der Zwang zur Spezialisierung auf Spitzentechnologie wird in den Industrieländern um so größer. Diesem Zwang kann - wie es Deutschland praktiziert - jedoch in Grenzen dadurch ausgewichen werden, daß durch Import und inländische Anwendung weltweit bester Verfahrenstechnologie in den Erzeugnisgruppen mittlerer Technologie besonders produktiv oder qualitativ hochwertig gearbeitet wird (Schumacher u.a. 1995: 263).

Direktinvestitionen dienen aber nur nachrangig der Ausschöpfung ausländischer Kostenvorteile beim outsourcing. Das Hauptmotiv ist Exportbegleitung, also die Absicherung von Exportmärkten. Solche Kundennähe ist besonders wichtig im intra-industriellen Handel mit hochdifferenzierten, auf die spezifischen Wünsche der Kunden zugeschnittenen Gütern, wie er für Industrieländer typisch ist. Deutsche Firmen haben bei ihren Direktinvestitionen im Ausland einen Nachholbedarf: Die Relation der Direktinvestitionsbestände zum Export ist hierzulande noch erheblich geringer als in Großbritannien und den USA. Zum Teil liegt hier die Erklärung dafür, daß die deutsche Direktinvestitionsbilanz negativ ist, also mehr Produktionskapital aus dem Lande abfließt als hereinkommt. Die Bilanz spiegelt zum anderen die Erfolgsbilanz der deutschen Exportwirtschaft wider. Außenhandelsüberschüsse, wie sie Deutschland traditionell erwirtschaftet, sind automatisch mit entsprechenden Kapitalbilanzüberschüssen gekoppelt, da die Exportüberschüsse ja -freiwillig oder unfreiwillig - finanziert werden. Soweit nun Direktinvestitionen normaler Bestandteil der gesamten Kapitaldispositionen sind und zu diesen in einem geplanten quantitativen Verhältnis stehen, führen Exportüberschüsse auch quasi automatisch zu einem Überschuß in der Direktinvestitionsbilanz (Flassbeck 1995: 701).

Theoretisch ist dieser Zusammenhang allerdings nicht unumstritten. Nach der neoliberalen Außenhandelstheorie Kieler Spielart steht nicht der deutsche Nettoexporterfolg am Anfang, sondern der Kapitalexport. Das deutsche Kapital sucht die Auslandsanlage, da es im Inland keine hinreichende Rendite mehr erwirtschaften kann. Giersch (1997) spricht von "Kapitalmangel-Arbeitslosigkeit". Der Kapitalexport drückt nun den Wechselkurs der D-Mark, so daß das Land einen preislichen Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkt erhält, während sich der Import verteuert. Dies wiederum bewirkt den Überschuß im deutschen Außenhandel.

Die Plausibilität dürfte für den Primat des Exporterfolges sprechen. Qualität und Technologiegehalt und nicht die Gunst der Preise begründen den Ruf der deutschen Exportwirtschaft. Die D-Mark ist zudem über Jahrzehnte hinweg - als Folge unterdurchschnittlicher Lohnstückkostenentwicklung im internationalen Vergleich (Flassbeck 1995: 702) aufgewertet und nicht abgewertet worden. Gegenüber dem US-Dollar ist der D-Mark–Kurs trotz der jüngsten Dollarstärke immer noch deutlich höher, als es der Kaufkraftparität entspricht (Flassbeck 1995: 703). Auch wurden bereits Exportüberschüsse erzielt, als noch mehr Direktinvestitionen ins Land flossen. Allerdings zeigt genau diese Verschiebung der Relation von Direktinvestitions- zu Gesamtkapitalbilanz, daß auch die Portfoliothese ihre Schwächen hat. Zwar strafen einerseits die nachhaltigen Exporterfolge deutscher Unternehmen die Kassandrarufe von der strukturellen Standortschwäche des Landes Lügen. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, daß etwa der Standort Großbritannien auf Auslandsinvestoren seit geraumer Zeit eine ungleich größere Anziehungskraft ausübt.

Die negative Direktinvestitionsbilanz ist für Deutschland aber allenfalls ein Alarm-, kein Krisensignal. Maßgeblich für die internationale Wettbewerbsfähigkeit ist nämlich die inländische Investitionsquote insgesamt und nicht ein besonders hoher Anteil von Auslandsprovenienz der Investoren (Lindlar 1995: 657). Die deutsche Investitionsquote ist im EU-Vergleich aber überdurchschnittlich hoch (Franzmeyer 1996: 520). Die negative Bilanz ist auch nicht Ausdruck eines Exports an Arbeitsplätzen. Solange Exportüberschüsse erwirtschaftet werden, werden vielmehr Arbeitsplätze importiert. Dies ist in Deutschland sogar im Verhältnis zu den Niedriglohnländern der Fall. Jüngstes Beispiel sind die Transformationsländer. Obwohl die Einfuhr aus Ostmitteleuropa aufgrund der Europa-Abkommen der EU mit dieser Ländergruppe - von Agrargütern abgesehen - fast völlig liberalisiert ist, erzielt Deutschland hier deutliche Ausfuhrüberschüsse. Sie entsprechen im Handel mit der Ländergruppe Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien nach dem Stand von 1993 der Sicherung von jährlich netto etwa 60.000 deutschen Vollarbeitsplätzen (Weise u.a. 1997: 183). Allerdings lassen die unterschiedlichen Salden in den einzelnen Produktgruppen (Schaubild 2) erkennen, daß dieser Handel zugleich einen erheblichen Strukturwandel erzwingt.

