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Einwanderung : Integration, Arbeitsmarkt, Bildung ; Thesenpapier / von Ulrich Pfeiffer (Federführung) ... Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung - [Electronic ed.] - Berlin, 2001 - 16 Bl. = 50 KB, Text & Image files . - (Thesenpapiere des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT









      Einwanderung:
      Integration, Arbeitsmarkt, Bildung

      Thesenpapier

      von
      Ulrich Pfeiffer (Federführung)
      Christoph Dänzer-Vanotti
      Ernst Gerlach
      N. Erich Gerlach
      Gerhard Prätorius

      Berlin, 8.9.2001






Vorbemerkung

Die gegenwärtige Einwanderungsdiskussion konzentriert sich überwiegend auf die Regulierung der künftigen Zuwanderung. Dabei spielen Asylfragen eine zentrale Rolle. Wir klammern Asylfragen aus, weil wir aus unseren Erfahrungen dazu keine entscheidenden Anregungen geben können. Wir konzentrieren uns auf die ökonomische und soziale Integration, die auch die Zuwanderer betreffen, die sich schon (teilweise seit langem) in der Bundesrepublik aufhalten. Diese innere Einwanderung ist nicht bewältigt, wie allein die doppelt so hohe Arbeitslosenquote unter den Ausländern und die mit 20 Prozent erschreckend hohe Quote ausländischer Schüler demonstriert, die keinen Hauptschulabschluss erreicht.

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1. Schlaglichter

Deutschland ist seit mindestens 30 Jahren ein Einwanderungsland, doch die Einwanderungsgeschichte wurde zur Geschichte einer z.T. bewussten Verdrängung. „Wir sind kein Einwanderungsland„ konnten Politiker mit breiter Zustimmung gegen alle Wirklichkeit lange Zeit ununterbrochen behaupten. Während deutsche Hauptbahnhöfe zum Treffpunkt für ausländische Männer wurden, in immer mehr Hauptschulen reine Ausländerklassen entstanden und deutsche Baustellen „verausländerten„, verhielten sich viele vor allem konservative Politiker so, als lebten sie in einem anderen Land. In Deutschland leben über 7 Mio. Ausländer, von denen rd. 4,5 Mio. ein Daueraufenthaltsrecht haben dürften. Sie sind materiell Einwanderer. 3,6 Mio. leben länger als 10 Jahre hier. In Deutschland wachsen knapp 2 Millionen Kinder und Jugendliche (unter 20 Jahren) mit ausländischer Staatsbürgerschaft auf. Davon besuchen 1,2 Mio. eine deutsche Schule, von denen – nach bisherigen Erfahrungen - etwa 250.000 keinen Hauptschulabschluss erreichen werden. Etwa 14 % der ausländischen Kinder erhalten Sozialhilfe. Die Quote der ausländischen Arbeitslosen ist fast doppelt so hoch wie unter den Deutschen. Die Einwanderung von Niedrigqualifizierten in durch Tarifverträge abgeschottete Arbeitsmärkte oder durch Zugangshürden umgebene Märkte war in den 90er Jahren weitgehend eine Einwanderung in die Arbeitslosigkeit und schadete den Deutschen und den Zuwanderern.

Doch – trotz aller Distanz - wächst die Zahl der Einbürgerungen. Die Zahl der Eheschließungen zwischen Einheimischen und Ausländern, sowie der Selbständigen unter den Ausländern steigt ständig an. Trotz solcher unbestreitbarer Integrationserfolge werden uns die Folgen einer in erschreckend hohen Teilen fehlgeschlagenen Einwanderung noch in den nächsten 50 Jahren belasten. Natürlich muss sich die öffentliche Diskussion jetzt darauf konzentrieren, welche Gruppen unter welchen Bedingungen künftig nach Deutschland einwandern können. Doch die hier aufwachsenden ausländischen Kinder und Jugendlichen und die vielen Erwachsenen, deren Integration in den Arbeitsmarkt fehlgeschlagen ist, müssen endlich deutsche Chancen erhalten, denn deutsche Ansprüche entstehen automatisch. Dabei sollten die Deutschen ein massives Interesse an wirtschaftlichen Erfolgen der Einwanderer haben. Eine Einwanderung in die Arbeitslosigkeit macht die Deutschen ärmer, macht die Gesellschaft ungleicher und konfliktträchtiger. Einwanderer mit wirtschaftlichen Erfolgen und voller Integration in die Arbeitsmärkte erwirtschaften Deckungsbeiträge für die staatlichen Aufgaben, stehen auf eigenen Füßen und machen damit auch die Deutschen wohlhabender.

