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Bürgerschaftliches Engagement - Gewerkschaften - Arbeitswelt / Josef Schmid - Bonn, [2002] - 25 S. = 78 KB, Text & Image files
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Seite der Druckausg.: 1]

Bürgerschaftliches Engagement - Gewerkschaften – Arbeitswelt

Josef Schmid
unter Mitarbeit von Stephanie Schönstein

Juni 2002

Im Lichte langer Wellen scheinen sich Gewerkschaften, Arbeitswelt und bürgerschaftliches Engagement nach einer Phase der Auseinanderentwicklung wieder anzunähern. Dabei haben sich die Rahmenbedingungen in diesem Zeitraum von über hundert Jahren erheblich gewandelt. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Gewerkschaften ist der moderne Sozialstaat flächendeckend ausgebaut worden. Über die Primäreinkommen hat sich die Lage der Arbeitnehmer erheblich verbessert, was jedoch den Charakter der Gewerkschaften als soziale Bewegung verändert hat.

Solidarität ist in diesem Prozess wohl vor allem eine Frage der staatlichen Sozialpolitik geworden, die bürgerschaftliches Engagement tendenziell unnötig gemacht hat. Allerdings ist der Sozialstaat inzwischen an seine Grenzen gelangt, wesentliche soziale, kulturelle und ökonomische Parameter haben sich verschoben, und es kommt zur Rückkehr des bürgerschaftlichen Engagements in die moderne Gesellschaft. Dabei müssen die Gewerkschaften sich positionieren; erste innovative Ansätze zeigen sich an den Schnittstellen zur Arbeitswelt etwa im Bereich der Qualifizierung. In der Sozial- und der Arbeitsmarktpolitik dominieren hingegen derzeit eher noch die Befürchtungen, dass mit dem bürgerschaftlichen Engagement ein Abbau des Sozialstaats kaschiert werden soll. Ob dies zutrifft oder ob sich hier ebenfalls neue Handlungsspielräume für Gewerkschaften ergeben können, wird die Zukunft zeigen. Dabei kommt jedoch neben ihrer unmittelbaren Position zum bürgerschaftlichen Engagement auch ihrer politisch-ökonomischen Funktion eine wichtige Rolle zu.

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1. Entwicklung der Fragestellung

Der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements dient als Bezeichnung für ein weites Feld an konkreten Aktivitäten und wissenschaftlichen Debatten. Zum Beispiel wird das Phänomen der Partizipation der Bürger am gesellschaftlichen und politischen Leben auch mit Begriffen wie Zivilgesellschaft, Dritter- oder Non-Profit-Sektor belegt.

In einigen Aspekten wird so die Brücke zu Vereinen und Verbänden gelegt, zu denen dann wiederum auch die Gewerkschaften gerechnet werden können. Im Unterschied zum bürgerschaftlichen Engagement finden gewerkschaftliche Aktivitäten allerdings vor allem in den Betrieben statt und der Umstand, dass es sich um Großorganisationen handelt, spielt eine wesentliche Rolle.

Insofern bilden bürgerschaftliches Engagement (im engeren Sinne) und Gewerkschaften zwei Pole eines breiten Kontinuums, ja gelegentlich ist auch von einem schwierigen Verhältnis die Rede. Dies hängt nicht zuletzt mit dem unterschiedlichen „Reifegrad„ der Organisation Gewerkschaften zusammen, beziehungsweise mit der Tatsache, dass sie seit über hundert Jahren die Belange ihrer Mitglieder in der Arbeitswelt und in der Politik vertreten. Dabei haben sie wichtige Erfolge erzielt, auf denen die wesentlich jüngeren bürgerschaftlichen Aktivitäten zwar aufbauen, teilweise aber eine eher kritische Distanz einnehmen und stärker unmittelbare Beteiligung einfordern. Um die Klärung dieser Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie der einschlägigen Diskurse geht es im folgenden Abschnitt.


1.1. Begriffsklärungen und diskursive Einordnung

1.1.1. Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement

Im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements existieren einerseits alte, traditionelle Formen des freiwilligen Engagements, das im Umfeld der Wohlfahrts- und Jugendverbände, Kirchen, Gewerkschaften und Vereine häufig als Ehrenamt bezeichnet wird. Ein Ehrenamt auszuüben bedeutet in diesem Kontext sich organisiert, unentgeltlich und regelmäßig zu engagieren, verbunden mit einer Zuordnung zu traditionellen, lokalen und wertgebundenen Milieus (Rauschenbach 1999b). Auch eine altruistische Motivation wird hiermit verbunden, bei welcher der Nutzen für die Allgemeinheit beziehungsweise für Dritte im Vordergrund steht.

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Andererseits gibt es das sogenannte „neue Ehrenamt„, das häufig mit einem „Engagement mit Adjektiven„ verbunden ist und begriffliche Konsequenzen aus dem Strukturwandel des Ehrenamts (vgl. Rauschenbach 1999a; Dörner/Vogt 2001) gezogen hat, wobei dieser Wandel vor allem an der zeitlichen Dimension des Engagements festgemacht wird: weg vom regelmäßigen, zeitintensiven, lebenslangen Ehrenamt hin zum projektorientierten, zeitlich begrenzten Engagement, das mit Selbstverwirklichungsaspekten ( in Abgrenzung zu altruistischen Motiven des alten Ehrenamts) verbunden wird. Engagement soll Spaß machen, die wichtigste Erwartung von Engagierten an ihre freiwillige Tätigkeit, wie der Freiwilligensurvey herausfand (1999:112, Bd.1).

Beim Begriff des bürgerschaftlichen Engagements handelt es sich zweifelsohne um ein Engagement mit Adjektiv, also um ein neues Engagement, doch beinhaltet bürgerschaftliches Engagement oftmals eine zivilgesellschaftliche Komponente, die bei entsprechender Verwendung dann ein ideologisches [Siehe Rauschenbach 1999a in einer Podiumsdiskussion. Er stellt einen „Wettbewerb um die Schlüsselbegriffe und die semantische Lufthoheit„ (S.4) fest. Er vertritt die These, dass mit unterschiedlichen Begriffen unterschiedliche Milieus und Wertegemeinschaften angesprochen werden (S.5).] Statement bedeutet. Es muss also getrennt werden zwischen bürgerschaftlichem Engagement als neuer Engagementform (quasi ein Adjektiv unter vielen, lediglich für die Kategorisierung alt oder neu verwendet) und bürgerschaftlichem Engagement mit ideologischer Besetzung (also mit zivilgesellschaftlicher oder partizipatorischer Bedeutung). Für den vorliegenden Kontext wird bürgerschaftliches Engagement allerdings als Oberbegriff für alle neuen Engagementformen beziehungsweise das Engagement mit Adjektiven verwendet.

Diese verschiedenen Begriffe bewegen sich in der Regel entlang der Dimensionen Staat und Gesellschaft beziehungsweise Beruf und Freizeit.

Abbildung 1: Dimensionen des bürgerschaftlichen Engagements

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Die Dimension Staat und Gesellschaft beinhaltet die Debatten um den Sozialstaat und die Zivilgesellschaft mit den entsprechenden Begrifflichkeiten wie zum Beispiel bürgerschaftliches Engagement, die Dimension zwischen Beruf und Freizeit zeigt die Debatte um die Arbeitsgesellschaft. Damit sind bereits die herrschenden Diskurse angesprochen, die im Folgenden ausgeführt werden sollen.

