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Frankreich im Wahljahr 2002 : Kandidaten, Kohabitation und Wahlchancen / Ernst Stetter - [Electronic ed.] - Bonn, 2002 - 23 S. = 80 KB, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




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[Essentials]



  • Zum Jahresbeginn 2002 stagniert die französische Wirtschaft, nachdem Frankreich 2001 ein Wirtschaftswachstum von 2,1% erzielt hatte. Das bedeutete bereits eine Wachstumsverlangsamung im Vergleich zur Periode 1998 – 2000. Zum Jahresende 2001 betrug die Arbeitslosenquote wieder 9%, über 2,2 Mio. Arbeitnehmer waren arbeitslos gemeldet.
  • 2002 werden der Präsident und die Abgeordneten der Nationalversammlung gewählt. Das Superwahljahr startet am 21. April mit dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl. Der zweite Wahlgang findet dann am 5. Mai statt und sechs Wochen später am 9. und 16. Juni die Parlamentswahlen.
  • Prognosen über den Ausgang der Präsidentschaftswahl sind noch schwierig. Unumstrittene Favoriten sind Premierminister Lionel Jospin und Staatspräsident Jacques Chirac, der am 11. Februar seine Kandidatur erklärte. Beide versuchten bereits im vergangenen Jahr, das Terrain vorzubereiten und sich durch Angriffe und öffentliche Seitenhiebe auf den politischen Gegner in den Meinungsumfragen zu positionieren.
  • Jean-Pierre Chevènement gilt als der „shooting-star„ der Präsidentschaftswahlkampagne. Als er vor dem 11. September seine Kandidatur lancierte, gab ihm niemand von den seriösen Meinungsforschern mehr als 5%. der Stimmen. Zu Jahresbeginn 2002 liegt er in den Umfragen bei über 10%. Für die beiden Spitzenkandidaten ist Chevènement ein unangenehmer Mitbewerber, da er Wähler beider politischen Richtungen anspricht. Es ist entscheidend, wie diese sich dann im zweiten Wahlgang verhalten.
  • Im Vergleich zu den Vorgängerregierungen ist die Bilanz der Linkskoalition von Premierminister Jospin durchaus positiv. Er muss nun seinen Stammwählern vermitteln, dass er in den kommenden fünf Jahren die notwendigen, aber bisher nicht in Angriff genommen Reformen, insbesondere der Sozialversicherung, der Renten und der Verwaltung einleitet. Gewinnen muss er aber auch das gesamte linke Spektrum, das die Errungenschaften des Sozialstaates bewahren und sogar ausbauen will. Schließlich müssen neue Wähler der Mitte und Nichtwähler davon überzeugt werden, dass er als Präsident den Modernisierungs- und Reformkurs der französischen Gesellschaft forciert.
  • Die Umfragen lassen einen Machtabnutzungseffekt seit 1997 für die Linke kaum erkennen. Die Zufriedenheit mit der Regierung im allgemeinen und mit führenden Persönlichkeiten ist relativ hoch und übersteigt die der bürgerlichen Politiker bei weitem. Auch die PS selbst konnte die Anteile der "guten Meinung" auf 53% steigern. Trotz der als Niederlage für die PS gewerteten Kommunalwahlen im März 2001 ist ihre Ausgangsposition für die Parlamentswahlen positiv.

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Wirtschaftliche Perspektiven

Frankreich hatte 2001 ein Wirtschaftswachstum von 2,1%. Die Wirtschaftstätigkeit erfuhr damit eine Verlangsamung im Vergleich zur Periode zwischen 1998 – 2000. Zum Jahresbeginn 2002 befindet sich Frankreich in einer Stagnationsphase.

Die Arbeitslosigkeit, die seit der Regierungsübernahme von Lionel Jospin konstant reduziert werden konnte, ist seit Mai 2001 wieder stetig angestiegen. Am Auffallendsten ist dies im Dienstleistungssektor: Im Jahr 2000 wurden über 530.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, 2001 waren es nur noch 190.000. Das Jahr 2001 hat auch für Frankreich schmerzhaft aufgezeigt, dass bei einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums zuerst der Arbeitsmarkt betroffen ist. Doch das pessimistische Krisenszenario vieler Konjunkturexperten bewahrheitete sich nicht. Frankreich erlebte trotz der weltwirtschaftlichen Krisentendenzen und der Auswirkungen der Attentate vom 11. September weder eine Rezession noch eine explosive Erhöhung der Arbeitslosenzahlen.

Mit 2,1% Wachstum für 2001 liegt Frankreich zudem deutlich vor den großen Drei: USA, Deutschland und Japan. Natürlich ist eine solche Rate im Vergleich zu 2000 mit 3,5% Wachstum unerfreulich. Die guten Daten von 1997 bis 2000 haben sich schon zu Beginn 2001 nicht mehr angedeutet, und Finanzminister Laurent Fabius musste während des Jahres regelmäßig seine Prognosen nach unten revidieren. Stütze der Konjunktur waren die Automobilindustrie und der Dienstleistungssektor.

Das Haushaltsdefizit stieg 2001 auf 32,32 Mill. EURO, anstatt der geplanten 28,26 Mill. EURO. Bis November hatten sich mehr als 130.000 Arbeitnehmer erneut bei den staatlichen Stellen arbeitslos gemeldet. 2.200.800 Arbeitnehmer waren im November 2001 ohne Beschäftigung, damit stieg die Arbeitslosenquote wieder auf 9%.

Lionel Jospin kann sich in der politischen Auseinandersetzung somit nicht mehr auf den erhofften Rückgang der Arbeitslosigkeit stützen, obwohl immerhin in den Jahren 1997 – 2001 mehr als 900.000 Personen ins Arbeitsleben reintegriert werden konnten und über 1,7 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Das Langzeitziel Vollbeschäftigung wird von der Regierung nun für 2008 anvisiert. Um so mehr dürfte er deshalb die Steuersenkungspolitik hervorheben, die ein wesentliches Element des Erhalts der Kaufkraft der Haushalte war. Die Konsumrate blieb auf hohem Niveau und wuchs 2001 um 3,7%. Wenn die Prognose einer niedrigen Inflationsrate von 1% hält, wird auch 2002 das Konsumverhalten der Verbraucher weiterhin eine wichtige stabilitätsfördernde Rolle für Konjunktur und Wirtschaftstätigkeit in Frankreich haben.

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Für das 4. Quartal 2001 sehen die Konjunkturforschungsinstitute allerdings eine Stagnation des Wachstums. Ein leichter Anstieg von 0,1% ist für das erste Quartal 2002 vorhergesehen und für das 2. Trimester 2002 wird mit ein wenig mehr gerechnet (0,4%). Die Regierung bleibt aber bisher bei ihrer Wachstumsprognose für 2002 von 2,25%, obwohl die Forschungsinstitute nur noch von insgesamt 1,5% ausgehen.

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Die Präsidentschaftswahl im April 2002

Frankreich wird 2002 den Präsidenten sowie die Abgeordneten der Nationalversammlung wählen. Das französische Superwahljahr 2002 startet am 21. April mit dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl. Der zweite Wahlgang findet dann am 5. Mai statt und dementsprechend sechs Wochen später am 9. und 16. Juni die Parlamentswahlen.

Die Verfassungsreform des Jahres 2000 sieht eine fünfjährige Amtsperiode mit der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl vor. Der neue französische Staatspräsident wird somit der erste Präsident seit Mac-Mahon (1871) sein, der wieder für fünf Jahre statt für sieben Jahre gewählt werden wird. Politik und Gesellschaft in Frankreich sind natürlich seit Monaten von der anstehenden Wahlauseinandersetzung 2002 beeinflusst. Die Kohabitation ist mehr und mehr eine Auseinandersetzung ohne „Merci„. Die in den vergangenen Jahren gewollt „konstruktive„ Kohabitation wurde, je näher der Wahltermin rückt, rüder und destruktiver. Der Eindruck eines permanenten öffentlichen Schlagabtausches zwischen Präsident und Premierminister prägt die Analyse der politischen Ereignisse.

Konstruktive oder destruktive Kohabitation?

Präsident und Premierminister versuchten während des gesamten Jahres 2001 durch Angriffe, Spitzfindigkeiten und öffentliche Seitenhiebe den politischen Gegner in den Meinungsumfragen zu distanzieren. Begonnen hat es mit der Ermahnung des Präsidenten an den Premierminister zu Beginn des Jahres, dass 2001 ein nützliches Jahr für die Franzosen werden müsse. Der zweite Schlagabtausch erhitzte sich am Gesetzesentwurf zu Korsika, den der Präsident nicht im Ministerrat behandelte und dabei gleichzeitig die Abgeordneten aufforderte, den Gesetzesentwurf doch „verfassungstreu„ zu verabschieden.