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2. Falsche Anreize zur Einwanderung, überforderte Arbeitsmärkte, verzögerte Integration.

Die Einwanderungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt erst wirklich in den 60er Jahren nach dem Bau der Mauer und dem Versiegen des Zustroms von Arbeitskräften aus der DDR. Damals kam die Lückenzuwanderung - als Gastarbeiterwanderung bezeichnet - für einen Arbeitsmarkt mit Übernachfrage bis 1973 richtig in Gang. Die intensivste arbeitsmarktorientierte Zuwanderung gab es in den Jahren 1968-72. Innerhalb von vier Jahren kamen rd. 1 Mio. Arbeitskräfte, die auch Arbeitsplätze fanden! Nach der Ölkrise 1973 wurde dieser Zustrom durch den Anwerbestop abrupt beendet. Außerdem fehlte eine entsprechende expansive Nachfrage nach niedrig qualifizierter Arbeit.

Allerdings begann jetzt die wirkliche Einwanderung. 1974, im ersten Jahr nach dem Anwerbestop, wanderten rd. 540.000 (!) Ausländer zu. Insgesamt stieg in den siebziger Jahren die Zahl der ausländischen Schüler um fast 500.000 an. Es dominierte der Nachzug von Familienangehörigen. Aus der Gastarbeiterwanderung wurde qua Familiennachzug ein Perpetuum mobile der nicht oder nur begrenzt steuerbaren Familienwanderung mit überwiegend niedrig Qualifizierten. Das wird auch künftig so bleiben. Einmal in Gang gekommene Wanderungen erzeugen weitere Wanderungen und sind nicht mehr beliebig steuerbar. Wanderungen sind kein Ergebnis individualistischer Einzelentscheidungen.

Wanderungsströme werden durch Politik angeregt. Es wurden Türken und keine Ägypter ins Land geholt. Bis heute gibt es keine nennenswerte Einwanderung nach Deutschland aus Ägypten. Einwanderung kann - wie die Diskussion um das Zuwanderungsalter von nachgeholten Kindern zeigt - politisch beeinflusst werden. Es macht keinen Sinn, dass ausländische Eltern Kinder ohne Ausbildung erst im Alter von 12 oder 15 Jahren nachholen, um die niedrigeren Lebenshaltungskosten im Herkunftsland nutzen zu können. Im Interesse der Kinder sollte verbindlich festgelegt werden, dass der Nachzug von Kindern im Schulalter den Nachweis einer der deutschen Schulbildung gleichwertigen schulischen Bildung erfordert. Unabhängig davon werden immer wieder Familienangehörige nachziehen, denen dies nicht verwehrt werden kann.

Die Einwanderung vor der Ölkrise 1973 war eine Einwanderung in die Vollbeschäftigung. Statistisch gesehen war die Einwanderung der 90er Jahre überwiegende Einwanderung in die Arbeitslosigkeit. Auf einem Arbeitsmarkt mit ohnehin ständig wachsendem Überangebot von Erwerbspersonen mit niedrigen Qualifikationen blieben dennoch hohe Zuwanderungsanreize bestehen. Das hat die Arbeitslosigkeit erhöht. Zu den wahrscheinlich etwa 250.000 jungen Ausländern, die in den nächsten 10 Jahren deutsche Schulen ohne Hauptschulabschluss als niedrig Qualifizierte verlassen, dürfte eine mindestens ähnliche Größenordnung durch weitere Zuwanderung von Familienangehörigen hinzukommen. Nicht nur die Lohndifferenzen, sondern auch die sozialstaatlichen Differenzen haben Wanderungen angeregt. Da sie kaum grundlegend verändert werden können, folgt daraus zwingend, dass die Investitionen in die Bildung jüngerer Ausländer deutlich erhöht werden müssen. Das empfiehlt sich allein schon aus allgemeinen arbeitsmarktpolitischen Gründen.