1.1.2 Diskurse und Kontexte

Vereinfacht kann man von drei großen Diskussionen ausgehen:

  • Beim zivilgesellschaftlichen Diskurs geht es um eine Abgabe von Verantwortung seitens des Staates (i.S. von Verwaltungsmodernisierung), aber auch um mehr Partizipation seitens der Bürgerinnen und Bürger (i.S. von mehr Demokratie).
  • Beim sozialstaatlichen Diskurs geht es um die staatliche Reformperspektive (Bewältigung der schlechten finanziellen Haushaltslage, vor allem im Gesundheitssektor) und darum, welche Leistungen Bürgerinnen und Bürger selbst übernehmen können beziehungsweise müssen.
  • Beim arbeitsgesellschaftlichen Diskurs stehen die Veränderungen der Arbeitswelt im Zentrum, ferner die Ansatzpunkte von Engagement sowie Auswirkungen auf Engagement in diesem Bereich.

Der zivilgesellschaftliche Diskurs

Dieser Diskurs unterteilt sich in zwei Stränge: In einen Strang, den man in Anlehnung an Zimmer (2000) als „verwaltungswissenschaftlichen Diskurs„ bezeichnen kann, geht es um die Modernisierung von Staat und Verwaltung. In der Folge entsteht daraus der zweite Strang, der eine stärkere Partizipation und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger ermöglicht; d.h. es handelt sich um einen demokratietheoretischen Diskurs. Beide Stränge zielen auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft ab, der erste durch eine staatlich eingeleitete Beteiligungsveränderung, der zweite durch die grundlegende Möglichkeit, Demokratie direkt zu erfahren.

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Im Unterschied zu früher ist heute bürgerschaftliches Engagement nicht mehr auf das Bürgertum begrenzt, sondern erfährt eine breite gesellschaftliche Verankerung, von der allerdings noch immer Randgruppen wie Arbeitslose oder Menschen mit niedrigem Bildungsniveau ausgeschlossen sind. Gerade aber die Einbeziehung dieser Randgruppen ermöglicht erst eine Stärkung der Demokratie durch die Teilhabe aller, was wiederum auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft hinausläuft.

In der deutschen Geschichte sind es zwei Traditionslinien, die zu einer Verwirklichung der Zivilgesellschaft beziehungsweise zu einer deutlichen Annäherung an die normativen Vorgaben geführt haben: Einerseits die kommunale Selbstverwaltung, andererseits die bürgerliche Vereinskultur (Sachße 2002). Beide Linien waren in der jüngeren Vergangenheit großen Veränderungen unterworfen (New Public Management und Neue Steuerungsmodelle sowie die Öffnung der Vereine gegenüber allen Schichten der Bevölkerung).

Das Beziehungsgefüge zwischen Zivilgesellschaft, Demokratie und Staatsmodernisierung wird durch mehr Mitbestimmung und Partizipation der Bürgerinnen und Bürger zusammengehalten. Dieses zu ermöglichen ist Aufgabe des Staates, der die dafür notwendigen Rahmenbedingungen schaffen muss. Gleichzeitig sind Bürgerinnen und Bürger angehalten, diese Veränderungen zu fordern und auf Defizite aufmerksam zu machen. Dieses Sich-Einbringen wiederum bedeutet eine Stärkung der Demokratie, da Bürgerinnen und Bürger so an Prozessen teilhaben können. An dieser Stelle wird das vielbeschworene „Fördern und Fordern„ (Schröder 2000) sichtbar, das in der Diskussion um den aktivierenden Staat, eine Rolle spielt, auf den diskursübergreifend immer wieder Bezug genommen wird. Dieser ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern Mitbestimmung und Mitsprache durch das Setzen entsprechender Rahmenbedingungen. Er gibt Kompetenzen und Aufgaben ab, die von den Bürgerinnen und Bürgern besser ausgeführt werden können, behält aber dennoch seine Kernaufgaben bei und zieht sich nicht gänzlich aus der Leistungsproduktion zurück. (Vgl. Blanke/Schridde 2001)

Der sozialstaatliche Diskurs

Die Debatte um den Sozialstaat konzentriert sich auf Strategien zur Modernisierung der sozialstaatlichen Sicherungssysteme, da diese zu kollabieren drohen und somit eine Reform des Sozialstaates unausweichlich scheint. Es werden in diesem Zusammenhang „wohlfahrtsrelevante Güter und Kostenvorteile, die durch unbezahlte (Laien-) Tätigkeiten in Privathaushalten und Drittem Sektor entstehen [...] quer durch das Parteienspektrum wiederentdeckt„ (Braun 2001a:86).

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Wie können vorhandenes freiwilliges Engagement und dessen Potenzial mit dem Bedarf an Fachkräften und den leeren Kassen im sozialstaatlichen Sicherungssystem miteinander in Einklang gebracht werden?

Schnell wird hier der Vorwurf einer „Alibiveranstaltung für einen reduzierten Sozialstaat„ (Beck 2000:19) laut, dem von staatlicher Seite aus widersprochen wird, oftmals mit Hinweis auf die Formel „Fördern und Fordern„. Der vorhandene staatliche Handlungskorridor ist entsprechend eng, da er einerseits von leeren Kassen begrenzt wird, andererseits von der gesellschaftlichen Erwartung, dass der Sozialstaat bestimmte Leistungen erbringen muss. Da diese Leistungen nicht auf dem Rücken der freiwillig Engagierten erbracht werden können, ist es folgerichtig, dass zu einem gesellschaftlichen (aber auch staatlichen!) Umdenken aufgefordert wird. „Staat und Verwaltung [...] sollen sich nun auf die Gewährleistungsfunktion beschränken, die Vollzugs- und Finanzierungsverantwortung (zumindest teilweise) an freie Träger oder Bürger abtreten [...]„ (Braun 2001:86). Damit eröffnet sich ein neues Feld für freiwilliges Engagement, in das sich auch die sich bisher zurückhaltenden Unternehmen mit einbringen können.

Es besteht hier die Möglichkeit, dass es im Zusammenwirken freiwilligen Engagements und bezahlter sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit gelingt, das wohlfahrtsstaatliche Arrangement so zu stärken, modifizieren oder zu verändern, dass sich ein neuer Strukturtyp herausbildet (Blanke/ Schridde 2001).

Der arbeitsgesellschaftliche Diskurs

Die Diskussion um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft wird schon seit etwa Mitte der siebziger Jahre geführt. Ausschlaggebendes Moment war die erste Ölkrise 1973, nach der es nicht mehr gelang, die Arbeitslosigkeit auf das zuvor herrschende Niveau abzusenken. Das Ideal der Vollbeschäftigung und der Normalerwerbstätigkeit im Sinne unbefristeter, sozialversicherungspflichtiger und tariflich gebundener Vollzeiterwerbstätigkeit konnte nicht mehr erreicht werden. Zugespitzt wurde die Diskussion durch die Frage, ob der Arbeitsgesellschaft die Erwerbstätigkeit ausgehe (Dahrendorf 1983; Offe 1984). Die Arbeitslosenquote blieb seit den Siebzigern auf einem insgesamt hohen Niveau, das nach der Wiedervereinigung weiter anstieg und sich inzwischen auf etwa 8 Prozent nach EU-Standard eingependelt hat. Vor diesem Hintergrund kam es ebenfalls schon Ende der siebziger Jahre zu einer Diskussion über Alternativen zur normalen Erwerbstätigkeit, die heute wieder an Fahrt gewonnen hat, allerdings eher unter dem Aspekt der Veränderung der Wahrnehmung und Bewertung von Erwerbstätig-

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keit und freiwilligem Engagement. Hier ist auch das Bemühen verschiedener Seiten einzuordnen, eine „Kultur der Anerkennung„ zu schaffen; es soll ein Umdenken in der Gesellschaft herbeigeführt werden, so dass freiwilliges Engagement als sozial hoch erwünscht wahrgenommen wird. Dies würde – der volle Erfolg vorausgesetzt – eventuell sogar zu einer Akzeptanz des Beck’schen Konzeptes der „Bürgerarbeit„ (1997, s.a. APUZ 9/1999) führen. Hier muss aber berücksichtigt werden, dass sich vorwiegend Menschen freiwillig engagieren, die über eine gesicherte Erwerbstätigkeit verfügen und Arbeitslose andere Probleme haben (Erlinghagen 1999), als sich freiwillig zu engagieren (vgl. etwa Stecker 1999).