Auch Premierminister Jospin attackiert den Präsidenten. In der Nationalversammlung am 13. Juni bemerkt er zu seiner trotzkistischen Vergangenheit, dass es wohl ehrenvoller sei, sich vielleicht spät Journalisten gegenüber zu erklären, als sich den Richtern zu verweigern. Er spielte dabei auf die verschiedenen Affären des Präsidenten an und dessen beharrliche Weigerung, gegenüber der Justiz auszusagen. Jacques Chirac berief sich dabei auf die verfassungsmä-

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ßige Immunität des Präsidenten. Der Kassationsgerichtshof, der zur Aussageverweigerung des Präsidenten von einigen Abgeordneten angerufen wurde, bestätigte am 10. Oktober dann die Immunität des Präsidenten, allerdings nur während der Ausübung seiner Amtsgeschäfte. Ein wichtiger Erfolg für Jacques Chirac in der politischen Auseinandersetzung.

Die Ansprache des Präsidenten zum 14. Juli geriet zum Eklat. Der Präsident kritisierte offen die Politik der Regierung und bemerkte zu den Vorwürfen wegen angeblicher Reisen, die von ihm bar bezahlt worden wären, da hätte es wohl bei einigen „pschiit„ gemacht. Das Klima im Ministerrat am 18. Juli war dementsprechend frostig und der Jahreszeit überhaupt nicht angemessen.

Der Kabinettsdirektor des Premierministers, Olivier Schrameck, veröffentlichte am 15. Oktober ein Buch über seine Sichtweise der Kohabitation mit dem Titel: „Matignon: Rive Gauche„. Er spricht darin von der Kohabitation als der schlimmsten Form des Regierens. Die Veröffentlichung war mit Lionel Jospin abgesprochen. Die andauernde Konfrontation im Regierungsalltag beschreibt Schrameck als Schützengrabenkrieg. Er klagt an, dass der erste und zweite Repräsentant des Staates einen Großteil ihrer Zeit, ihrer Energie und ihrer Verfügbarkeit nicht dem nationalen Interesse widmen, sondern jeweils das andere Lager überwachen und bekämpfen, mit dem einzigen erklärten Ziel, den Gegner in Schwierigkeiten zu bringen.

Trotz aller Grabenkriege und öffentlicher Schaukämpfe gelang es aber weder dem Präsidenten, noch dem Premierminister in den Meinungsumfragen wesentliche Prozentpunkte dazuzugewinnen und sich vom politischen Gegner eindeutig zu distanzieren.

Lionel Jospin betonte schon 1997 zu Beginn seiner Regierungszeit, wie lang der Weg sei und was in 5 Jahren Kohabitationsregierung alles passieren könnte, trotz der Erfolge und wichtigen eingeleiteten Reformen. Er unterschätzte niemals in seiner Amtszeit als Premierminister die schwierige und harte Auseinandersetzung mit dem Konkurrenten, dem gewählten Präsidenten Frankreichs, Jacques Chirac. Die Nervosität zwischen beiden wird auch in der internen Bezeichnung des jeweils anderen deutlich. Sprach Lionel Jospin am Anfang noch vom Präsidenten, so ist es nun der „Andere„.

Die traditionellen Neujahrsglückwünsche zum Jahreswechsel 2001/2002 nutzte Jacques Chirac eindrucksvoll und professionell, um über die Medien die Rolle des ersten Repräsentanten der Republik zu kommunizieren. Der Premierminister konnte nur gute Miene zum Spiel machen. Die erste Januarwoche 2002 gab einen Vorgeschmack auf die Kampagnenkapazität des Politikers Jacques Chirac.

Offene Präsidentschaftswahlen

Eine verlässliche Prognose ist für den Ausgang der kommenden Präsidentschaftswahl ist mo-

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mentan schwer möglich. Die jüngsten repräsentativen Umfrageergebnisse (CSA-BFM-Libération und BVA-Paris Match vom 8.1.2002) zum Jahreswechsel 2002 ergeben ein zwiespältiges Bild:



CSA – Libération

BVA – Paris Match

1. Wahlgang

Jacques Chirac

28,0%

21%


Lionel Jospin

21,5%

24%


Jean-Pierre Chevènement

10,5%

11%


Jean-Marie Le Pen

10,0%

10%

2. Wahlgang

Jacques Chirac

53%

48%


Lionel Jospin

47%

52%

Die beiden Favoriten der Präsidentschaftswahlen sind unumstritten Jospin und Chirac. Auffallend ist, dass seit September 2001 Chirac in den Meinungsumfragen vorne liegt, wenn auch Jospin zum Jahreswechsel erstmals seit langem auch mal wieder in einer Umfrage vor Chirac lag. Die Umfrageergebnisse versprechen einen knappen Wahlausgang, die Zahl der noch Unentschlossenen ist sehr hoch. Über 41% geben an, ihre Entscheidung für einen Kandidaten noch nicht getroffen zu haben. Dies liegt wohl auch daran, dass der Ausgang des ersten Wahlgangs relativ klar zu sein scheint. Es ist nicht zu erwarten, dass ein dritter Kandidat das Duell Chirac – Jospin im zweiten Wahlgang verhindern könnte.

Die beiden Kandidaten müssen also die Unentschlossenen und die Erstwähler umwerben. Bei den Jungwählern scheint Lionel Jospin im Vorteil zu sein. Für beide Kandidaten wird aber entscheidend sein, wie viele der Unentschlossenen im zweiten Wahlgang gewonnen werden können.

Die Prognosen zu Jahresbeginn 2001 hinsichtlich eines Wahlerfolges von Lionel Jospin bei den Präsidentschaftswahlen 2002 sind nicht mit denen zum Jahreswechsel 2001/2002 zu vergleichen. Noch vor einem Jahr sah es aus, als ob die nächsten 15 Monate für Lionel Jospin ein Spaziergang würden. Es ging eigentlich nur noch darum, keine kapitalen Fehler zu begehen. Die Wahl schien sicher gewonnen zu sein, zumal Jacques Chirac durch seine vielfältigen Affären als sicherer Verlierer galt und kein anderer ernsthafter Konkurrent in Sicht war. Warum liegen nun zu Beginn der heißen Phase die beiden Kandidaten wieder gleichauf ?

Sind es die schlechten wirtschaftlichen Prognosen mit dem dauerhaften Anstieg der Arbeitslosigkeit? Welche Rolle spielten die weltpoliti-

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schen Schreckensereignisse vom 11. September gefolgt von der nationalen Katastrophe der Explosion der Chemiefabrik in Toulouse? Was ließ die Wähler bei Umfragen zaudern, ob Lionel Jospin Präsident und das linke Regierungsbündnis für eine weitere Legislaturperiode bestätigt werden sollen? Wann genau stellte sich diese Skepsis ein?

War es bereits im März nach der Kommunalwahl? Zwar wurden Paris und Lyon gewonnen, aber die Linke verlor überraschend mehr als 40 mittlere Städte und Kommunen an die Bürgerlichen, wie Strassburg, Orléans, Rouen, Blois, Quimper, Nîmes. Von dem Warnschuss erholte sich die Koalition eigentlich nicht. In der Nationalversammlung mussten mehr und mehr Kompromisse bei Gesetzesvorhaben mit dem eigenen Lager, insbesondere den Kommunisten, gesucht werden. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner wurde zur Schadensbegrenzung. Die Kommunisten kämpfen seit der Kommunalwahl ums Überleben, da sie in all ihren traditionellen Hochburgen einbrachen. Die Regierungskoalition und im besonderen die Parti Socialiste hatte eine empfindliche Ohrfeige bekommen. Der Wähler gab deutlich zu verstehen, dass Mandatsträger, von ihm als Souverän gewählt, nicht von den Parteien im Voraus bestimmt werden.

War es vor der Sommerpause, als die alte „erneuerte„ Regierungsmannschaft ziemlich erschöpft in den Urlaub ging? Das „Dreamteam„ von 1997 schien amtsmüde und die Wirtschaftsdaten für den Herbst waren nicht sehr positiv. Der Premierminister musste in der Folge der Kommunalwahlen eine Kabinettsumbildung vornehmen, da das Arbeitsministerium nach dem Weggang von Martine Aubry vakant wurde. Sie trat in Lille die Nachfolge von Pierre Mauroy als Bürgermeisterin an. Die Justizministerin Elisabeth Guigou, die sich u.a. auch Chancen als mögliche Nachfolgekandidatin für Lionel Jospin macht, wollte die Nachfolgerin von Martine Aubry im Arbeits- und Sozialbereich werden. Sie hat aber seither in allen Auseinandersetzungen große Schwierigkeiten gehabt. Gewerkschaften und die sozialen Gruppen akzeptieren nur widerwillig die „Elitepolitikerin„ Guigou. Als potentielle Premierministerin ist sie aus dem Rennen.