Grafik 1: Ein- und Auswanderung aus Deutschland, 1960-1999




Sollte es tatsächlich zu einer Expansion der Gesamtnachfrage am Arbeitsmarkt kommen, dann werden die Hochqualifizierten schon überbeschäftigt sein, wenn die niedrig Qualifizierten noch immer keine Arbeit finden. Vollbeschäftigung bei den niedrig Qualifizierten ist unter den gegebenen Bedingungen nicht zu erreichen. Eine Vollbeschäftigung wird um so leichter möglich, je eher die Zahl der Hochqualifizierten am Arbeitsmarkt steigt, denn einfache Arbeit entsteht komplementär zu hochqualifizierter Arbeit. Mehr und bessere Ausbildung für die bereits in Deutschland lebenden Ausländer und mehr Zuwanderung von Hochqualifizierten bleiben die Voraussetzung für Vollbeschäftigung. Die Zuwanderung gering qualifizierter Ausländer sollte dagegen soweit wie möglich eingeschränkt werden.

Tabelle 1: Netto-Zuwanderung nach Einwanderungsarten
(Jahressummen 1996-98)



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3. Die emotionale Seite der bisherigen Einwanderung.

Im Denken und Fühlen der Bürger der Bundesrepublik war Einwanderung bis in die jüngste Zeit nicht vorgesehen. Einwanderung hatte (und hat vielleicht immer noch) eher etwas Bedrohliches. Einwanderung in Deutschland erscheint wie das Eingeständnis, national versagt zu haben. Seit den sogenannten Gastarbeiterwanderungen konnte sich auch die Vorstellung verfestigen, dass Zuwanderer automatisch eine Unterschicht für einfache austauschbare Arbeit mit wenig Aufstiegschancen bilden. Einwanderer galten fast als Dienstboten der Nation.

Die Vorstellung, eine Nation solle sich selbst genug sein, geriet angesichts der de facto Einwanderung immer mehr in Widerspruch zur Wirklichkeit. Die immer wieder mitschwingende Sorge, die deutsche Identität sei durch Einwanderung bedroht, wird sich jedoch in keinem Fall als begründbar erweisen. Auch wenn Deutschland es nicht als eine Aufgabe ansieht, Schmelztiegel für heterogene Einwanderergruppen zu sein, wird eine Assimilation und Integration auf Dauer zustande kommen. Die Multi-Kulti-Forderung oder Vorstellung hat mehr Ängste hervorgerufen als Lösungen gezeigt. Richtig an dieser Vorstellung ist, dass bei hoher Einwanderung ständig ein Nebeneinander unterschiedlicher Grade der Integration und Assimilation unterschiedlicher „Einwandererjahrgänge„ besteht.

Die Amerikaner mit ihrer weit größeren Einwanderungserfahrung als wir, sprechen deshalb von „Italian-Americans„oder „Chinese-Americans„ und akzeptieren in diesen Doppelbezeichnungen eine ständig präsente doppelte Loyalität. Man lässt sich auf das neue Land ein. Aber man kann aus Treue zu sich selbst und auch aus Selbstachtung seine nationale Identität natürlich nicht an der Grenze abgeben. Gegenüber dieser Realität muss man die Ablehnung einer doppelten Staatsbürgerschaft, als Erschwernis in einem schwierigen Prozess ansehen. Wir müssen akzeptieren und wollen, dass in unserem Lande jeweils größere Gruppen leben, die beides sind, Türken und Deutsche oder Griechen und Deutsche. Einwanderung führt in lebenslange Anpassungsprozesse, die sich in der jeweils nächsten Generation fortsetzen und irgendwann vollenden. Je gradueller und unmerklicher die Integration verläuft, um so konfliktfreier und schmerzfreier wird sie sein. Aufgeklärtes Selbstinteresse der Deutschen legt Toleranz und weiche Regelungen nahe.