Bezüglich Erwerbstätigkeit, Bildungsstatus und freiwilligem Engagement ergibt sich nach Analysen von Wagner u.a. (1999) folgendes Bild:

Abbildung 2: Engagement nach Bildung und Erwerbstätigkeit

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(Quelle: SOEP, Berechnungen des DIW (Wagner u.a. 1998) eigene Darstellung)

Damit zeigt sich auch in dieser Untersuchung, dass das Engagement mit zunehmender Bildung steigt und bei erwerbstätigen Personen deutlich ausgeprägter vorhanden ist als bei nicht erwerbstätigen Personen. So stellt Erlinghagen fest, dass mittel- und langfristige Arbeitslosigkeit die Wahrscheinlichkeit reduziert, ein Ehrenamt aufzunehmen und die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Ehrenamt abzugeben (Erlinghagen 1999:13). Arbeitslosigkeit hat eine hemmende Auswirkung auf ehrenamtliche Tätigkeit, besonders für Männer. Die Problemgruppe des Arbeitsmarktes, die geringqualifizierten Arbeitslosen, ist diejenige Gruppe von Personen, die sich am wenigsten engagiert und die die ungünstigsten Voraussetzungen hat, sich jemals zu engagieren. Hierbei handelt es sich auch um eine Gruppe von Menschen, die einen erhöhten Integrationsbedarf hat und diesen möglicherweise durch einen erleichterten Zugang zu freiwilligem Engagement stillen könnte.

Ausgehend von dem Mangel an Arbeitsplätzen wurde die (gewerkschaftliche) Forderung nach einer Umverteilung der Arbeit laut. Damit gehen Kürzungen der Wochenarbeitszeit ebenso

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einher wie die Vereinfachung der Implementation moderner Arbeitskonzepte wie Job-Sharing oder Telearbeit. Vor allem aber stellt sich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit angesichts von Millionen jährlich geleisteter Überstunden. Hier wird deutlich, dass der Arbeitsgesellschaft nicht die Arbeit ausgeht, sondern dass es an Arbeitsplätzen fehlt, auf die die Arbeit verteilt werden kann.

Im Bereich des Dritten Sektors wurden zwischen 1990 und 1995 im Vergleich zur Erwerbswirtschaft (-0,5 Prozent) und zum öffentlichen Sektor (-1,8 Prozent) die meisten Arbeitsplätze geschaffen (+13,8 Prozent) [John Hopkins Comparative Non Profit Sector Project, Teilstudie Deutschland zitiert aus Zimmer/ Priller 2001:132.].
In diesem Zusammenhang wird auch von einer zunehmenden Professionalisierung (Zimmer/ Priller 2001, s.a. APUZ 9/1999) gesprochen, die dazu führte, dass neben der Schaffung von Arbeitsplätzen gleichzeitig eine Finanzierung durch den Staat und damit eine Abhängigkeit von demselben entstand.

Allerdings mangelt es gerade im Gesundheitssektor sowohl an Geld als auch an qualifizierten Fachkräften, obwohl in diesem Bereich seit 1970 3,3 Mio. Arbeitsplätze geschaffen wurden, 75 Prozent davon für Frauen (Rauschenbach 1999a).

Innerhalb der Diskussion um freiwilliges Engagement wird implizit davon ausgegangen, dass jede und jeder bestimmte Tätigkeiten ehrenamtlich übernehmen könnte, gerade im Gesundheitsbereich, was der Forderung nach einer Umverteilung von (Erwerbs-) Tätigkeit konträr entgegenläuft, da sich insbesondere diejenigen freiwillig engagieren, die auch über eine Erwerbstätigkeit verfügen. Somit steht der Schaffung von dringend benötigten Arbeitsplätzen im Gesundheitsbereich sowohl aus Gründen der Ausschöpfung von Potenzial, als auch aus Gründen der demografischen Notwendigkeit vor allem ein finanzielles Hindernis im Weg, das durch den tautologischen Schluss [Tautologisch, weil es vor allem die Erwerbstätigen sind, die sich engagieren. Die Überlegung, arbeitslose Frauen stärker einzubeziehen statt für sie Arbeitsplätze zu schaffen, wird nicht funktionieren.] umgangen werden soll, dass freiwillig Engagierte – zum Beispiel Frauen – diese Aufgaben (Notz 1999) übernehmen könnten.


1.2. Bürgerschaftliches Engagement, Gewerkschaften, Interessenvertretung,
Arbeitswelt: Politische Spannungen und Forschungslücken

Bürgerschaftliches Engagement zielt nach dem Mainstream der Debatten vorwiegend auf Sozialpolitik und Freizeit, das heißt auf Handlungsfelder jenseits der Arbeitswelt. Der Bezug zur Arbeitswelt vollzieht sich – falls er gesucht wird – auf individueller Ebene, das heißt als Ressource oder Restriktion für bürgerschaftliches Engagement. Die

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Ebene der Organisation und kollektiven Interessenvertretung beziehungsweise der Gewerkschaften wird dabei nicht erreicht, gelegentlich kommt es zu politischen Spannungen zwischen beiden.

Aus der Perspektive der Gewerkschaften, deren historische Entwicklung und politisch-ökonomische Funktion im nächsten Kapitel noch näher behandelt wird, stellt sich schon der Terminus „bürgerschaftliches Engagement„ als ein historisch belasteter Begriff dar. Der Bürger – als Citoyen wie als Bourgeois – ist Vertreter einer anderen Klasse mit anderen ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalien ausgestattet und auf andere politische Interessen ausgerichtet (vgl. Kocka 2002). Zwar universalisiert sich das bürgerschaftliche Engagement im Laufe der Zeit, doch bleiben Ressentiments bestehen.

Positiver verläuft die Anbindung an die Entwicklung der bürgerlichen Rechte - die politischen wie die sozialen – aus denen die Gewerkschaften zum Teil die Legitimation für sozialpolitische Forderungen ableiten und auf denen auch die Idee der Mitbestimmung, das heißt die Demokratisierung der Wirtschaft, gründet. Dies verläuft jedoch in hoch institutionalisierten – und damit zwangsläufig auch in verrechtlichten und gelegentlich in bürokratischen – Bahnen, die wiederum gewisse Entfremdungseffekte hervorrufen und zur Forderung nach ergänzenden spontanen, individuellen Handlungsmöglichkeiten führen. Grundlegend bleibt jedoch für das gewerkschaftliche Selbstverständnis und ihre Funktion die Orientierung auf „Gegenmacht„, auf die kollektive Organisation und Vertretung von Interessen gegenüber den Unternehmern, aber auch dem Staat.

Etwas vereinfacht lässt sich diese Differenz auf die Überlegung bringen, dass Gewerkschaften sowohl solidarische wie kämpferische beziehungsweise konfliktorientierte Organisationen darstellen und vorwiegend für solche Handlungsformen Platz bieten, während bürgerschaftliches Engagement primär durch Kooperation geprägt ist. Zugespitzt geht es um machen versus Macht – wobei freilich zwischen beiden enge Wechselbeziehungen bestehen, denn ohne individuelles Engagement werden auch große Organisation zu tönernen Riesen und verlieren ihre Macht wie auch umgekehrt bürgerschaftliches Engagement gewisse organisatorische, machtpolitische Stabilisierungselemente benötigt.