Die neue Justizministerin Marylise Lebranchu bekam sehr schnell in der öffentlichen Debatte bei der Frage der Unabhängigkeit der Justiz und der neuen Rolle der Polizei bei geringfügigen Delikten Schwierigkeiten. Die Besetzung des Innenministeriums mit Daniel Vaillant erwies sich nicht als sehr glücklich. Er beging einige schwerwiegende Fehler insbesondere in der heiklen Korsikafrage. So kündigte er z.B. ein spezielles Gefängnis in Korsika für verurteilte „Unabhängigkeitskämpfer„ an, damit sie näher bei ihren Familien sein können. Sofort musste die Ankündigung vom Regierungschef zurückgenommen werden, da dies, wie vorherzusehen war, große Aufregung in der Öffentlichkeit und der Presse auslöste.

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Die Regierungsmannschaft ließ also im vergangenen Jahr nicht mehr die Dynamik erkennen, die anfänglich vorherrschte. Natürlich ist dies verständlich, aber gerade am Ende der Legislatur hätte es nochmals einer gemeinsamen Anstrengung bedurft, um den Wählern zu vermitteln, dass auch eine weitere Periode mit dieser Mannschaft fruchtbar wird.

Im Herbst wurde fast schon verzweifelt versucht, die lahmende Konjunktur zu beleben und den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu stoppen. Die Regierung beschloss mit Rücksicht auf die europäischen Partner kein umfassendes keynesianisches Konjunkturprogramm, was vor allem die Kommunisten forderten. Sie verteilte je nach Notwendigkeiten, d.h. nach Protesten der verschiedenen Berufsgruppen, finanzielle Leistungen. Allein in den Monaten Oktober/November 2001 beschloss die Regierung zusätzliche Ausgaben in Höhe von 1,5 Mill. EURO für das Personal im Gesundheitswesen, die Polizei und die Gendarmerie: die Politik des Nachgebens auf den Druck der Straße.

Welchen Einfluss hatten die erneuten „Enthüllungen„ über die trotzkistische Vergangenheit des jungen Jospin? Lionel Jospin soll der trotzkistischen Splittergruppe der „Lambertisten„ bis Mitte der achtziger Jahre angehört haben. Bereits Anfang der achtziger Jahre war er aber erster Sekretär der Parti Socialiste. Sollte er für die Trotzkisten die Parti Socialiste unterwandern? Jospin war gezwungen, in der Nationalversammlung einzugestehen, dass er solchen Ideen gegenüber aufgeschlossen war. Er „gestand„ aber seine angebliche Mitgliedschaft nicht ein. Diese Affäre gilt nach dem „Bekenntnis„ in der Nationalversammlung als abgeschlossen und wird im Wahlkampf und bei der Wahlentscheidung keine Rolle mehr spielen. Eher kann es sogar von Vorteil für Jospin sein, in Jugendjahren einer linken Splittergruppe angehört zu haben, da er damit Wähler am linken Rand gewinnen könnte. Daniel Cohn-Bendit brachte die Debatte mit der Bemerkung auf den Punkt, das Missliche daran sei nicht, dass er überhaupt einer Splittergruppe der Trotzkisten angehörte, sondern die Tatsache, dass er der „dümmsten„ dieser Gruppierungen angehörte.

Hatte der fulminante Start des „dritten„ Kandidaten Jean-Pierre Chevènement im September, der zum Jahreswechsel bei über 10% der Stimmen in den Meinungsumfragen liegt und Jacques Chirac und Lionel Jospin gleichermaßen beunruhigt, Einfluss auf die Akzeptanz des Kandidaten Jospin? Oder war es der 11. September, der paradoxerweise dem Präsidenten die erhoffte und erneute notwendige Fortune nach den Affären und Korruptionsvorwürfen brachte?

Europa: kein Schlüsselthema im Wahlkampf

Das Thema „Europa„ wird keines der Schlüsselthemen im Wahlkampf werden. Regierung, aber auch die Opposition blieben zur Einführung des Euro nahezu stumm. Lediglich der Präsident sprach in seiner Neujahrsansprache vom histori-

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schen Moment für Europa und Frankreich, ohne aber den obligatorischen Seitenhieb auf die Regierung zu vergessen. Wesentlich für die Realisierung seien die richtungsweisenden Weichenstellungen der Regierung Balladur und Juppé gewesen, so dass Frankreich die Maastrichtkriterien hätte erfüllen können. Mit keinem Wort erwähnte er die erfolgreiche Haushaltskonsolidierung der aktuellen Regierung.

Jospin beschränkte sich zur Euroeinführung darauf, am Neujahrstag auf dem Markt mit Euro Blumen für seine Frau zu kaufen. Er gab keine offizielle Stellungnahme ab. Er verhielt sich vorsichtig und abwartend. Sollte es je schief gehen, sollte der Euro bei der Bevölkerung und bei den Händlern keine Akzeptanz finden, so sollten nicht er und seine Regierung dafür verantwortlich gemacht werden können.

Selten wurde so wenig über Europa debattiert wie bei der historischen Einführung der gemeinsamen Währung. Europa, die Reform der europäischen Institutionen, das Konzept eines föderaleren Europas, ist zu sensibel, um es zu einem Wahlkampfthema zu machen. Mit den Kommunisten um Robert Hue und den Nationalrepublikanern um Jean-Pierre Chevènement hat Jospin zwei Partner und Gegner gleichzeitig, die in diesem Punkt eine grundlegend andere Meinung als die Sozialisten und Grünen vertreten. Chevènement ist ein dezidierter Gegner weiterer europäischer Integration. Zudem muss Jospin damit rechnen, dass die Linksradikalen um Arlette Laguiller eine Vielzahl unzufriedener Linker auf sich vereinen könnten, die einer weiteren europäischen Integration ebenfalls distanziert gegenüberstehen und deren "republikanische Disziplin" für den zweiten Wahlgang eher zweifelhaft ist.

Gegensätze zweier Elitepolitiker

Lionel Jospin und Jacques Chirac sind bereits seit langem Spitzenpolitiker Frankreichs. Beide verkörpern, jeder nach seiner Art, die Typologie der politischen Klasse Frankreichs. Ihre Karrieren führten über die ENA und die Kabinette in die politische Verantwortung. Aber beide sind grundsätzlich unterschiedliche Charaktere.

Der eine jovial, herzlich, ein Genießer, wissend, wie man mit Macht umgeht, diese aber auch persönlich rüde nutzend. In diesem Sinne kalt, berechnend und machtpolitisch intrigant. Persönliche Beziehungen gelten ihm viel. Von Untergegebenen werden Treue und Verschwiegenheit erwartet. Sie werden, wie im Fall Jean Tiberi, des treuen „Vasallen„ der Pariser Bürgermeisterzeit, der dank ihm das Amt übernehmen konnte, wieder fallengelassen, wenn die Nützlichkeit nicht mehr gegeben ist. Er ist mit seiner Jugendfreundin Bernadette seit 1956 verheiratet. Seine Tochter Claude ist die Medienberaterin des Vaters und Präsidenten. Jacques Chirac wird bereits 1967 mit 35 Jahren zum ersten Mal Staatssekretär, danach Minister in verschiedenen Funktionen, von 1974 – 1976 ist er Premierminister unter Georges Pompidou, er wird zum zweitenmal Premierminister in der

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ersten Kohabitation unter François Mitterrand von 1986 – 1988. 1988 kandidiert er gegen Mitterrand und verliert. Über 18 Jahre, von 1977 – 1995, ist er gewählter Bürgermeister von Paris. 1995 wird er zum Präsidenten Frankreichs gewählt. Er gewinnt mit 52,7 % gegen den damaligen Überraschungskandidaten Lionel Jospin, der 47,3% der Stimmen erhielt.

Lionel Jospin dagegen ist ernsthaft, arbeitsam, ehrlich, diszipliniert, intellektuell akkurat. Er schreibt z.B. wichtige Reden selbst fein säuberlich mit Füllhalter auf ein Blatt, das er dann auch als Redemanuskript benutzt. Aber er ist auch besserwisserisch, aufbrausend, von sich selbst als dem Bestem überzeugt. Bezeichnend ist die Zugehörigkeit in seiner Jugendzeit zu zwei gesellschaftlichen „Eliten„, den Enarchen, denen der Staat zu gehören scheint, und den Trotzkisten, die sich als die wahren Erben der Geschichte sehen. Seine Mutter, eine Hebamme, hat die Regeln der Familie gesetzt, ist dominant in seinem Leben. Der Vater, Pazifist, den Sozialisten nahestehend. Verheiratet mit seiner „schönen„ Jugendfreundin Elisabeth, die dann aber die Tristesse der Trotzkisten hasste. In zweiter Ehe mit Sylviane verheiratet, der Intellektuellen, die mit dem großen Jacques Derrida zusammenlebte, der aber das gemeinsame Kind nicht akzeptierte. François Mitterrand förderte Jospin und betraute ihn früh mit wichtigen Aufgaben in der Partei. Er wird 1. Sekretär der PS von 1981 – 1988. Jospin hat aber mit Mitterrand keine affektive Beziehung entwickelt. Es blieb eine professionelle, vom notwendigen Respekt geprägte. Er wird dann von 1988 – 1991 Erziehungsminister, behält aber seine Funktionen in der Partei und als „Conseiller„ des Kanton Cintegabelle in der Haute-Garonne im Südwesten Frankreichs.