Schaubild 2:
Sektorale Salden der EU (15) 1993

(im Handel mit 6 MOE-Ländern
[Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Rumänien], Mio. US-$)

Dieser Strukturwandel geht in den Industrieländern zu Lasten derjenigen Exportsektoren, die noch relativ arbeitsintensiv sind. Weiter oben wurde zwar festgestellt, daß Industrieländer nicht im Preiswettbewerb mit Entwicklungs- oder Transformationsländern stehen. Doch auch in Hochlohnländern sind bei weitem nicht alle für den Weltmarkt tätigen Unternehmen Produzenten von Hochtechnologiegütern. Insbesondere in vielen tradierten mittelständischen Unternehmen ohne großes eigenes FuE-Potential spielen die Löhne durchaus noch eine große Rolle. Diese Unternehmen haben in den Produktionssegmenten, die von Niedriglohnländern abgedeckt werden können, bei offenen Märkten nur dann noch eine Produktionschance, wenn die hohen Löhne der im eigenen Land tätigen multinationalen Unternehmen nicht auf sie durchschlagen, wenn also die institutionellen Strukturen und Mechanismen der Tarifverhandlungen eine starke Spreizung der Lohnskala zulassen. Dies ist gleichbedeutend mit einer starken Ungleichverteilung der im Produktionsprozeß entstehenden "primären" Einkommen. Ein Land, das dies zuläßt, nimmt als Preis für ein höheres Beschäftigungsniveau zugleich in Kauf, daß unter dem Einfluß der Globalisierung die Armen dort relativ immer ärmer werden. Dies ist ausgeprägt in den USA, aber auch in Großbritannien der Fall (Burkhauser 1996). Zwar kann das ungleiche Ergebnis der Primärverteilung durch steuerliche oder finanzielle Transfers korrigiert werden, so daß die "sekundäre" Einkommensverteilung egalitärer und "Armut in Beschäftigung" (Klasse von working poor) vermieden wird. Doch dies bindet knappe Steuermittel und gilt zudem als motivationshemmend und flexibilitätsmindernd bei der Suche nach zukunftsträchtigeren Arbeitsplätzen. Großbritannien und die USA zählen zu den Ländern, die das so sehen. Konsequenterweise unternehmen sie wenig Anstrengungen, das Marktergebnis durch Umverteilung zu revidieren.

Die meisten europäischen Länder versuchen dagegen aktiv, die Einkommensungleichheit in Grenzen zu halten. Dies ergibt sich innerhalb der Gruppe der Lohn- und Gehaltsempfänger zum Teil aus den Tarifverhandlungen: Zentrale und flächendeckende Tarifverträge haben gewöhnlich eine weniger differenzierte Ergebnisstruktur als dezentrale und betriebliche. In vielen Fällen dekretiert der Staat auch Mindestlöhne. Führt die relative Gleichverteilung in unterdurchschnittlich produktiven Bereichen zu Arbeitslosigkeit, so kann die Verteilung unter Einschluß der Arbeitslosen gleichwohl ungleich sein. Sie läßt sich dann nur durch relativ hohe Lohnersatzleistungen oder relativ gutbezahlte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen egalisieren. Von Einfluß ist auch die Ausgestaltung des Rentensystems (Grundrente mit privater Zusatzvorsorge vs. Umlagesystem; im letzteren Fall Höhe der Beiträge und Renten). In den meisten Ländern der Europäischen Union wird heute die Fähigkeit zur Redistribution durch hohe Staatsverschuldung und durch Konsolidierungszwänge im Zusammenhang mit der Errichtung der Europäischen Währungsunion zunehmend beschnitten. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für die Makrosteuerung.

Doch kann sich angesichts der Strukturwirkungen von Globalisierung und Europäisierung Einkommens- und Beschäftigungspolitik nicht in Wachstumspolitik erschöpfen. Ansatzpunkt für ein mehr auf Meso- oder Mikroebene anzusiedelndes Gegensteuern muß die Beobachtung sein, daß in Europa viel stärker, als dies in Amerika der Fall ist, die im Abschwung sprungartig gestiegene Arbeitslosigkeit auch dann noch auf hohem Niveau verharrt, wenn die Konjunktur schon längst wieder angezogen hat ("Hysteresis").