Allerdings wäre es übertrieben, in den Beziehungen zwischen Gewerkschaften und bürgerschaftlichem Engagement nur Probleme zu sehen. Viele lokale und kulturelle Aktivitäten der Gewerkschaften weisen enge Bezüge und Überschneidungen zum bürgerschaftlichen Engagement auf, ja selbst der „Tag der Arbeit„ beziehungsweise die Maifeiern haben inzwischen eine Form angenommen, die nicht mehr nur die klassische Interessenvertretungsfunktion der Gewerkschaften ausdrückt (am Beispiel der Ortskartelle des DBG vgl. Negt u.a. 1989). Vor

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allem aber sind es die Mitglieder in den Gewerkschaften, die selbst im Kontext der Arbeitswelt ehrenamtlich aktiv sind. Darüber hinaus sind sie gegebenenfalls auch außerhalb der Arbeitswelt in verschiedenen Engagementbereichen tätig.

Abbildung 3 : Bürgerschaftliches Engagement, Organisation und politische Macht

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Dennoch kommt es zu einer erneuten Problematisierung der Beziehungen zwischen bürgerschaftlichem Engagement, Arbeitswelt und Gewerkschaften. Angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit werden neue Lösungen jenseits der makroökonomischen Steuerung, der aktiven Arbeitsmarktpolitik oder der sozialpolitischen Kompensation diskutiert. Wie schon in der Darstellung des arbeitsgesellschaftlichen Diskurses beschrieben (s.o.), zielen solche Vorschläge – wie sie vor allem von der Zukunftskommission der Freistaaten Sachsen und Bayern formuliert worden sind – auf den Ersatz für Arbeit, was von Gewerkschaften (und SPD) kritisiert wird (vgl. dazu die Papiere der Berliner Senatsverwaltung 1998, Stecker 1999). Freilich zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass auch seitens der Gewerkschaften und sozialdemokratischer Landesregierungen neue Verflechtungen und Überschneidungen zwischen Arbeitswelt und bürgerschaftlichem Engagement gesucht werden, deren Ziel jedoch nicht der Weg aus, sondern der Weg in die Arbeit ist. Auf diesen Aspekt kommen wir im folgenden Abschnitt zurück.

In ähnlicher Weise gestaltet sich die Ausweitung bürgerschaftlichen Engagements im Bereich der Sozialen Dienste und der Sozialpolitik als Konfliktzone. Aus der Sicht der Gewerkschaften werden dadurch wichtige soziale Errungenschaften infrage gestellt und der Abbau des Sozialstaats vorangetrieben. Dabei sind vor allem die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes unmittelbar tangiert.

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2. Das Engagement der Gewerkschaften in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt – Entwicklungslinien und Leistungen des deutschen Modells

Engagement und solidarisches Handeln sind nicht nur gegenwärtig wichtige soziale und politische Momente. Sie finden sich vor allem bei der Arbeiterbewegung auch im historisch-politischen Prozess und auf der gesellschaftlichen Makroebene. Zugleich drücken sich bei Gewerkschaften einige Besonderheiten der Struktur, Funktion und Selbstwahrnehmung aus, die sie von vielen anderen Organisationen des Dritten Sektors abheben. Dies gilt besonders für die politisch-ökonomische Funktion auf der gesamtgesellschaftlichen und sektorenübergreifenden Ebene, die zwar nicht immer unmittelbar, aber als Rahmenbedingung für bürgerschaftliches Engagement von hoher Bedeutung ist. Allerdings führt der soziale, politische und ökonomische Wandel auch hier zu einschneidenden Veränderungen, die politisch-strategische Neuorientierungen und Öffnungen erforderlich machen und die erhebliche Chancen einer Annäherung von klassischen gewerkschaftlichen Aktivitäten an die vielfältigen Formen bürgerschaftlichen Engagements eröffnen.


2.1.Die historische Dimension: Soziale Bewegung als Gegen- und Gestaltungsmacht

Mit der Entwicklung der Arbeitsgesellschaft beziehungsweise des modernen Kapitalismus erfolgt eine Organisation der Arbeiterschaft in den unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, die sich zu einem Milieu verdichten, das „von der Wiege bis zur Bahre„ reicht. Organisationsformen, in denen sich dieses Engagement Ausdruck verleiht, sind neben den Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei ein buntes Spektrum an Genossenschaften, Bildungs- und Sportvereinen, Hilfskassen gegen die Risiken industrieller Arbeit etc. Es geht dabei nicht alleine um praktizierte Solidarität in relativ kleinen überschaubaren lokalen und betrieblichen Lebensräumen, sondern zugleich um die Solidarität in einer Klasse als einer makrosozialen und politisch-ökonomischen Kategorie. In Anlehnung an die Terminologie von Marshall handelt es sich dabei um die langwierige und mit schweren Kämpfen verbundene Durchsetzung politischer und sozialer Bürgerrechte, welche die Etablierung von Bürgerrechten im Betrieb einschließen, und die vielfach erst die freie Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements in allen Lebensbereichen ermöglicht hat. Die Demokratie, der moderne Sozialstaat und das System der Industriellen Beziehungen beziehungsweise das sogenannte Modell Deutschland sind nicht zuletzt hieraus hervorgegangen und bilden

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mittlerweile einen neuen – günstigeren – Handlungskontext, der jedoch wiederum zunehmend gravierenden – eher ins Negative tendierenden – Veränderungen unterworden ist.

Am Beispiel der Sozialpolitik lässt sich diese „Erfolgsgeschichte„ illustrieren. Neben dem Auf- und Ausbau des Sozialen Sicherungssystems, das inzwischen annähernd die gesamte Bevölkerung erfasst, haben die Gewerkschaften nach dem 2. Weltkrieg eine Reihe wichtiger Errungenschaften durchgesetzt: das erste Weihnachtsgeld im öffentlichen Dienst (1954), die erste Fünf-Tage-Woche im Steinkohlebergbau (1959), die ersten vermögenswirksamen Leistungen im Baugewerbe (1965), der Anspruch auf 30 Tage Jahresurlaub in der Stahlindustrie (1978/79) oder die erste Realisierung der 35-Stundenwoche in der Druck- und Metallindustrie (1995). Vieles von dem erscheint heute als so selbstverständlich beziehungsweise tarifvertraglich oder gesetzlich so klar geregelt, dass dafür kein Engagement mehr aufzubringen ist oder Kämpfe geführt werden müssten.

Dieser Weg in die Arbeitsgesellschaft sowie die gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen bilden damit zwei Kehrseiten einer Medaille beziehungsweise gehören zu dem deutschen Entwicklungspfad, der sich von denjenigen in Skandinavien und den angelsächsischen Ländern abhebt. Aus den Besonderheiten in den historischen Entwicklungen und Erfahrungen und in den jeweils unterschiedlichen Ausprägungen der politischen und sozialstaatlichen Institutionen ergeben sich spezifische Konfigurationen für bürgerschaftliches Engagement im Allgemeinen und die Gewerkschaften beziehungsweise den Bereich der Arbeitswelt im Besonderen. Das setzt im übrigen der Übertragung ausländischer Modelle und Erkenntnisse auf den deutschen Fall und auf diesem Feld gewisse Grenzen.