Der eigentliche Bruch mit Mitterrand erfolgt aber bereits, als dieser 1984 den jungen Laurent Fabius auserkor und ihn mit 38 Jahren zum jüngsten Premierminister Frankreichs ernannte. Jospin war nicht mehr im „Hof„. Er löste sich langsam, bis er dann auf dem Kongress der PS von Liévain 1994 isoliert und marginalisiert war. Er wählte die eigene Formel der Befreiung vom Mitterrandismus („Le droit d’inventaire„) und brachte die PS zurück an die Macht. Konsequenterweise lud er seinen politischen Ziehvater 1995 nicht zu einem politischen Meeting ein. Der Bruch sollte auch symbolisch demonstriert werden. Heute bedauert er dies manchmal, sah aber damals die absolute Notwendigkeit für den Erfolg, dem ihm auch niemand mehr streitig macht. 1997 der Sieg bei den Parlamentswahlen und die Ernennung zum Premierminister. In der Folgezeit versöhnt er sich mit den „Konkurrenten„ aus der Mitterrandzeit: Jack Lang [Jack Lang 1995: „Jospin ist ein Looser, ein Rekordmann von Wahlniederlagen„. Jack Lang 2002: „Jospin wird dank seiner Qualitäten als Staatsmann und seiner moralischen Integrität gewinnen„.], Jean Glavany und auch mit Laurent Fabius, den er zu seinem Finanzminister nach dem Rücktritt von Dominique Strauss-Kahn ernannte.

Die Kohabitation mit Jacques Chirac konnte wohl nur mit einem Premierminister wie Lionel

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Jospin über diesen langen Zeitraum so funktionieren, dass diese Form des Regierens sogar von vielen Franzosen geschätzt wird, da sie die beiden politischen Lager zum Kompromiss zwingt.

Verliert Chirac wegen der Zerstrittenheit der Bürgerlichen?

Jacques Chirac hat es verstanden, sich selbst, seine Persönlichkeit und seine Popularität in den Mittelpunkt der bisherigen Präsidentschaft zu stellen. Er hat den persönlichen Kontakt zu den Franzosen gehalten, er ist der Präsident „sympa„, der die Sorgen der kleinen Leute erkennt und in die politische Debatte einbringt.

Beispiele dafür sind die innere Sicherheit, die Ausrüstung und Bezahlung der Polizei und Gendarmen und die Jugend- und Kleinkriminalität. Ganz bewusst wird er auch dieses Thema in den Mittelpunkt seiner Wiederwahlkampagne stellen. Ein Thema, das ihm den Wahlsieg bringen kann, da damit, ähnlich wie 1995 mit dem Sozialthema, die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung in die Kampagne eingebaut wird. Zwar hat sich die Kleinkriminalität in den letzten Jahren in den Vorstädten erhöht, die Problematik besteht aber grundsätzlich schon seit langem, ist nicht neu und auch nicht besorgniserregender als zu Beginn der 90er Jahre. Der Präsident hat aber mit diesem Thema die Regierung geschickt an einer ihrer Schwachstellen getroffen.

Das Problem für Jacques Chirac ist weniger die Linke als vielmehr seine eigene Klientel, die Bürgerlichen. Er hat nach dem katastrophalen politischen Fehler der Auflösung des Parlaments 1997 alles unternommen, um seine Rivalen im bürgerlichen Lager zu spalten. Dies ist ihm sehr gut gelungen. Heute ist Chirac der einzige ernstzunehmende Kandidat der Bürgerlichen für den ersten Wahlgang.

Die anderen Kandidaten der Bürgerlichen, der Liberale Alain Madelin, der Zentrumseuropäer François Bayrou und der Rechtssouveränist Charles Pasqua kommen in den Meinungsumfragen gerade mal auf 10 % der Wählerstimmen und unternehmen alles, um sich von Chirac zu distanzieren. Dies bedeutet, dass die Bürgerlichen augenblicklich über weniger als 40% der Stimmen in den Meinungsumfragen verfügen. Noch nie in der Geschichte der V. Republik war „La Droite„ zusammen so schwach. Aus eigener Kraft wird Chirac nicht wiedergewählt. Er braucht Stimmen der „Gauche„ und muss Nichtwähler für sich gewinnen.

Stimmt die „Gauche plurielle„ im 2. Wahlgang geschlossen für Lionel Jospin? Auch Lionel Jospin kann nur gewinnen, wenn er möglichst viele Nichtwähler mobilisiert. Es bedarf erstens die Franzosen davon zu überzeugen, dass es vernünftiger ist, einen Präsidenten zu wählen, der durch seine Grundsätze und sein politisches Wirken in Politik und Gesellschaft verankert ist, als einen Präsident, der sich über politische Ämter und eigene Karriere seine poli-

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tische Basis schuf. Aber zweitens muss es ihm gelingen, dem Wähler seine persönlichen Qualitäten (Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Kompetenz) und seine unbestreitbaren Erfolge als Premierminister zu vermitteln. Drittens, vor allen Dingen müssen die Wähler der anderen Kandidaten der Linksparteien gewonnen werden, im zweiten Wahlgang für ihn zu stimmen. Ersteres gelang ihm bereits 1997, das zweite und das dritte sind die eigentlichen Herausforderungen seiner Wahlkampagne.

Die „Gauche plurielle„, die seit 1997 regiert, wird im ersten Wahlgang neben Lionel Jospin mit Robert Hue für die Kommunisten, Noël Mamère für die Grünen sowie weiteren Kandidaten aus dem linken Splitterparteispektrum, wie die Kandidatin der Radikalsozialisten, antreten. Sie ist die erste farbige Präsidentschaftskandidatin und stammt aus Guadeloupe. Im Unterschied zu den Bürgerlichen sind sich die Kandidaten der Linken einig, dass es nur gemeinsam gelingen kann. Jospin ist die unumstrittene Führungspersönlichkeit der „Gauche Plurielle„.

Die Kommunisten und die Grünen müssen ihre Kandidaten ins Rennen schicken, um politisch zu überleben. Ihre Wählerschaft muss bereits für die Parlamentswahlen mobilisiert werden. In den Meinungsumfragen haben alle Kandidaten der Koalition zusammen komfortable 45%. Somit wäre der zweite Wahlgang eigentlich nur noch eine Formalität für Jospin. Ein zu hoher Prozentsatz der potentiellen Wähler aus der Regierungskoalition will jedoch im zweiten Wahlgang nicht für ihn stimmen. Über 1/3 der kommunistischen und linksradikalen Wähler geben an, sich im zweiten Wahlgang enthalten zu wollen. Hinzu kommt Jean-Pierre Chevènement, der für das Mouvement des Citoyens kandidiert und dessen erklärtes Ziel ist, in den 2. Wahlgang zu kommen.

Jean-Pierre Chevènement – der Überraschungskandidat?

Eine ablehnende Gleichgültigkeit gegenüber den beiden Spitzenkandidaten ist seit Beginn der Vor-Wahlkampagne nicht zu verhehlen. Jean-Pierre Chevènement galt als der „shooting-star„ im Herbst. Als er vor dem 11. September seine Kampagne lancierte, gab ihm niemand von den seriösen Meinungsforschern mehr als 5%. Es gelang ihm jedoch rasch, durch eine glänzend orchestrierte Kampagne die Aufmerksamkeit der Medien und Wähler zu gewinnen. Vor dem Jahreswechsel gaben ihm manche Meinungsforscher schon 15% der Stimmen im ersten Wahlgang. Manche sahen in ihm den Überraschungskandidaten und erinnerten an 1996 (Georges Pompidou), 1974 (Giscard d’Estaing), 1988 (Jacques Chirac) und 1995 (Jacques Chirac). Aber dieses Mal scheinen die beiden Spitzenkandidaten außer Reichweite für einen Überraschungskandidaten zu sein. Die Zustimmung zu

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Chevènement fiel zum Jahresende wieder auf 10%. Es wird im zweiten Wahlgang das Duell Jospin – Chirac geben.