Gründe dafür können sowohl bei der Nachfrage nach Arbeit als auch beim Arbeitsangebot bestehen. Auf der Nachfrageseite kann der Grund für den Verlust des Arbeitsplatzes einmal eine konjunkturelle Unterauslastung des Unternehmens sein. Zweitens kann das Unternehmen dem Strukturwandel zum Opfer gefallen sein (in der Tat hat die Zahl der Insolvenzen in den letzten Jahren stark zugenommen). Das Unternehmen kann sich drittens umgekehrt gerade bemühen, dem Strukturwandel durch kostensenkende Rationalisierung zu begegnen. Schließlich kann sich das Unternehmen viertens offensiv dem Strukturwandel stellen, indem es neue Produkte erzeugt, mit neuen Anforderungen auch an das Personal (beide Reaktionsmuster sind unter dem Einfluß des intensivierten Wettbewerbs zu beobachten). Wenn das Unternehmen gerade die Krisenlage nutzt, um die Rationalisierung oder Umstrukturierung voranzutreiben, wenn es aus Risikoscheu oder ungünstiger Erwartungen seine Kapazitäten nach unten angepaßt hat oder wenn es aus denselben Gründen eine Wiedereinstellung trotz Kapazitätsreserven scheut, ist auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes der Nährboden für Hysteresis gut. Neben einer längerfristig aufwärtsgerichteten Entwicklungstendenz ist daher auch eine Verstetigung des Wachstums nötig.

Die wichtigsten Gründe nicht-konjunktureller individueller Dauerarbeitslosigkeit dürften in einem unzureichenden Arbeitsangebot liegen. Häufig entspricht das Qualifikationsprofil nicht den Anforderungen oder paßt sich dem sich abzeichnenden Wandel nicht flexibel an. Eine wesentliche Ursache hierfür ist im nachhaltigen Qualifikationsverlust bei anhaltender Arbeitslosigkeit zu suchen. Die technische Entwicklung geht über die Köpfe von über längere Zeit Arbeitslosen hinweg. Oder der im Abschwung forcierte Strukturwandel ist so radikal, daß sich Arbeitslose eine völlig neue Berufsausbildung zueignen müßten, was um so schwerer fällt, je älter der Betroffene und je anforderungsreicher das neue Berufsbild ist. Die Nichtverfügbarkeit von paßformgenauer Qualifikation ist zum Teil auch in regionaler Immobilität der betroffenen Arbeitskräfte begründet.

Die bisherigen Ausführungen lassen sich so zusammenfassen:

- Globalisierung und Europäischer Binnenmarkt müssen nicht das Niveau der Arbeitslosigkeit erhöhen, wenn ein Wirtschaftswachstum von 3% oder mehr erzielt werden kann. Vielmehr sollte vom Welthandel wie vom Binnenmarkt bei richtiger wirtschaftspolitischer Flankierung gerade ein solches Ergebnis erwartet werden.

- Zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit bedarf es jedoch eines beschleunigten Strukturwandels, der angebotsseitig durch erhöhte Investitionen in das Bildungssystem sowie durch dessen Verbesserung ermöglicht werden muß, da insbesondere wenig Qualifizierte vom Strukturwandel negativ betroffen sind.

- Es kann jedoch auch bei bester Ausgestaltung nicht damit gerechnet werden, daß die Qualifizierung alle Betroffenen erreicht.

- Globalisierung und Binnenmarkt dehnen den internationalen Wettbewerb von der Güter- auf die Systemsphäre aus. Durch down-grading von Standards können zwar u.U. bessere Beschäftigungsergebnisse erzielt werden, dafür muß aber das Entstehen von Armut in der Erwerbstätigkeit in Kauf genommen werden.

- Doch auch die übrigen Länder kommen angesichts knapp gewordener öffentlicher Mittel und globalisierungsunabhängiger, zusätzlicher Belastungen der Sozialversicherung (Demographie) nicht umhin, ihr soziales System zu überprüfen, um es kostengünstiger, anreizintensiver und damit letztlich beschäftigungsfördernder zu gestalten.

Vor diesem Hintergrund haben diejenigen Länder Startvorteile, deren Sozial- und Beschäftigungssysteme bereits viele Elemente enthalten, die den neuen Erfordernissen genügen. Soweit ein System noch weit davon entfernt ist, wird es sich als um so anpassungsfähiger erweisen müssen. Ausgangsdivergenz und Konvergenzleistung der EU–Länder untereinander und in ihrem Verhältnis zu den USA und Japan bestimmen das Maß, in dem sich die Systemunterschiede in ihrer Außenwirtschaftswirkung neutralisieren, aber auch den binnenwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Trade-off der Anpassungsleistung in Form von Akzeptanzverlusten. Beides bestimmt sich nicht zuletzt aus dem sozial- und beschäftigungspolitischen Kurs der EU und wirkt auf diesen zurück: In dem Maße, wie die Mitgliedstaaten sich ohnehin koordinieren, kann die EU auf den Harmonisierungsansatz verzichten, und die weiteren Koordinierungsempfehlungen der Kommission werden dem Inhalt nach von den erzielten Koordinierungsergebnissen im einzelnen abhängen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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