2.2. Strukturbesonderheiten von Gewerkschaften als gesamtgesellschaftliche Groß- und Kampforganisationen

Gewerkschaften verfügen über einige Strukturbesonderheiten, die teilweise historisch bedingt sind und sich teilweise aus ihrer Funktion ergeben. Sie sind in ihrem aktuellen Selbstverständnis und nicht zuletzt aus der Erfahrung der Verfolgung durch den (vor- und undemokratischen) Staat in ihrer Frühphase, aber auch im Nationalsozialismus, vor allem Groß- und Kampforganisationen.

Kampforganisationen – so ein Ausdruck Max Webers – stehen nicht nur in einem Verhältnis des intensiven Wettbewerbs, wie es bei anderen politischen Organisationen (wie Parteien und

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Verbänden) der Fall ist. Bei ihnen steigert sich dieses, da sie zugleich mit dem Problem der Verteilung von materiellen Ressourcen und primären Einkommen befasst sind. Und hier gilt: Wer haben will, muss nehmen beziehungsweise - in der neutraleren Formulierung der Politikwissenschaft – es handelt sich um redistributive Konflikte.

Damit verbunden sind zwei weitere Momente, die die Gewerkschaften (und ihre Mitglieder) in ihrer Interpretation von Engagement geprägt haben: Die Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit als basale gesellschaftliche Konfliktlinie sowie die Definition von Solidarität und engagiertem Handeln in Kategorien der Klasse (und weniger des Individuums).

Solche Vorstellungen sind im Zuge der demokratischen und sozialstaatlichen Entwicklung zurückgetreten und haben Formen der Kooperation, des Dialogs und der institutionalisierten Konfliktregulation Platz gemacht.

In den Sozialwissenschaften spricht man dabei von Neokorporatismus oder von Sozialpartnerschaft. Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten ist ferner hervorzuheben, dass neben dem Dritten auch der Erste und der Zweite Sektor ihr Handlungsfeld darstellen. Sie wollen unmittelbar staatliche Politik beeinflussen und sind auf vielfache Weise in diese involviert, etwa über eine Fülle von Beiräten oder die Bündnisse für Arbeit. Zudem sind sie zentrale Akteure im System der Industriellen Beziehungen und prägen auf diese Weise die Konditionen der Erwerbsarbeit. Sie bauen geradezu eine strukturelle Koppelung zwischen Politik und Ökonomie beziehungsweise zwischen den Sektoren auf.

Aus der kollektiven Selbstwahrnehmung heraus ergibt sich schließlich eine spezifische politische Definition des Terrains bürgerschaftlichen Engagements: Es schließt Nichtarbeit – oder lockerer formuliert: Ehrenamt statt Arbeitsamt – als strategische Option ebenso aus wie eine Deregulierung im Bereich der Betriebsverfassung zugunsten der Partizipation einzelner Arbeitnehmer. Insofern sind und bleiben Gewerkschaften in erster Linie Institutionen der Erwerbsarbeit und bürgerliches Engagement ressortiert eher in ihrer Peripherie beziehungsweise als individuelle Ergänzung der Politik der Organisation. Damit ist bürgerschaftliches Engagement eine Ergänzung der klassischen Funktionen der Gewerkschaften und findet auf der Basis von Erwerbsarbeit statt. Allerdings verfügen die Gewerkschaften vor allem auf lokaler Ebene durchaus noch über Elemente, die dem Dritten Sektor und dem bürgerschaftlichen Engagement zuzurechnen sind (am Beispiel der Ortskartelle des DBG vgl. Negt u.a. 1989).

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2.3. Gewerkschaften im Modell Deutschland und dem rheinischen Kapitalismus

Das sogenannte Modell Deutschland beziehungsweise das rheinische Modell des Kapitalismus hat in der Nachkriegszeit eine Phase der Prosperität hervorgebracht, die für individuelle Wohlfahrt und für den Ausbau des Sozialstaats gesorgt hat. Basis dafür ist ein institutionelles Gefüge, in denen die Gewerkschaften einen wesentlichen Platz einnehmen. Durch ihre produktivitätsorientierte und flächendeckend angelegte Tarifpolitik entsteht eine Kombination aus hohem Lohnniveau, relativ geringer Lohnspreizung beziehungsweise wirtschaftlicher Gleichheit (bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern) und dennoch hoher Wettbewerbsfähigkeit. Als Organisation sind sie dabei – bis zu einem gewissen Maß notwendigerweise – zentralisiert und auf einen hohen Organisationsgrad ausgerichtet.

Sie erfassen in den siebziger und achtziger Jahren rund 80 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter – freilich nur die Hälfte der Angestellten –, und die tarifvertragliche Deckungsrate liegt bei 90 Prozent (vgl. Streeck 1999). Ihnen wird daher das Attribut der „Repräsentativität„ (Müller-Jentsch 1995) zugeschrieben, wonach sie nicht bloße „pressure group„ ihrer Mitglieder sind, sondern für die gesamte Arbeitnehmerschaft. In ähnlicher Weise verfügen die Betriebsräte über ein institutionelles Mandat, das über die unmittelbare Rückkoppelung an die Belegschaftsinteressen hinausverweist. Dies fügt sich in das Bild der oben genannten Strukturbesonderheiten von Gewerkschaften.

In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird dies auch als Spannung zwischen dem Mitgliedschaftsinteresse einerseits und der politischen Einflusslogik andererseits beschrieben, wobei sich aus letzterer eine Orientierung der Organisation an gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten ergibt. Die Arbeitsbeziehungen mutieren so zu „high-trust relations„ im Dreieck zwischen Arbeit, Kapital und Staat; kooperatives Verhalten aller Akteure erzeugt ein Positivsummenspiel wie es in Konzertierten Aktionen oder Bündnissen für Arbeit zum Ausdruck kommt. Gewerkschaften übernehmen so eine Rolle des Co-Managements in der Volkswirtschaft und im Betrieb. Relativ hohe Löhne, die über Flächentarife wirksam werden, sind aus dieser Sicht nicht nur Kostenfaktor, sondern ebenfalls nachfragewirksam – und noch wichtiger: sie sind eine „Produktivitätspeitsche„. Denn nur Betriebe, deren Produktivität ausreichend ist, können in diesem Modell existieren und gerade starke Gewerkschaften verhindern eine „Flucht nach unten„ in den Bereich schlecht bezahlter Arbeit und minderwertiger Produkte. Dabei existieren innerhalb der deutschen Gewerkschaften durchaus gewisse

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Unterschiede in Ideologie und Praxis, doch gelten diese Merkmale als insgesamt konstitutiv und produktiv für das Modell Deutschland.

Einige Daten zum Außenhandel und der Lohnentwicklung (in Relation zu den USA = 100) belegen die Leistungsfähigkeit dieses politisch-ökonomischen Arrangements.

Tabelle 4: Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im Vergleich (aus Streeck, 1999)


Handelsgüter und Dienstleistungen in % BIP

Handelsbilanz (Leistungs-

bilanz) in % BIP

Stundenlohn d. Arbeitnehmer


1988

1994

1988

1994

1992

Deutschland

54,9

51,0

6,5 (4,0)

2,7 (-1,1)

160

Großbritannien

48,7

50,8

-4,5 (-3,1)

-2,1 (-1,8)

91

Japan

18,0

16,7

3,3 (2,8)

3,4 (3,1)

100

USA

19,6

21,8

-2,6 (-2,6)

-2,5 (-2,3)

100

Zwei weitere Punkte gehören ebenfalls in diesen Kontext: erstens die im internationalen Vergleich relativ stabile und lange Betriebszugehörigkeit und zweitens die starke Betonung von Facharbeit beziehungsweise Qualifikation, was auch arbeitskulturelle Aspekte der Bildung und Reproduktion von sozialem Kapital mit einschließt. Aus diesen beiden Punkten ergibt sich ein Interesse beziehungsweise eine Beteiligung der Gewerkschaften an der Regulierung der Arbeitsmarktpolitik sowie der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Dies scheint zugleich auch funktional, um eine Strategie der hohen Qualität der Produkte (samt deren hohe Preise) zu realisieren. Umgekehrt resultiert hieraus auch eine Tendenz zur Immobilität und Rigidität (Streeck 1999).