Für die beiden Spitzenkandidaten ist Jean-Pierre Chevènement aber unangenehm, da er Wähler beider politischer Richtungen anspricht. Es wird wohl entscheidend für den Ausgang sein, wie diese sich dann im zweiten Wahlgang verhalten. Chevènement knüpft mit dem Mouvement des Citoyens und seiner eigenen „republikanischen„ Kandidatur an national-republikanische aber auch alte sozialistische Strömungen in Frankreich an. Die Sozialisten kannten vor 1940 drei Strömungen: Die „Reformersozialisten„ um Jean Jaurès, die „Republikaner„ um Clemenceau und die Marxisten. Chevènement verkörpert die Clemenceaurepublikaner, verbindet mit de Gaulle die Werte der Nation und die Größe Frankreichs, die es wiederzugewinnen gilt.

Er formuliert harsche Kritik am Neogaullisten Jacques Chirac, der das Erbe de Gaulles verraten habe. In Le Monde bezeichnete er Jacques Chirac als „Handwerker des Abstiegs Frankreichs„. Chevènement will eine erneuerte republikanische Partei in Frankreich verankern, die gleichermaßen Linksrepublikaner und Gaullisten anspricht. Dem Staat und der Nation sollen die Würde, die „Grandeur„ (Stärke und Größe), Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit wiedergegeben werden. Unterstützt wird Chevènement von bekannten republikanischen Linksintellektuellen wie dem ehemaligen Pressesprecher Mitterrands und Schriftstellers Max Gallo oder Régis Debray.

Die Argumente für eine republikanische Sammlungsbewegung sind populär und politisch ansprechend. Chevènement kommt aber weder bei den Jugendlichen noch beim einfachen Bürger an. Für die Jugendlichen verkörpert er den abgehobenen Intellektuellen. Die einfachen Bürger verstehen seine intellektuelle und elitistische Argumentationsweise nicht. Er hat keinen populistischen einfachen Diskurs.

Jospin und Chevènement hatten sich an der Korsikafrage entzweit. Die Angebote Jospins an die korsischen Nationalisten gingen dem Republikaner Chevènement zu weit. Er sieht in der Korsikapolitik von Jospin den Anfang vom Ende der Einheit der französischen Republik. Dem korsischen Regionalparlament sollen Zugeständnisse in Fragen der Gesetzgebung gemacht werden, die Bereiche wie Bildung und Regionalsprache betreffen; im republikanischen Verständnis eine ausschließliche Aufgabe der Zentralregierung und des nationalen Parlaments. Zweiter Dissens ist die europäische Integrationspolitik. Chevènement verkörpert bereits seit seinem Nein zu Maastricht eine links-souveränistische Linie und tritt für die Beibehaltung der intergouvernementalen Kooperation ein. Er ist entschiedener Kritiker des Konzepts eines föderalen Europas.

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Der ENA-Jahrgangsfreund und ehemalige Parteigenosse Chevènement wird seinen persönlichen Freund Jospin trotz aller politischen Gegensätze im zweiten Wahlgang nicht im Stich lassen und seine Wähler auffordern, für Jospin zu stimmen. Augenblicklich würden von 100 Chevènement-Wählern nur 44 im 2. Wahlgang für Jospin stimmen. Ein Indiz, dass viele seiner Anhänger aus dem rechtskonservativen Lager und sogar von der Front National stammen.

Die übrigen Präsidentschaftskandidaten

Robert Hue, der 55-jährige Vorsitzende der französischen Kommunisten, hat sich bereits 1995 als Kandidat (8,7%) präsentiert. Sollte er im ersten Wahlgang durch Arlette Laguiller übertroffen werden, dürfte sich wohl 2002 zum letzten Mal in Frankreich ein Kommunist als Kandidat für das Präsidentschaftsamt beworben haben.

Noël Mamère, (Les VERTS), der Kandidat der Grünen, der erst seinem innerparteilichen Widersacher Alain Lipietz den Vortritt ließ. Da dieser aber sehr schnell den Zorn der Grünen Wählerschaft auf sich zog, vor allem in der Korsikapolitik, musste er seine Kandidatur zurückziehen. Mamère will grüne Akzente setzen, wird aber kaum über 3 oder 4% kommen

François Bayrou, Union pour la Démocratie Française (UDF), 1951 in Bordères geboren, kandidiert zum ersten Mal für das Präsidentschaftsamt. In der „Goldenen Mitte„ des französischen Parteienspektrums hofft er sowohl auf frustrierte Wähler der Sozialisten als auch auf desillusionierte Anhänger der Konservativen. Sein Profil ist das des „jungen„ Kandidaten.

Alain Madelin, Démocratie Libérale (DL), der 1946 in Paris geborene ehemalige Finanzminister und derzeitige Abgeordnete der Ultraliberalen stellt sich ebenfalls erstmals zur Wahl. Wie Chevènement, Bayrou und Pasqua hofft er, aus dem Kampf um den Präsidentschaftstitel als glücklicher Dritter hervorzugehen.

Charles Pasqua, Rassemblement pour la France (RPF), 1927 in Grasse geboren, stellt sich den Wählern im kommenden Jahr zum vierten Mal. Er hat sich zum Ziel gesetzt, die Stimmen der nationalen Rechten an sich zu binden und hat - nach gaullistisch-nationalistischer Gesinnung - einen weitgehend anti-europäischen Diskurs.

Jean-Marie Le Pen, Front National (FN), 1928 in Südfrankreich geboren und Anführer seiner extrem nationalistischen Partei, kandidiert bei den Wahlen 2002 ebenfalls zum vierten Mal für die Présidentielles. 1995 erreichte er mit 15,1% einen Höchstwert, der aufgrund der Spaltung der FN 1999 vermutlich nicht mehr zu erreichen ist. Seine aktuellen Umfragewerte sind überraschend gut und liegen bei 10% für den ersten Wahlgang.

Arlette Laguiller, Lutte Ouvrière (LO), „Rechtsanwältin der ArbeiterInnen„ und Gegnerin der Klassengesellschaft, hat im aktuellen po-

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litischen Diskurs große Popularität erlangt. Durch die Antiglobalisierungsdebatte hat die extreme Linke in Frankreich Zulauf aus den Reihen der Sozialisten und der Kommunisten erhalten, der sich in den neuesten Wahlumfragen niederschlägt.

Programm und Wahlstrategie Jospins

Die Wahlchancen von Lionel Jospin hängen natürlich davon ab, wie die Wähler in Frankreich die Reformen und Erfolge der „Gauche plurielle„ der letzten fünf Jahre bewerten und ob sie in der sich nun abzeichnenden schwierigen wirtschaftlichen Situation das Vertrauen für eine fünfjährige Amtsperiode einem „linken„ Präsidenten mit einer dann voraussichtlich „linken„ Regierung aussprechen wollen. Es bedarf einer Kampagne mit einem glaubwürdigen und differenzierten Zukunftsprogramm vor allem in der heißen Phase des Wahlkampfs. Vieles wird davon abhängen, wie die Wähler die Rate Versprochen/Gehalten der letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen beurteilen.

Der Spitzenkandidat der Linken hat die schwierige Aufgabe seinen Stammwählern zu vermitteln, dass er in den kommenden fünf Jahren die notwendigen, aber bisher nicht in Angriff genommenen Reformen, insbesondere der Sozialversicherung, der Renten und der Verwaltung einleitet. Aber genauso glaubwürdig muss er das gesamte linke Spektrum gewinnen, dass die Errungenschaften des Sozialstaates eher bewahren und sogar ausbauen will. Gleichzeitig bedarf es neuer Wähler aus der Mitte und ein gezieltes Werben um Nichtwähler. Diese Wähler müssen aber davon überzeugt werden, dass er als Präsident den Modernisierungs- und Reformkurs der französischen Gesellschaft nachhaltig forciert.

Deshalb wird das Besondere des Präsidentschaftswahlkampfes auch dieses Mal wieder der Versuch sein, als "unabhängig" von der Partei zu erscheinen, um sich so die Basis für den zweiten Wahlgang zu schaffen. Hierzu gehört ein unabhängiges Büro ohne Parteiinsignien und ein eigenes von der Partei getrenntes Team mit besonders ernannten Kampagnendirektoren. Lionel Jospin hat sich für das Duo Jean Glavany und Dominique Strauss-Kahn entschieden. Für Dominique Strauss-Kahn ist dies gleichzeitig das politische Comeback.

Die andere Frage wird sein, ob die „Gauche plurielle„ in Zeiten des Wachstums „nur„ erfolgreich verteilt hat und wenig Vorsorge für die nun schwierigeren Zeiten der Rezession traf. Hat die Linke und insbesondere die Parti Socialiste nicht versäumt, eine Renaissance der Werte und Grundsätze einzuleiten?