Forderungen an die Ausländer sollten pragmatisch und vernünftig sein. Es ist sinnvoll und nützlich, dass die Einwanderer die deutsche Sprache sprechen. Dafür sollte es einen Integrationsunterricht geben. Es ist notwendig, deutsches Recht und deutsche Institutionen zu verstehen, wenn man erfolgreich sein will. Es ist notwendig, dass Kinder deutsche Schulen erfolgreich absolvieren. Es ist gerechtfertigt, für nicht deutsch sprechende Ausländer- und Aussiedlerkinder schon mit 4 oder 5 Jahren eine Vorschulpflicht einzuführen. Solche pragmatischen, aus beiderseitigem Interesse geborenen, Forderungen kann und muss man eindeutig vertreten und auch umsetzen. Gepaart mit einer Bereitschaft, die besondere Situation der Einwanderer zu akzeptieren, liefern sie die besten Voraussetzungen, dass Einwanderung gelingt. [So kamen z.B. in den letzten 10 Jahren fast 600.000 Ausländer nach München und rd. 550.000 wanderten wieder ab. Jeder riesige Umschlag sollte ein Alarmzeichen sein. Es kann nicht im Interesse der Deutschen sein, dass ständig von 100 Ausländern, die zuwandern, 80 - 90 wieder nach Hause zurückkehren. Ganze Stadtteile werden so zu ständigen Durchgangslagern, ohne ausreichende innere Stabilität. Ständig leben dort große Gruppen, die in einem Land, in dem sie abgelehnt werden, gar nicht bleiben wollen, enttäuscht sind oder in ihren Bemühungen, Fuß zu fassen, scheitern.]

Natürlich kosten solche Integrationshilfen Geld. Doch eine Gegenrechnung dürfte zeigen, welche riesigen fiskalischen und auch menschlichen Kosten allein aus der Unterausbildung entstehen. Hier aufgewachsene Einwanderer ohne ausreichende Schulabschlüsse werden ein Leben lang immer wieder als Arbeitslose, als Sozialhilfeempfänger oder schließlich ohne ausreichende Renten dem Staat und den Steuerzahlern zur Last fallen. Wer schon nicht aus Gründen der Chancengleichheit oder Humanität mehr zugunsten der Lebenschancen der Einwanderer investieren will, der sollte es aus aufgeklärtem Eigeninteresse tun. Zuwanderer mit besseren Arbeits- und Entfaltungschancen verbessern auch Lebensstandard und Lebensbedingungen der Einheimischen.

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4. Überforderte ethnische Wohngebiete:
Situation und Strategie



4.1 Stigmatisierung statt Integration?

Ein Einwanderungsland braucht ethnische Wohngebiete und wird sie in jedem Fall hervorbringen. In diesen Gebieten etablieren die Ausländer als große Gruppe eine eigene unterstützende Kontakt- und Dienstleistungsinfrastruktur. Solche Gebiete haben eine Schleusenfunktion. Allerdings können die ethnischen Wohngebiete ihre positive und wichtige Rolle nur übernehmen, wenn auch unter Ausländern weitgehend Vollbeschäftigung herrscht. In der Bundesrepublik wurden diese Gebiete wegen der hohen Arbeitslosigkeit unter Ausländern und den dort wohnenden Deutschen fast in allen Großstädten zu überforderten und stigmatisierenden Nachbarschaften der privaten und öffentlichen Armut und der geringen Chancen. Statt Sprungbretter zu sein, erzeugt die in den letzten Jahren deutlich zunehmende räumliche Segregation der Ausländer in Gebieten, in denen sich gleichzeitig wirtschaftlich schwache Deutsche konzentrieren, immer häufiger eine schwer zu überwindende Integrationsbremse.

