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Grundgesetz und Demonstrationsdelikte
Ein weiteres Kapitel der Strafrechtsreform     
                
 (Ausgabe 2/1970)

Zum Jahreswechsel 1969/70 hat Bundespräsident Gustav Heinemann der unruhigen Jugend ein kritisches Lob gespendet: „Die Unruhe in der jungen Generation hat viele von uns in den letzten Jahren überrascht, oft auch verärgert. Dieser Unruhe verdanken wir — das möchte ich nachdrücklich sagen — viele fruchtbare Anstöße. Die junge Generation drängt in allen Völkern zu neuem Denken und zu entschlossenem Handeln, damit wir in der sich rapide wandelnden Welt als einzelne und als Gemeinschaft bestehen können... Dieser selben Jugend aber sage ich, daß sie ihre Ziele verfehlt, wenn sie ihre Eltern und ihre Lehrer oder das sogenannte Establishment wie Feinde behandelt und demütigen will."

Das als notwendig anerkannte jugendliche Engagement muß zum Teil — und zwar auch dort, wo es nicht zu Exzessen gekommen ist — teuer bezahlt werden. Der Gerichtsreferendar Rolf Pohle erhielt 15 Monate Gefängnis für die bloße Teilnahme an einer Springer-Blockade — er hatte weder Steine geworfen, noch Brände gelegt oder Autos umgestürzt. Falls das Urteil bestehen bleibt, wird sich Pohle auch nach einem anderen Beruf umsehen müssen.

Das BayObLG hat in einer Revisionsentscheidung die Verurteilung eines anderen jugendlichen Täters aufrechterhalten, der sich an einem Straßensitzstreik gegen die amerikanische Vietnampolitik beteiligt hatte. Erschwerend fiel ins Gewicht, daß hierbei auch der VW eines unbeteiligten Kraftfahrers von den Demonstranten — die persönliche Beteiligung des Verurteilten wurde weder festgestellt, noch war sie juristisch erforderlich — „geschaukelt und leicht angehoben" wurde.

Der Kölner AStA-Vorsitzende Laepple hatte einen kurzen, gezielten Straßenbahnschienensitzstreik gegen die Erhöhung der Verkehrstarife organisiert. Der Freispruch des LG Köln wurde vom Bundesgerichtshof aufgehoben — der passive Sitzstreik müsse rechtlich als Gewaltanwendung qualifiziert und Laepple daher wegen Nötigung verurteilt werden.

Drei Fälle, deren kriminalpolitische Notwendigkeit zweifelhaft, deren juristische Begründung fraglich und — im Fall Pohle — deren Strafmaß krasses Unrecht ist. In den verschiedenen Stadien polizeilicher, staatsanwaltlicher und gerichtlicher Vorbereitung befinden sich zur Zeit 7181 Verfahren. Mandie von ihnen befassen sich mit handfesten Vorwürfen wie Körperverletzung und schwerwiegende Sachbeschädigung. Die überwiegende Mehrzahl aller strafrechtlichen Vorwürfe betreffen jedoch den Konflikt zwischen staatsbürgerlichem Freiheits- und Demonstrationsverlangen einerseits und staatlicher Ordnungsvorstellung andererseits.

Dieser Sachverhalt legt den Gedanken einer Amnestie nahe — Dr. Lindemann, hat in diesen Spalten hierzu schon ausführlich Stellung genommen. Eine Amnestie kann jedoch nur _ für die Vergangenheit friedensstiftende Wirkung haben — für die Zukunft bedarf es eines reformierten Strafrechts und einer Rechtsprechung, die sich dessen bewußt ist, daß auch das Strafrecht unter dem Vorbehalt der Grundrechte und nicht etwa diese unter dem Vorbehalt des Strafrechts stehen.

Die Koalitionsfraktionen SPD und F.D.P. haben die Dringlichkeit einer Reform erkannt und schon am 4. Dezember 1969 einen entsprechenden Gesetzesentwurf eingebracht. Die erste Lesung war am 10.12.1969. Am 12. und 13.1.1970 wurde vom Sonderausschuß für Strafrechtsreform ein öffentliches Anhörungsverfahren durchgeführt.