2.4. Neue Konstellationen und Herausforderungen:
Sozialer, politischer und ökonomischer Wandel

Das skizzierte Modell Deutschland hat freilich inzwischen seinen Zenit überschritten und ist unter erheblichen Druck geraten, so dass Skeptiker schon das Ende des historischen Entwicklungspfades sehen. Folgende Problemkomplexe sind dabei besonders relevant: die anhaltende Arbeitslosigkeit, die deutsche Einheit und Europäisierung sowie die Globalisierung und Informatisierung beziehungsweise der Weg in eine New Economy. Die hieraus resultierenden Folgen lassen sich – ohne auf Details einzugehen – zuspitzen als Kostendruck, Legitimations- und Souveränitätsverluste. Vor allem die Arbeitslosigkeit und die Wiedervereinigung haben immense Kosten für den Staat und die sozialen Sicherungssysteme erzeugt, darüber hinaus schränken sie politische Reformspielräume erheblich ein beziehungsweise setzen Reformen in Richtung eines Wohlfahrtspluralismus und einer Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements dem Verdacht des Sozialabbaus aus.

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Darüber hinaus bedrohen diese Herausforderungen die Legitimationswirkung einer sozialstaatlich und korporatistisch regulierten Ökonomie. Im Modell Deutschland erodiert daher nicht nur die ökonomische, sondern auch die sozialmoralische Basis.

Zugleich reduziert sich die steuernde Wirkung von institutionellen Arrangements, wenn etwa Syndrome der Tarifflucht, Mitgliederverluste beider Tarifparteien und eine Kritik wegen mangelnder Flexibilität und Differenzierung auftreten. Verstärkend kommt hinzu, dass sich mit der zunehmenden Europäisierung und der Globalisierung die ökonomischen Handlungsräume zunehmend aus den Grenzen des Nationalstaates hinaus entwickeln. Staatliche wie verbandliche Steuerung stoßen auf Grenzen, die Politik scheint der „Gier des Marktes„ zum Opfer zu fallen, was sich auch auf die Motivations- und Legitimationskraft der Gewerkschaften auswirkt.

Die – sicherlich verkürzte – Frage ist, ob sich ein Turbokapitalismus einstellt oder ob die Suche nach intelligenteren Regulationsformen erfolgreich sein wird. Wesentlich für die Beantwortung dieser Frage ist es, ob die Gewerkschaften – und natürlich ebenfalls die Arbeitgeber- beziehungsweise Unternehmerverbände – auf die Herausforderungen mit adäquaten strategischen und organisationspolitischen Antworten reagieren.

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3. Bürgerschaftliches Engagement in Gewerkschaften
Organisation, Mitglieder und Politik


Gewerkschaften spielen nicht nur als Element eines Produktivitätsarrangements auf der Makroebene eine wichtige Rolle, indem sie dazu beitragen, dass Ressourcen wie Geld und Zeit in einer Gesellschaft zur Verfügung stehen und ein gewisser Ausgleich – via Lohnpolitik und staatliche Sozialpolitik – stattfindet. Sie haben zugleich als Organisationen Mitglieder, die entsprechende Leistungen und Partizipationselemente einfordern und gegebenenfalls bei Unzufriedenheit austreten. Gerade bei zunehmender Attraktivität alternativer Angebote – von den Medien über Freizeitangebote bis eben auch zum bürgerschaftlichen Engagement – wird dies zu einer gravierenden Herausforderung – zumal von einem „Aussterben des Stammkunden„ auszugehen ist. Allerdings treten auch neue Chancen und Kooperationsmöglichkeiten auf, die nicht zuletzt auf dem weitreichenden Wandel der Arbeitswelt basieren.

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3.1. Erfolge und Probleme einer freiwilligen Mitgliederorganisation

Gewerkschaften sind nicht nur repräsentative Institutionen, die in die Funktionsmechanismen von Politik und Ökonomie eingebunden sind, sondern zuerst einmal demokratische Mitgliederorganisationen. Als solche sind sie angesichts divergenter Bezüge und Handlungslogiken vor erhebliche interne Probleme gestellt, die durch die Größe der Organisation noch verstärkt werden (Wiesenthal 1993).

Immerhin verfügt etwa der DGB als Dachverband über mehr als 8 Mio. Mitglieder. Dieses beachtliche Faktum bedarf jedoch einiger Relativierungen: Im internationalen Vergleich liegen diese Werte eher im unteren Mittelfeld; ferner sind die Mitgliederzahlen rückläufig – vor allem in Ostdeutschland brechen die Unterstützungspotenziale weg. Weniger offensichtlich, aber gleichwohl bedeutsam ist die Tatsache, dass schätzungsweise ein Viertel der Mitglieder nicht im Erwerbsleben aktiv ist, also Rentnerinnen und Rentner, Studentinnen und Studenten, Arbeitslose etc. umfassen.

Einerseits liegt hier eine Schwächung der tarif- und arbeitspolitischen Kampfkraft vor, andererseits aber auch das sozialstrukturelle Element für eine Überwindung der nur arbeitsgesellschaftlich ausgerichteten Perspektiven. Die Bürgergesellschaft findet so zunehmend wieder ihren Weg in die Gewerkschaften – und umgekehrt.

Beispielhafte Projekte dazu existieren in vielerlei Bereichen: der Arbeit mit Arbeitslosen, im Kulturbereich, der Prävention im Gesundheitswesen auf der betrieblichen Ebene, aber auch den Bemühungen, durch neue Arbeitszeitformen oder der Einrichtung von Betriebskindergärten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern.

Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die anhaltende Auseinanderentwicklung der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft und der Strukturen der (modernen) Arbeitswelten. Probleme der Organisations- und Engagementbereitschaft bei Gewerkschaften treten besonders in den Bereichen der New Economy auf, im neuen Dienstleistungsmilieu und den Grauzonen zwischen Selbständigkeit und Lohnarbeit. Vielfach erscheinen hier Gewerkschaften als Dinosaurier des Industriezeitalters, die wenig Attraktivität ausstrahlen und kaum Anreize für Aktivität und Engagement geben. Dabei ist der Wunsch nach Partizipation gerade in diesen Gruppen sehr hoch, aber ebenfalls die Diskrepanz zwischen den Angeboten der Organisation und der Nachfrage beziehungsweise Motivationslage der Individuen, die

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nach Sinn, Selbstverwirklichung, persönlichem Bezug und Eigenverantwortung und weniger nach Pflicht oder mechanischer Solidarität fragen.

Gelegentlich treten dabei sogar Konkurrenzbeziehungen zwischen neuen Partizipationsformen, die im Rahmen neuer Produktionskonzepte (mit ihren flachen Hierarchien, Gruppenarbeit etc.) von den Unternehmensleitungen etabliert werden, und den institutionalisierten Formen der Mitbestimmung auf. Und gerade die Betriebsräte werden angesichts dieser Entwicklungen verstärkt mit unterschiedlichen Interessenlagen von Belegschaftssegmenten konfrontiert, was diesen erhebliche Moderationsleistungen abverlangt, aber auch neue Kooperationsformen und Austauschprozesse zwischen Hoch- und Unqualifizierten, zwischen relativ autonomen Arbeitsgruppen, Betriebsräten und Gewerkschaften oder zwischen Geld, Zeit und Qualifizierung erfordert.