Das Zukunfts- und Wahlprogramm der PS, wie von Martine Aubry Ende Dezember 2001 vorgestellt, wurde nicht nur in den Medien sehr kritisch als Sammelsurium traditioneller sozialdemokratischer Politiken bezeichnet, ohne innovative Zukunftsvisionen. Die

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Grundaussagen und Ziele bleiben Abbau der Arbeitslosigkeit, Kampf gegen Ungerechtigkeiten, Erhöhung der Kaufkraft. Handlungsfelder der Politik, die bereits in den letzten 5 Jahren Priorität hatten. In dem Programm ist wenig ausgeführt über neue Instrumente zur Erreichung der Ziele. Wenig Ideen zu einer langfristigen Reform des Bildungswesens, über die Notwendigkeit neuer Unternehmensgründungen, kaum etwas zur Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie und eventueller Förderungsinstrumente, wenig über Grundlagenforschung, um langfristige Weichen zu stellen, über neue Formen der Rentenfinanzierung und die Reform der exzessiv ansteigenden Kosten der Sozialversicherung, oder über stärkere Bürgerbeteiligung und Reform der demokratischen Institutionen, d.h. über die gesellschaftlichen Zukunftsthemen.

Jospin äußerte sich wohl auch deshalb bisher nicht öffentlich zu den Vorschlägen der PS. Er will möglichst spät in die argumentative Wahlauseinandersetzung gehen hat sich daher auch erst am 20. Februar offiziell als Kandidat durch eine lapidare Fax-Mitteilung präsentiert. Die heiße Phase soll für ihn möglichst kurz sein, zumal er weiterhin seine Aufgaben als Premierminister wahrnehmen will. Eine riskante Strategie. Vielleicht wäre es wahltaktisch sinnvoller gewesen, rechtzeitig zurückzutreten und die Kampagne „nur„ als Kandidat zu führen, um Angriffsflächen zu vermeiden.

Gleichzeitig mit der Ankündigung der offiziellen Kandidatur wird ein Buch mit einer Serie von Interviews mit dem französischen Starjournalisten Alain Duhamel über die Ideen, Vorstellungen und das Programm des Kandidaten erscheinen. Während der Weihnachtszeit hat Jospin in seinem Feriendomizil auf der Ile de Ré den Feinschliff vorgenommen. Entscheidend wird sein, seiner Kandidatur eine Zukunftsperspektive zu geben. Er muss der Strategie des anderen Kandidaten entgegentreten, ihm eine Auseinandersetzung über die Regierungspolitik und innenpolitische Themen wie „innere Sicherheit„ aufzuzwingen.

Jospin will versuchen, als Präsident eine andere Strategie, eine andere Beziehung zu den Franzosen entwickeln. Er will nicht mehr Schiedsrichter sein, sondern der Verantwortliche der Modernisierung der Gesellschaft, der Ideengeber und –vermittler. François Hollande spitzte dies so zu: „Er hat sich als Premierminister fünf Jahre um Frankreich gekümmert, jetzt muss er sich um die Franzosen kümmern.„

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Szenarien für die Parlamentswahlen im Juni 2002

Der Wahlkampf konzentriert sich im wesentlichen auf die Präsidentschaftswahlen, die als wichtigste Wahlen in Frankreich gelten. Auch die Umkehrung des Wahlkalenders (regulär

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hätten die Parlamentswahlen vor den Präsidentschaftswahlen stattgefunden) trägt zum Bedeutungsverlust der Parlamentswahlen bei, die quasi als "Nachwahlen" betrachtet werden, in denen der gewählte Präsident mit einer entsprechenden Mehrheit "versorgt" wird.

Das aktuelle Parteiensystem

Das strikt bipolare Parteiensystem der 70er Jahre mit einem rechten Lager aus der liberalen UDF (Union pour la démocratie française) und der neogaullistischen RPR (Rassemblement pour la République) sowie dem linken Lager aus PS und PCF (quadrille bipolaire) hat sich in den 80er Jahren zunächst durch den Aufstieg der rechtsextremen Front National (FN) und später der ökologischen Parteien (Verts, Génération écologique), die für sich in Anspruch nahmen, "weder rechts noch links" zu stehen, pluralisiert. Infolge innerparteilicher Entwicklungen (Machtkämpfe, Europadebatte) nahm die Pluralisierung seit den 90er Jahren stetig zu. Die Parteienlandschaft Frankreichs stellt sich heute wie folgt dar:

Génération écologique (GE) ist nach der eindeutigen Linksverortung der Grünen (Les Verts) unter Dominique Voynet praktisch bedeutungslos geworden. Die Grünen versuchen augenblicklich, die Globalisierungsgegner zu gewinnen, um ihre Wählerschaft zu erweitern. Seit Dominique Voynet das Kabinett als Umweltministerin verlassen hat und Noël Mamère sich als Präsidentschaftskandidat in der Grünen Partei durchgesetzt hat, fehlt es an klarer Führung bei den Grünen. Der Einfluss von Daniel Cohn-Bendit ist nicht zu unterschätzen. Er ist aber nicht klar im französischen politischen Koordinatensystem als Grüner positioniert, sondern immer noch als der Anführer der 68er und Europaabgeordneter, der in Deutschland lebt und für die französischen Grünen im Europaparlament ist.

Der nationalrepublikanische Flügel der PS um Jean-Pierre Chevènement spaltete sich als „Mouvement des Citoyens„ 1992 ab. Erst mit dem erhofften guten Ergebnis des Kandidaten Chevènement bei den Präsidentschaftswahlen wird sich Bewegung dann langfristig als eine ernstzunehmende politische Partei etabliert haben. Das Mouvement des Citoyen ist aber eine jener typischen französischen personalisierten Parteien, deren Bedeutung einzig und allein von ihrem Gründer und Vorsitzenden abhängt.

Die mit den Erfolgen seit 1997 einhergehende Strategie der PS, eine große sozialdemokratische Linkspartei mit der „Gauche plurielle„ zu etablieren, ist nicht gelungen. Robert Hue sieht sich als Anwalt der sozial Schwachen, obwohl die Parti Communiste in der Regierungsverantwortung mehr und mehr Wähler verliert und dadurch die trotzkistische „Lutte ouvrière„ (LO) um Arlette Laguiller zulegen kann. Sie gewinnt die Frustrierten, die die Regierungspolitik der „Gauche plurielle„ als Aus-

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verkauf der linken Werte und sozialen Errungenschaften sehen.

Auf der Rechten gründete Charles Pasqua (zunächst zusammen mit Phillippe de Villiers) die souveränistisch ausgerichtete RPF (Rassemblement pour la France); aus dem Parteienbündnis UDF scherten die Anhänger von Alain Madelin als Démocratie Libérale (DL) aus; der Machtkampf zwischen Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret um die Vorherrschaft in der FN im Vorfeld der Europawahlen 1999 mündete in der Abspaltung der Anhänger Mégrets als Mouvement National.

Dabei gelang es der PS, sich nach ihrer schweren Krise und der verheerenden Abwahl 1993 seit 1995 als stärkste Kraft auf der Linken zu behaupten: ihre Stimmenanteile in den ersten Wahlgängen sowohl bei den Präsidentschaftswahlen 1995 als auch bei den Parlamentswahlen 1997 lagen bei 23,3% bzw. 25,5% (PCF 8,6%/9,9%; Verts 3,3%/3,6%; LO 5,3%/2,2%). Hiermit reicht sie zwar an ihre besten Ergebnisse aus den 80er Jahren nicht mehr heran, bleibt jedoch, wahlsystembedingt, führend auf der Linken. Die PS führt über ihre Position als stärkste Fraktion im Parlament strategisch das linke Lager an. In den Umfrageergebnissen führender Institute (IPSOS, BVA, SOFRES) ist kaum ein Machtabnutzungseffekt seit 1997 für die Linke festzustellen. Die Zufriedenheit mit der Regierung im allgemeinen als auch mit führenden Persönlichkeiten ist relativ hoch und übersteigt die der bürgerlichen Politiker bei weitem. Auch die PS selbst konnte die Anteile der "guten Meinung" auf 53% steigern. Trotz der als Niederlage für die PS gewerteten Kommunalwahlen im März 2001 ist also ihre Ausgangsposition für die anstehenden Parlamentswahlen als positiv einzuschätzen.

Die Bilanz der „Gauche plurielle„

Unabhängig von der Kandidatur Jospin muss die Parti Socialiste sich aber für die Parlamentswahlen positionieren. Sie stellte in einer Broschüre zum Jahresende die Erfolge der fünfjährigen Amtszeit der Linksregierung („Gauche plurielle„) nochmals mit folgenden Hauptargumenten zusammen, u.a.:

- Die 1997 angekündigten Reformen wurden in die Wege geleitet und umgesetzt. Das Wahlprogramm für die Legislaturperiode wurde erfolgreich abgearbeitet.

- Priorität waren Beschäftigung und Abbau der Jugendarbeitslosigkeit: 320.000 Jugendliche sind seit 1997 wieder in einem Beschäftigungsverhältnis. Die Arbeitslosigkeit sank von 3,1 Mio. auf 2,2 Mio. Arbeitslose. Durch die 35-Stunden-Woche wurden über 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.