Die Grundprinzipien des Entwurfs lassen sich kurz skizzieren:

Führen Demonstrationen zu Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sa&en, dann wird nicht wie bisher (Landfriedensbruch: § 125 StGB) jeder „Mitläufer", und sei er auch nur neugierig oder sogar innerlich ablehnend, bestraft, sondern nur derjenige, der sich selbst aktiv an den Gewalttätigkeiten beteiligt hat,

Der „Auflauf" (§116 StGB), also das Verharren in einer Menschenmenge trotz dreimaliger Aufforderung, sich zu zerstreuen, verliert seinen kriminellen Charakter und wird als „unerlaubte Ansammlung" zu einer bloßen Ordnungswidrigkeit (Geldbuße bis zu 1000 DM).

Beim Widerstand gegen die Staatsgewalt (§ 113 StGB) soll man künftig dann straflos bleiben, wenn man irrig annimmt, die Staatsgewalt handele unrechtmäßig und dieser Irrtum unverschuldet ist.

Wer zur Zeit „zum Ungehorsam gegen die Gesetze" auffordert, riskiert bis zu zwei Jahren Gefängnis (§ 110 StGB). In Zukunft soll nur noch die Aufforderung zur Begehung eines Verbrechens oder Vergehens strafbar sein.

Die Bestimmung über „Aufruhr" (§ 115 StGB) kann fortfallen, da der sachliche Unrechtsgehalt (Zusammenrottung und Widerstand) schon in den §§ 113 und 125 StGB sowie im Ordnungswidrigkeitenrecht enthalten ist und ein darüber hinausgehender Schutz der Obrigkeit nicht erforderlich ist.

Die Beamtennötigung des § 114 StGB ist in Hinblick auf den generellen Nöti-gungstatbestand des § 240 StGB entbehrlich. Der Sonderschutz für Beamte ist ein typischer Ausfluß obrigkeitstaatlichen Denkens.

Es bleibt abzuwarten, ob diese Grundkonzeption die parlamentarischen Beratungen übersteht. Die Opposition hat schon Bedenken angemeldet; ihr ist der Entwurf teilweise zu liberal; Staat und Staatsdiener, aber auch der unbeteiligte Bürger würden nicht ausreichend geschützt. Im Anhörungsverfahren waren es vor allem die Amts Vertreter der Polizei — auch die sozialdemokratischen —, die in in jeder großen Ansammlung zielgeeinter Menschen einen potentiell polizeiwidrigen Zustand sehen und deshalb Strafbestimmungen schon für dieses „Vorfeld" möglicher Kriminalität fordern. Sie waren' nur mit einer terminologischen nicht jedoch mit einer inhaltlichen Änderung des Demonstrationsrechtes einverstanden.

Den — auch gehörten — Studentenvertretern war die Reform noch zu demonstrationsfeindlich. Für sie ist „Demonstration" das wichtigste politische Grundrecht, dem daher ein entsprechend großer Freiheitsraum eingeräumt werden muß. Außerdem vermissen sie — zu Recht — eine synchrone Änderung allgemeiner Straftatbestände (z.B. Nötigung), da diese — ungeändert — als Auffangtatbestände die Reformbemühungen in der Praxis vereiteln könnten.

Grundlage der weiteren Reformdebatte sollte die Mahnung des Bundesjustizministers sein, daß die „Fassung der Tatbestände in der heutigen Form unbestimmt und in wesentlichen Punkten nicht mit dem Grundgesetz abgestimmt ist".

In der Tat: Die einschlägigen Straf Vorschriften können in ihrem Grundverständnis am 31. Mai dieses Jahres 100jährigen Geburtstag feiern. Ihrem historischen Selbstverständnis ist das Demonstrationsrecht, das sich aus Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und. Versammlungsrecht (Art. 8 GG) zusammensetzt, fremd; in ihre Zeit fallen das Sozialistengesetz und der Kulturkampf, Koalitions- und Streikverbote.