3.2. Reformpotenziale und Aufbrüche:
Neue organisations-, gesellschafts- und arbeitspolitische Ansätze in den Gewerkschaften in Richtung bürgerschaftliches Engagement

Solche weitreichenden Veränderungen gehen auch an den Gewerkschaften nicht spurlos vorbei; entsprechend können seit einigen Jahren neue Ansätze identifiziert werden. So finden in fast allen Gewerkschaften Debatten und Projekte zur Modernisierung der eigenen Organisation statt; hierdurch sollen die neu entstandenen Milieus der New Economy angebunden, neue Partizipationsangebote etwa via Internet angeboten und angemessene Dienstleistungen erbracht werden. Nicht zuletzt tangieren diese Bemühungen auch die Arbeitsbedingungen der Hauptamtlichen in den Gewerkschaften. Allerdings sind viele dieser Aktivitäten in den Anfängen stecken geblieben oder gar Rationalisierungs- und Machtinteressen geopfert worden (exemplarisch Alemann/Schmid 1998).

Aber auch auf der Ebene der gesellschaftspolitischen Programmatik ist Bewegung zu verzeichnen. So führt zum Beispiel die IG Metall eine umfangreiche Zukunftsdebatte durch, deren Schlüsselbegriff Beteiligung ist und der über eine groß angelegte Befragung in den Betrieben, Zukunftswerkstätten, Diskussionen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern etc. umgesetzt wird. Dieser Diskurs soll zugleich eine Art Inventur über Ziele, Strategien und Instrumente darstellen und die Organisation fit für das 21. Jahrhundert machen. Fit sollte dabei nicht nur die lockere Formel für Leistungsfähigkeit beinhalten, sondern im Sinne der Organisationsforschung die angemessene Wahrnehmung und Verarbeitung von neuen Umweltbedingungen bedeuten (goodness of fit).

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Einer der Aspekte, der im doppelten – also organisationalen wie gesellschaftlichen – Zusammenhang von Gewerkschaften und bürgerschaftlichem Engagement eine große Rolle spielt, ist der Komplex Qualifikation einschließlich sinnverwandter Konzepte wie Beschäftigungsfähigkeit (Employability) und Lebenslanges Lernen. Starke Impulse gehen hierbei auch von der Europäischen Union und anderen westeuropäischen Ländern aus. Dabei soll Qualifikation nicht nur die notwendige Humankapitalbasis für eine wettbewerbsfähige Qualitätsproduktion abgeben, vielmehr soll durch den Aufbau neuer Fähigkeiten des Selbstmanagements und breiter Fähigkeiten eine neue Form der wirtschaftlichen Sicherheit mit den Erfordernissen einer flexiblen Ökonomie in Deckung gebracht werden. Dadurch soll der (Wieder-) Einstieg ins moderne Erwerbsleben und damit ein Element sozialer Integration besser ermöglicht werden als durch die konventionellen Formen der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Zugleich werden Fähigkeiten und Fertigkeiten gefordert beziehungsweise vermittelt, die für berufliche Arbeit wie für bürgerschaftliches Engagement gleichermaßen wichtig sind. Zum Beispiel kann die Fähigkeit, Informationen im Internet zu suchen und zu verarbeiten, sowohl in beruflichen Handlungskontexten als auch im Rahmen bürgerschaftlichen Engagements hilfreich sein.

Die Rolle der Gewerkschaften geht dabei über die Artikulation politischer Forderungen hinaus, ihre Aktivitäten – und das macht ihre besondere Stellung im Dritten Sektor aus – beziehen sich ebenfalls auf die tarifvertragliche Regelung diese Phänomens. Fragen des Umfangs und der Art von Maßnahmen, der Selektion in den Betrieben und der finanziellen Kompensation sind an dieser Stelle zu nennen. Der Versuch, möglichst viele Arbeitnehmer und vor allem Arbeitnehmerinnen in breite Qualifizierungen zu bringen, beinhaltet ebenso solidarische und sozialintegrative Momente wie er soziales Kapital bildet und die Voraussetzungen für Engagement in Gewerkschaften, in der Arbeitswelt und andernorts befördert (als Überblick Bahnmüller u.a. 2001, APUZ 9/1999, CDEFOP 2002).

Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Arbeitszeit. Auch soll zum einen ein solidarischer Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleistet und andererseits der Umfang an Freizeit vergrößert werden, was die Möglichkeiten zum bürgerschaftlichen Engagements erhöht, obwohl es – folgt man den Umfragedaten - nicht die fehlende Zeit per se ist, die als Engagementhemmnis zu sehen ist, sondern der fehlende Arbeitsplatz. Dennoch wird durch eine verkürzte Arbeitszeit eine strukturelle Bedingung für mehr Engagement geschaffen. Freistellung nicht nur für Betriebsräte, sondern auch für weitere Belegschaftsmitglieder und auch für außerbetriebliche ehrenamtliche Aktivitäten bedürfen dabei einer stärkeren Berücksichtung. Dies kann wie im unten aufgeführten Beispiel der Ford AG geschehen. Es sollten

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aber auch andere Modelle weiterentwickelt werden, zum Beispiel der Corporate Citizenship Gedanke.

Grundsätzlich sind jedoch zwei unterschiedliche Zielgruppen zu berücksichtigen, nämlich die Erwerbstätigen, die mit Unterstützung von Gewerkschaften und Unternehmen an ein freiwilliges Engagement herangeführt werden sollen, und die Arbeitslosen, die aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit und dem damit verbundenen verzerrten Selbstbild nicht zu einem freiwilligen Engagement finden. Deutlich wird bei der letzten Gruppe, dass es ihr an einer Lobby fehlt, was eben auch im Bereich des freiwilligen Engagements seinen Niederschlag findet. Dass die Devise „Ehrenamt statt Arbeitsamt„ keine Lösung ist, wurde bereits in verschiedenen Untersuchungen (Freiwilligensurvey 1999; Erlinghagen 1999) festgestellt.

Qualifikation und Arbeitszeit sind zwei konkrete Beispiele für eine allgemeinere Strategie der Reintegration von Betrieb und Gesellschaft. Weitere Beispiele in dieser Richtung sind Maßnahmen zur Verbesserung von Berufsleben und Familie oder die aktive Beteiligung von Gewerkschaften an lokalen Beschäftigungspakten und regionalen Entwicklungsmodellen. Schließlich tun Gewerkschaften auch gut daran, das Thema Corporate Citizenship nicht nur als Mäzenatentum des Managements zu begreifen, sondern sich hier ebenfalls gestaltend und aktivierend einzubringen.

Neben einer notwendigen Kooperationsbereitschaft der Arbeitgeber kann und muss staatliche Politik Unterstützung leisten auf dem Weg, zum einen die Gewerkschaften von einer befestigten – so ein Terminus der sozialwissenschaftlichen Forschung – zu einer engagierten, modernen und lernenden Organisation weiterzuentwickeln, und zum anderen die Handlungs- und Engagementpotenziale von Arbeitnehmern und Bürgern zu erhöhen und produktiv zu nutzen. Bürgerschaftliches Engagement ist damit nicht nur Kostenfaktor (bei den Ressourcen Zeit und Geld), sondern zugleich eine sozioökonomische Produktivkraft, die dem erlahmenden Modell Deutschland einen Vitalisierungsschub zuführen kann. Insofern spricht vieles dafür, dass sich die Distanz zwischen den Gewerkschaften und der Arbeitswelt einerseits und dem bürgerschaftlichen Engagement andererseits erheblich verringern wird.