- Gesellschaftspolitische Reformen wurden eingeleitet: Kostenlose Krankenversicherung für die Minderbemittelten, Vaterschaftsurlaub, gleichgeschlechtliche Gemeinschaften (PACS),

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Gleichstellungsstellungsgesetz von Mann und Frau.

- Verfassungsreform zum Quinquennat und Reform der Justizwesens sind umgesetzt.

- Steuerentlastungen von über 30 Mrd. Euro wurden gewährt, u.a.: Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer, Reduzierung der Einkommenssteuer, Reduktion der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt, Reduzierung der Wohnungssteuer.

- Einführung einer Arbeitsprämie für Geringverdienende, so dass sich Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich zu Sozialhilfe wieder lohnen.

Im Vergleich zu den Vorgängerregierungen ist die Bilanz der Linkskoalition, die natürlich von den guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen begünstigt war, durchaus positiv. Ein Vergleich mit den konservativen Vorgängerregierungen Balladur und Juppé ergibt folgendes Bild:




1993-1997

1997-2001

Wachstum

1%

3%

Kaufkraft

5%

15%

Sozialabgaben

+4%

-0,6%

Inflationsrate

+7,6%

+3,9%

Mindestlohn

+11,3%

+15,3%

Haushaltsdefizit

4,06%

2,64%

Quelle: Parti Socialiste

Es lassen sich hieraus zwei Schlussfolgerungen ziehen: Die positive Bilanz der „Gauche plurielle„ ist der Grund für die positive Beurteilung der Regierung über mehrere Jahre hinweg. Eine Tatsache, die für Frankreich sehr ungewöhnlich ist. Die Parti Socialiste konnte als wichtigste Partei in der „Gauche plurielle„ dadurch in den letzten Jahren ihr Image erheblich verbessern und ist eindeutig die führende Partei im linken Parteispektrum.

Die Erfahrungen der letzten 15 Jahre zeigen aber, dass die Zahl der unentschlossenen Wähler bis kurz vor den Wahlen knapp ein Drittel beträgt, wodurch die Unwägbarkeiten recht hoch sind. Auch nehmen Wahlenthaltung und Protestwahlverhalten (durch ungültige Wahlzettel) stetig zu.

Aktuelle Perspektiven

Jacques Chirac hat am 11. Februar 2002 seine Kandidatur für die eigene Nachfolge bekannt gegeben. Die Meinungsumfragen der letzten beiden Wochen waren beunruhigend. Chiracs Bild in der Öffentlichkeit ist mehr und mehr das eines sympathischen Politikers ohne klares Programm. Der Abstand zu Jospin für den ersten Wahlgang verringerte sich deutlich und mehrere Institute geben für den zweiten Wahlgang die Prognose eines Sieges für Lionel Jospin. In den Medien wird außerdem immer öfters ein möglicher zweiter Wahlgang Jospin – Chevènement diskutiert.

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Die Wahlkampfstrategen des Kandidaten Chirac suchten deshalb die Offensive und forderten den Präsidenten auf, endlich zum Angriff überzugehen. Es ist das vierte Mal, dass Jacques Chirac sich um das höchste Amt in Frankreich bewirbt. Seine von ihm 1976 gegründete neogaullistische Partei RPR hat die nun ablaufende siebenjährige Amtszeit des Präsidenten nur mit Schwierigkeiten überstanden. Einige führende RPR-Politiker wollen deshalb nach den Parlamentswahlen eine neue bürgerliche Sammlungsbewegung gründen - „Union de Mouvement„ (Union der Bewegung). Der Kandidat Chirac hat nur dann eine Chance, wenn er im Wahlkampf Glaubwürdigkeit und Vertrauen vermittelt. Er selbst sagte, dass „wir dieses Mal unsere Versprechen gegenüber den Wählern halten müssen!„

Lionel Jospin hat, wie geplant, erst jetzt nach formellem Abschluss der Legislaturperiode seine Kandidatur erklärt. Er bleibt damit seinem Image als seriöser und pflichterfüllender Amtsträger auch in der Frage der Form der Ankündigung der Präsidentschaftskandidatur treu. Zu seinen angekündigten Schwerpunkten gehören Bildung und Fortbildung, innere Sicherheit, soziale und intergenerationale Gerechtigkeit, Modernisierung und außenpolitische Stärke.

Beunruhigend für Chirac und Jospin bleibt Jean-Pierre Chevènement. Er könnte zur Überraschung der Wahl werden. Prominente Politiker wie der ehemalige Außenminister Hervé de Charette befürchten sogar einen zweiten Wahlgang Jospin–Chevènement. Die Wahlkampfstrategen der Parti Socialiste sprechen jedoch von einer „Blase„ die bald platzen wird. Ein zweiter Wahlgang mit Chevènement wäre für Jospin schwer kalkulierbar. Auch ist eine hohe Stimmenzahl im ersten Wahlgang für Chevènement nicht automatisch eine Garantie für Jospin, dass ihm all diese Stimmen dann im zweiten Wahlgang zu Gute kämen. Über 60% der potentiellen Chevènement-Wähler würden im zweiten Wahlgang für Chirac stimmen oder aber sich der Stimme enthalten.

Ebenso beunruhigend für Jospin sind aber die Positionen von Robert Hue von den Kommunisten und von Noël Mamère von den Grünen. Robert Hue verliert mehr und mehr in den Meinungsumfragen gegenüber der linksradikalen Arlette Laguiller. Hue sieht sich als Opfer einer Polarisierung und greift deshalb zunehmend härter Jospin an. Auch „habe er die Schnauze voll„, so Hue, dass alle schon vom zweiten Wahlgang sprechen. Erst einmal müsse der erste Wahlgang stattgefunden haben, bevor man über Allianzen und Stimmenverteilung im zweiten Wahlgang verhandele. Offensichtlich liegen die Nerven bei den Kommunisten blank. Es geht ums Überleben und Hue merkt, dass die Strategie der Kommunisten, gemeinsame Sache mit den Sozialisten zu machen, auf Dauer eher das Gegenteil von dem bewirkt, was sie sich erhofften. Die kommunistischen Wähler wandern zu den Linksradikalen oder gehen gleich zu den Sozialisten.

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Der Grüne Kandidat stagniert in den Umfragen bei 5%. Nicht ausreichend genug, um im zweiten Wahlgang alle ökologisch orientierten Wähler für Jospin zu mobilisieren. Mamère ist eher ein „linker„ als ein „ökologischer„ Kandidat. Aber gleichzeitig fordern die Grünen von der PS die Zusicherung für mindestens 60 sichere Wahlkreise für die Parlamentswahlen, damit sie in der nächsten Nationalversammlung eine Fraktion von 20 Abgeordneten bilden können. Die PS ist aber augenblicklich nur gewillt, in 42 Wahlkreisen auf ihren Kandidaten zu verzichten. Dies hieße bei einer optimistischen Hypothese aber lediglich 13 Abgeordnete.

Die Aufteilung der Wahlkreise unter den Partnern der „Gauche Plurielle„ könnte weitere Konflikte bringen. Das „Mouvement des Citoyens„ von Chevènement wird natürlich bei einem guten Wahlergebnis für seinen Kandidaten entsprechend den „Lohn„ für die Parlamentswahlen einfordern!

Die Wahlkampagne ist mit der Ankündigung der Kandidaturen von Jacques Chirac und Lionel Jospin in eine neue Phase getreten. Die Bürger sind immer noch ziemlich uninteressiert. Die nächsten Wochen wird es nun darauf ankommen, diese Gleichgültigkeit zu überwinden.

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Szenarien


Szenario 1:
Jospin und die „Gauche Plurielle„ gewinnen

Gelingt es Lionel Jospin die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, so ergibt sich für die folgenden Parlamentswahlen die für die PS glückliche Perspektive, als stärkste Partei ins Parlament bei gleichzeitiger Stimmenmehrheit der linken Parteien einzuziehen. Die Parti Socialiste könnte die aktuelle Koalition fortsetzen, wobei das interne Koordinatensystem mit geringerem Einfluss der Kommunisten und der Grünen und größerem Gewicht des Mouvement des Citoyens sich verändern würde. Jospin hätte die Möglichkeit, einen sozialistischen Premierminister zu ernennen. Die Kandidaten für das Amt des Premierministers wären wohl François Hollande, Martine Aubry, Dominique Strauss-Kahn oder Laurent Fabius.