Die Rechtsprechung hat sich nur zögernd auf die neue Wirklichkeit eingestellt. Dem theoretischen Bekenntnis zum Recht auf friedliche Demonstration folgt meist die praktische Absicherung, soweit nicht in die Rechte anderer oder des Gemeinwesens (eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb, Straßenverkehr) eingegriffen wird. Diese Einschränkung verkennt jedoch die besondere Bedeutung von Grundrechten, die über den einfachen Gesetzen stehen und in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen (Art. 19 Abs. 2 GG). Und außerdem: Jeder Autofahrer beschränkt die Fortbewegungsmöglichkeit der anderen Verkehrsteilnehmer; ist das Autofahren deshalb rechtswidrig? Niemand denkt daran, kirchliche Umzüge, Faschingsparaden oder von der Regierung unterstützte Kundgebungen wegen Beeinträchtigung des Verkehrsflusses oder wegen sonstiger Belästigung unbeteiligter Passanten für strafwürdig zu erklären. Das für die „offizielle Meinung" unbequeme Ziel von Demonstrationsakten darf nicht dazu (ver)führen, hinsichtlich der angewandten Mittel zweierlei Recht walten zu lassen.

Das Demonstrationsrecht ist jedoch nicht nur ein schutzwürdiges Grundrecht des einzelnen Bürgers, es ist darüber hinaus eine institutionelle Garantie unserer Demokratie. Ebenso wie die Meinungsfreiheit nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts für unsere freiheitlich-demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend" ist, genauso dient das Demonstrationsrecht als ein Mittel der Meinungsfreiheit eben diesem unserem Staat. Die Demokratie bedarf der ständigen — auch vehementen, auch einseitigen — Auseinandersetzung; sie kann nur überleben, wenn sie bereit ist, die Positionen des Gemeinwesens und auch ihr eigenes Selbstverständnis immer wieder „in Frage" stellen zu lassen. Democracy is government by discussion. US-Supreme Court: „Regierende muß man beleidigen können."

Bundesjustizminister Jahn hat die deutsche Rechtsprechung in Schutz genommen: „Für eine verfassungskonforme Auslegung läßt die Fassung der Tatbestände in der Form, wie sie heute vorliegen, oft keinen Spielraum." Dies mag so sein, erstaunlich bleibt allerdings, daß bisher — soweit bekannt — noch kein Gericht versucht hat, sich durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 GG von den obrigkeitsstaatlichen Fesseln dieser grundgesetzignorierenden Strafvorschriften zu befreien; im Gegenteil, die Verfassungsmäßigkeit wurde zum Teil ausdrücklich festgestellt.

Die beiden stärksten Einwände gegen den Reformentwurf betreffen daher auch weniger die Absicht des Gesetzgebers, sondern das, was die Rechtsprechung aus dieser Absicht wohl per Auslegung herausholen wird:

1. Beim Widerstand gegen die Staatsgewalt soll der über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung unverschuldet irrende Täter straffrei ausgehen. Diese Gleichstellung des irrenden Bürgers mit dem über die Rechtmäßigkeit seiner Handlung irrenden Beamten, der schon heute straffrei ist, rief den Widerstand der CDU/CSU hervor. „Glauben Sie nicht, es müsse den betroffenen Bürgern zugemutet werden, bei Gefahr der Bestrafung der behördlichen Anordnung (auch wenn sie unrechtmäßig ist! C. W.) zunächst nachzukommen, weil davon auszugehen ist, daß sich unsere Beamten an Recht und Gesetz halten ... "

Hier offenbart sich ein Untertanendenken, welches aus der deutschen Geschichte der letzten 100 Jahre nichts gelernt hat. Auch in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat können sogenannte Staatsdiener Unrecht tun — wäre es nicht so, hätten die Verwaltungsgerichte bald nichts mehr zu tun. Presse und Fernsehen haben in den letzten Jahren wiederholt und ausführlich über polizeiliche Übergriffe berichten müssen. Kurras ist nur ein herausragendes, aber nicht das einzige Beispiel dafür. Wo Menschen Macht haben, da kann diese Macht auch mißbraucht werden. Soll der Bürger gegen unmittelbaren Machtmißbrauch tatsächlich rechtlos sein?

Leider wird auch die reformierte Fassung des § 113 StGB von der Rechtsprechung wohl dahingehend ausgelegt werden, daß es für die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung genügt, daß der betreffende Beamte seiner allgemeinen Funktion nach hierzu berechtigt ist, ohne Rücksicht darauf, ob die vorgenommene Maßnahme im konkreten Fall sachlich richtig oder falsch, inhaltlich also zulässig oder unzulässig ist. Der Bürger wird sich daher auch weiterhin einer auf falschen Voraussetzungen beruhenden Festnahme nicht widersetzen dürfen, sofern diese Festnahme von dem zuständigen Beamten vorgenommen worden ist. Der Gesetzgeber sollte versuchen, den Art. 113 StGB so zu formulieren, daß eine derart freiheitseinschränkende Auslegung nicht mehr möglich ist. Das gleiche gilt übrigens für den Tatbestand der „unerlaubten Ansammlung". Sachlich falsche Aufforderung zum Auseinandergehen sollte rechtens nicht befolgt werden müssen.