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4. (Wieder-) Annäherungen von bürgerschaftlichem Engagement und Arbeitswelt

Exemplarisch für die Wiederannäherung von bürgerschaftlichem Engagement und Arbeitswelt bzw. Gewerkschaften sind die Themen Arbeitszeit und Qualifikation, wobei beide eng

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miteinander zusammenhängen. Und sie deuten auf ein neues Verhältnis zum bürgerschaftlichen Engagement: Dieses fungiert als soziales Kapital nicht nur in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch in Bezug auf die Produktivität einer Wirtschaft. Soziale Kompetenzen, überfachliche Qualifikationen werden im Rahmen von Strategien des Lebenslangen Lernens und der Beschäftigungsfähigkeit zunehmend wichtiger. Hierbei spielt nicht zuletzt die Gestaltung durch die Gewerkschaften – etwa im Rahmen qualitativer Tarifpolitiken - eine große Rolle; aber auch staatliche Politik kann hier innovative Impulse geben.


4.1. Begrenzte und flexible Arbeitszeit als Voraussetzung für bürgerschaftliches Engagement

Grundsätzlich steht fest, dass sich vor allem diejenigen freiwillig engagieren, die einen Vollzeitarbeitsplatz haben und einige Überstunden machen (Freiwilligensurvey 1999). Insofern führt eine Begrenzung der Arbeitszeit nicht notwendig zu einer Erhöhung des freiwilligen Engagements. Hier ist vielmehr im Bereich der Flexibilisierung ein größerer Effekt zu erwarten, da die freiwillig Engagierten eher abends ihrem Engagement nachkommen und so Gleitzeit und ähnliche Instrumente sinnvoll nützen könnten. Auch das Angebot einiger Unternehmen (zum Beispiel die Ford AG), bis zu 16 Arbeitsstunden im Monat für freiwilliges Engagement freigestellt zu werden, zielt in Richtung größerer Flexibilisierung.

Solche Flexibilisierungsangebote greifen allerdings nur in Zusammenhang mit der Ausarbeitung spezieller Angebote zum freiwilligen Engagement – diese Angebote könnten zum Beispiel von Gewerkschaften und Organisationen des Dritten Sektors gemeinsam ausgearbeitet und in den Unternehmen bekannt gemacht werden. Vor allem muss dabei beachtet werden, dass die Engagierten im Unternehmen nicht benachteiligt werden, dass also auch hier eine Kultur der Anerkennung entsteht.

In ihrer umfangreichen Studie über „Ehrenamt und Erwerbsarbeit„ kommen Klenner u.a. (2001) zu folgenden Vorschlägen. Um eine fruchtbare Balance zwischen beiden Bereichen zu finden, ist es nötig,

  • bezahlte Freistellungsrechte zu erweitern,
  • Zugriffsrechte der Arbeitnehmer auf ihre Arbeitszeitkonten durch gesetzliche und / oder tarifvertragliche Regelungen zu verbessern,
  • Teilzeitarbeit von Ehrenamtlichen zu fördern.

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Zudem fordern sie, die Diskussion über neue sozial abgesicherte Tätigkeitskombinationen aus beruflichen, qualifikatorischen, ehrenamtlichen und gesellschaftlichen Elementen voranzutreiben, um Synergieeffekte und Konsenspotenziale auszuloten.


4.2. Freizeit – Qualifikation – Engagement: Neue Wege in die Arbeitswelt

Gerade im Bereich der Ausbildung und Weiterentwicklung der sogenannten „soft skills„ findet sich ein Ansatzpunkt, der sowohl die Bedürfnisse der Unternehmen hinsichtlich sozial kompetenten Personals, als auch der Organisationen des Dritten Sektors hinsichtlich freiwillig Engagierter berücksichtigt. An diesem Schnittpunkt sind vielfältige Synergieeffekte zu erwarten, bei deren Einholung die Gewerkschaften nicht außen vor bleiben sollten, sondern sich aktiv an der jeweiligen (Aus-) Gestaltung beteiligen könnten. Soziale Kompetenz entfaltet und entwickelt sich im Umgang mit anderen, weniger in Workshops, die lediglich erste Inputs liefern können. Während des freiwilligen Engagements können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter losgelöst vom beruflichen Umfeld und dem damit verbundenen Druck ausprobieren und Erfahrungen sammeln und sich durch die Praxis weiterbilden. Den Unternehmen werden so hohe Weiterbildungskosten erspart, die anderweitig (zum Beispiel durch die Freistellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) verwendet werden können.

Inzwischen haben diese Ansätze die Politik erreicht, wie zum Beispiel die Ausführungen des nordrhein-westfälischen Arbeitsministers Schartau (2001) zeigen:. Das nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit, Soziales, Qualifikation und Technik (MASQT) startete im Juni 2001 den Wettbewerb „Zukunftsbrücke. Neue Wege ins Erwerbsleben„, dessen Idee es ist, dass Bürgerinnen und Bürger anderen beim Neu- oder Wiedereinstieg ins Erwerbsleben helfen. Es sollen für mehr Erwerbsarbeit und bessere Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitsuchenden zusätzliche Ressourcen geschaffen werden. Dieser Wettbewerb zeigte neue Wege der Arbeitsvermittlung im privaten beziehungsweise im freiwilligen Engagement auf, die positiv beschritten wurden. Insgesamt wurden 12 Projekte ausgezeichnet, die insgesamt 270 Menschen Arbeit vermittelten.

Dieses beispielhafte Projekt zeigt das Potenzial, das in solchen Kooperationen verborgen ist. Innerbetriebliche Weiterbildung und Qualifikation überschneiden sich mit (privater) Weiterbildung und Qualifikation von freiwillig Engagierten. Die hier möglichen Synergieeffekte zu identifizieren und entsprechende Programme aufzulegen, könnte ein weiteres Betäti-

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gungsfeld für die Gewerkschaften sein, auch unter dem Aspekt der Mitgliederwerbung und -bindung.

Neben den oben angesprochenen Synergieeffekten im Bereich der Schlüsselqualifikationen wird auch die soziale Integration durch Kooperation zwischen Unternehmen und Non-Profit-Organisationen erhöht und gefördert. Dies geschieht zum einen durch die sogenannten Public-Private-Partnerships bei der Finanzierung gemeinnütziger Projekte, aber auch durch die Integration gesellschaftlicher Randgruppen wie der Arbeitslosen, die mit Hilfe von Projekten einen Weg zurück in die Erwerbstätigkeit finden können, beziehungsweise eine Stärkung ihres Selbstkonzeptes durch die Erfahrung ihrer Selbstwirksamkeit erleben. Denn nach wie vor definieren viele Menschen ihren Wert über die Erwerbstätigkeit, über eine sinnvolle (oft weil existenzsichernde) Tätigkeit. Dass auch freiwilliges Engagement sinnvoll ist, muss vielen Menschen erst bewiesen werden, zum Beispiel im Rahmen solcher Public-Private-Partnerships, die eine direkte Verbindung zum Ersten Sektor darstellen.

Ein weiterer Effekt liegt im Bereich der Arbeitsplatzschaffung, nämlich durch innovative Dienstleistungsangebote, die sich erst durch ein Zusammenspiel vieler Faktoren entwickeln können. So besteht die Möglichkeit, gemeinnützige Projekte zu fördern und bereits beim Förderkonzept dafür Sorge zu tragen, dass sich die Idee zu einem späteren Zeitpunkt selbst tragen wird, dass also Hilfestellung im Bereich der Wirtschaftlichkeitsplanung gegeben wird, aus der dann unabhängige Arbeitsplätze entstehen können.

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Der Autor

Professor Dr. Josef Schmid lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen


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