Für den augenblicklichen Ersten Sekretär der PS, François Hollande, spricht, dass er der ideale Premier im klassischen republikanischen Sinne wäre, also der mehr ausführende als gestaltende. Ein Präsident Jospin hätte mit einem Premierminister Hollande die notwendige Basis, nach der Kohabitation dem Amt des Präsidenten die „alte„ Machtposition zurückzugeben, die Chirac an die Regierung Jospin verloren hat. Hollande betont in diesem Sinne in öffentlichen Konferenzen, dass bei einem Wahlsieg von Jospin die Funktion des Premierministers neu

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durchdacht werden sollte. Er hat jedoch das Handicap, dass er bisher keine Erfahrung als Minister hat. Für Hollande spricht seine Integrationskapazität, seine Medienkompetenz und seine Fachkompetenz in nahezu allen Politikfeldern. In den Jahren als Erster Sekretär der PS musste er viele Kompromisse mit den anderen Koalitionsparteien aushandeln, die er meisterte. Hinzu kommt das sehr gute Vertrauensverhältnis zu Lionel Jospin.

Martine Aubry, die bereits als Kandidatin sicher schien, ist nun doch in die Kritik gekommen. Erstens, weil sie entsprechend ihrer Art ziemlich autoritär das Wahlprogramm koordinierte und sich dadurch kaum neue Freunde in der PS schaffte. Hinderlich ist zudem ihre Abwesenheit von Paris. Für sie spricht aber ihre langjährige Ministererfahrung, ihr Durchsetzungswille und -Kapazität sowie die profunde Kenntnis der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, den Schlüsselthemen der nächsten Legislaturperiode.

Sehr gute Chancen hat Dominique Strauss-Kahn. Er ist von den Korruptionsvorwürfen und den anderen Vorwürfen freigesprochen und kann sich nun wieder in der Politik engagieren. In der PS verkörpert er die Linie der modernen Sozialdemokraten, offen für die weitere europäische Integrationsschritte. Für ihn spricht seine hervorragende Politik als Wirtschafts- und Finanzminister, seine Modernität und Offenheit für Zukunftsthemen. Das gute Verhältnis zur Wirtschaft und auch seine vielfältigen internationalen Kontakte. Lionel Jospin müsste wohl über seinen eigenen Schatten springen, wenn er Laurent Fabius zum Premierminister ernennen würde. Fabius hat sich als Wirtschaft- und Finanzminister eine neue politische Basis geschaffen. Die Affäre mit den verseuchten Blutkonserven ist wohl vergessen. In einem Papier, das die Jean-Jaurès-Stiftung Anfang Februar veröffentlichte, entwickelt er „sein„ Regierungsprogramm für die nächste Wahlperiode unter dem Stichwort „La Gauche Moderne„.

Szenario 2:
Chirac und die Bürgerlichen gewinnen

Auch die Chancen einer Wiederwahl für Jacques Chirac mit entsprechender bürgerlicher Parlamentsmehrheit sind relativ gut: Er hat auch durch die Attentate vom 11. September neuen Elan im Amt bekommen und seine Affären fast vergessen lassen. War das erste Halbjahr 2001 geprägt von bar bezahlten Reisen und anderen Affären, so sprach zum Jahresende niemand mehr davon, zumal er einen für ihn persönlichen sehr wichtigen Erfolg errang, als er vom Kassationsgerichtshof seine präsidiale Immunität für die Dauer seiner Amtszeit bestätigt bekam.

Chirac ist ein sehr guter Wahlkämpfer und vor allem populärster Politiker Frankreichs. Er schaffte es, seine Popularitätswertewerte während der gesamten Amtsperiode auf 50% zu halten, was außergewöhnlich ist. Kein Premierminister, der im Amt war, hat es bisher ge-

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schafft, direkt ins Elysée gewählt zu werden. Für den gewählten Präsidenten Chirac ein nicht zu unterschätzender strategischer Vorteil. Er selbst litt bereits 1988 darunter und Edouard Balladur in ähnlicher Weise bei der letzten Wahl 1995.

Ernstzunehmende Wahlforschungsmodelle gehen deshalb von einer Wiederwahl Jacques Chiracs aus, die gleichzeitig mit einer Mehrheit der Bürgerlichen in der Nationalversammlung einherginge. Für die Linke wäre dieses Szenario ein Desaster, vergleichbar mit dem von 1993.

Die Bürgerlichen können begründet damit kalkulieren, dass der Wähler seine Entscheidung von der wirtschaftlichen Situation abhängig macht, zumal für das erste Quartal 2002 sehr schlechte Wirtschaftsdaten vorhergesagt sind. Will der Wähler deshalb einen Regierungswechsel, so kann dies aber paradoxerweise nur mit einer Wiederwahl des scheidenden Präsidenten einhergehen. Das ist die reelle Chance der Wiederwahl für Jacques Chirac.

Das Direktwahlsystem mit der französischen Besonderheit von zwei Wahlgängen und einer Stichwahl begünstigt zudem die bürgerlichen Parteien, die in den meisten Departements die relative Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang erringen werden und beim Wegfall der Rechtsradikalen Front National in der Stichwahl gegen einen Kandidaten der „Gauche plurielle„ klar im Vorteil sind.

Wie sähe dann die Regierung aus, wer würde unter Chirac Premierminister, wer Außenminister? Als aussichtsreichster Kandidat gilt derzeit Philippe Douste-Blazy, Bürgermeister von Toulouse, gefolgt von Nicolas Sarkozy, dem Bürgermeister von Neuilly-sur-Seine und ehemaligen RPR-Generalsekretär. Aber auch François Bayrou rechnet sich Chancen aus, wenn er einigermaßen gut als Präsidentschaftskandidat im ersten Wahlgang abschneidet. Außenseiter sind der EU-Kommissar Michel Barnier und der Bürgermeister von Bordeaux und Ex-Premierminister Alain Juppé, der aber als Lieblingskandidat des Präsidenten gehandelt wird. Beide zögern, ein „Remake„ zu versuchen. Juppé bleibt lieber in Wartestellung für die nächste Wahl in fünf Jahren. Eher zweitrangig ist da die Frage der Besetzung des Außenministerpostens, der wohl aller Voraussicht nach an François Léotard ginge.

Philippe Douste-Blazy ist für Chirac ein nahezu idealer Kandidat, da er nicht der RPR angehört. Er gilt aber als sein treuer Anhänger und könnte so die Einheit der Bürgerlichen stärken und die unerfreulichen Grabenkämpfe der letzten Jahre unterbinden. Eine politische Aufgabe, die die anderen wohl so nicht gewährleisten könnten. Andere Voraussetzungen hat er unter Beweis gestellt. Mit Bravour gewann er das Bürgermeisteramt der Stadt Toulouse.

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Szenario 3:
Erneute Kohabitation, aber mit umgekehrten Vorzeichen

Durchaus möglich ist eine erneute Kohabitation, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Auch bei einem Wahlsieg von Jospin könnten die Bürgerlichen die Parlamentswahlen gewinnen. In vielen Umfragen wird deutlich, dass die Franzosen die Kohabitation befürworten. Sie sehen in ihr ein Korrektiv und eine Garantie dafür, dass die Politiker weniger anfällig für Affären und Korruption sind.

Aber ein weiterer wichtiger und entscheidender Aspekt ist zu berücksichtigen: Der Wahlsieg der Linken war 1997 begünstigt durch die sogenannten „Triangulaires„ im zweiten Wahlgang. Die rechtsradikalen Le Pen-Kandidaten hatten damals ihre Kandidatur nicht zurückgezogen und so mussten die Wähler in der Stichwahl unter drei Kandidaten wählen. Ein Vorteil für die Linksparteien, da viele Stimmen bei den Le Pen-Kandidaten blieben und nicht zu den Bürgerlichen gingen. 1997 errang die PS im ersten Wahlgang 23,5%, im zweiten dann 38,5% und stellt seither mit 250 von 577 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Parlament.

Für die anstehende Parlamentswahl sind die Chancen der Rechtsradikalen minimal. Es wird also erstens deutlich weniger „Triangulaires„ im zweiten Wahlgang geben und zweitens eine direktere Auseinandersetzung zwischen dem jeweiligen linken und rechten Kandidaten. Für die Gesellschaft Frankreichs eine erfreuliche Entwicklung, unter wahltaktischen Aspekten aber ein ernsthaftes Handicap für die Linksparteien.

Ob allerdings Jospin erneut – mit umgekehrten Vorzeichen – eine Kohabitation akzeptieren würde, ist fraglich. Ebenso unklar ist die Frage, wie dann eine solche Situation politisch und verfassungsmäßig gelöst würde.

Szenario 4:
Kohabitation wie bisher

Eher unwahrscheinlich ist, dass es bei der jetzigen Kohabitation bleibt. Dies würde heißen, dass Chirac die Präsidentschaftswahl gewinnt und die anschließenden Parlamentswahlen dann wie 1997 von der „Gauche Plurielle„ gewonnen würden. Ein solches Szenario ist äußerst unwahrscheinlich und würde allen Erfahrungen und Prognosen widersprechen.


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