2. Der Angelpunkt des Demonstrationsrechtes ist der Gewaltbegriff. Grundgesetzlichen Schutz genießen nur friedliche Demonstrationshandlungen. Aber was ist Gewalt? Bundesgerichtshof: „Die Studenten, die sich auf den Gleiskörper der Straßenbahn setzten oder stellten, um damit den Straßenbahnverkehr zu blockieren, nötigten (dadurch) die Führer der Straßenbahn mit Gewalt, ihre Fahrzeuge anzuhalten. Dieser Bewertung steht nicht entgegen, daß die Studenten die Straßenbahn nicht durch unmittelbaren Einsatz körperlicher Kräfte aufhielten, sondern nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzten."

Passiver Sitzstreik also als Gewalt. Man fühlt sich an Orwell's&e Sprachrabulistik erinnert: Friede ist Krieg, Krieg ist Friede. Gandhi, der große Apostel der Gewaltlosigkeit, verdankt seinen Erfolg der Tatsache, daß seine gewaltlosen Handlungen „einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzten", an dessen Ende die Befreiung Indiens von der englischen Kolonialherrschaft stand. Man kann dieses Ergebnis begrüßen oder bedauern, man kann aber nicht leugnen, daß das eingesetzte Mittel die Gewaltlosigkeit war. Aus Gewaltlosigkeit wieder Gewalttätigkeit zu machen, das blieb der höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung vorbehalten.

Träfe die Rechts- und Sprachauffassung des BGH zu, dann bestünde unser Leben nur noch aus Gewalt. Die Werbung, was treibt sie anderes — mit steuerbegünstigten (!) Milliardenbeträgen — als eine Determination der Psyche der Konsumenten! Folgt man dem BGH, dann ist jeder Wahlkampf reine Gewaltanwendung und Axel Springer müßte schon wegen der BILD-Schlagzeilen als Rädelsführer bestraft werden. BILD durfte im August 1964 wegen der Telefongebührenerhöhung den Bundestag aus den Ferien holen — und die Gebühren wurden gesenkt. Hier wurde der frei gewählte deutsche Bundestag mittels gezielter Agitation zu einer partiellen Rücknahme einer Gebührenerhöhung „genötigt" — in Köln waren es nur die Verwaltungsinstanzen einer Stadt.

Gewiß, die studentischen Mittel sind unkonventionell. Sie sind für denjenigen, der sie benutzt, auch mit einem höheren Risiko verbunden. Aber die Masse der Staatsbürger kann sich kein Zeitungsimperium leisten, sie kann ihre Meinung nicht millionenfach verbreiten, Rundfunk und Fernsehen stehen ihr in der Regel nicht zur Verfügung. "Wollen sich „einfache" Staatsbürger dennoch Gehör verschaffen, dann müssen sie zu anderen, aufsehenerregenden Mitteln greifen. Und, wie der Bundespräsident betont hat, das Gemeinwesen profitiert davon, auf seine Mängel hingewiesen und zu Reformen gedrängt zu werden.

Solange die Mittel friedlich sind und in ihrer Intensität nur demonstrierenden Charakter haben — um Mißverständnisse zu vermeiden: Körperverletzung, Brandstiftung, aggressive Gewalttätigkeit sollten nach den allgemeinen Vorschriften nach wie vor bestraft werden — müßte ihre Personalisierung ausgeschlossen sein.

Auch hierfür hat der Gesetzgeber durch eindeutige Fassung der Tatbestände — auch des Nötigungstatbestandes — zu sorgen. Die Rechtsprechung wäre überfordert, aus eigener Kraft von alten Auslegungsprinzipien abzurücken. Es ist allerdings leider fraglich, ob der Bundestag die politische Kraft und den Mut hat, gegen die Volksmeinung (?) und gegen die Vorurteile in den eigenen Reihen auch auf dem Gebiet des strafrechtlichen Gemeinschaftsschutzes der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zum Siege zu verhelfen.

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