Angesichts der Heterogenität der Bewohner entstehen vielfach aggressive Dauerkonflikte. Arbeitslose Deutsche sehen mit Neid und Ressentiments, dass junge Türken im Beruf erfolgreicher sind als sie selbst. Am Arbeitsmarkt erfolgreiche Ausländer können anfänglich sagen: die Deutschen sind die Asozialen. In diesen überforderten Nachbarschaften entstehen allein aus der Heterogenität der Bewohner (verschiedene Ausländergruppen, hohe Quoten von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und immobilen Rentnern mit niedrigen Einkommen) ganz erhebliche Belastungen im Zusammenleben. Kinder aus Familien des Mittelmeerraums schlafen an heißen Sommernachmittagen, um abends richtig wach zu werden, was die Autorität von deutschen Eltern untergräbt, die ihre Kinder dann ins Bett schicken wollen. Das Nebeneinander von Deutschen, die meist in Kleinfamilien leben, mit ausländischen Großfamilien, die nach Meinung der deutschen Bewohner ständig feiern oder aus anderen Anlässen zusammenkommen, erzeugt Neid und Streit, wobei die Deutschen sich als schwächer und isolierter vorkommen.

Das hängt auch damit zusammen, dass Ausländer und Aussiedler sehr rasch (interne) Informations- und Unterstützungsnetzwerke aufbauen, sich gegenseitig helfen oder beim Einkauf bzw. bei Strategien gegenüber öffentlichen Ämtern beraten. Nicht selten gelingt es ihnen, in einer Kombination aus Sozialhilfe und Schwarzarbeit höhere Einkommen zu erwirtschaften als die erwerbstätigen Einheimischen. Das wird dann zu einer Quelle tiefer Empörung. Sie kann sich bis zum allgemeinen Hass auf Ausländer – aber auch auf demokratische Politiker - steigern, weil solches Schmarotzertum geduldet wird und man selbst trotz harter Arbeit schlechter lebt. Solche Fälle sind natürlich selten, aber in den Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus besonders sichtbar.

Deutsche Kinder müssen derweil die Erfahrung verarbeiten, in den Schulen zu einer Minderheit zu werden. Die deutschen Kleinfamilien in den ethnischen Wohngebieten sehen sich im Konfliktfall jeweils ganzen Sippen gegenüber. Auch im Straßenbild dominieren oft die Fremden. Ausländische Geschäfte verdrängen den alten Tante-Emma-Laden. Die Hausgemeinschaften werden immer heterogener. Die gewohnte Welt ist untergegangen. Die deutschen Alteinwohner fühlen sich mit Recht von der Politik im Stich gelassen, denn bis vor kurzem mussten sie entgegen ihrer tagtäglichen Erfahrungen von den Politikern hören: „Wir sind kein Einwanderungsland„. Das muss ihr Vertrauen in die Steuerbarkeit der Entwicklung untergraben. Politik wirkt scheinheilig oder ohnmächtig. Beides steigert weder Vertrauen noch das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, sondern erzeugt je nach Temperament Trauer oder Zorn, Aggression oder Lethargie. Wer es sich leisten kann zieht weg. Das gilt vor allem für Familien mit schulpflichtigen Kindern. Allerdings versuchen auch ausländische Aufsteiger sich möglichst rasch von den ethnischen Wohngebieten zu emanzipieren.

Angesichts solcher Konstellationen erweisen sich Diskussionen fast als scheinheilig, in denen Hochqualifizierte und Gutverdienende dazu auffordern, sich gegenüber den Ausländern tolerant zu verhalten, denn sie leben in Wohngebieten, in denen es kaum (niedrig qualifizierte) Ausländer gibt. Viele arbeiten in Berufen, die per Gesetz vor zugewanderter Konkurrenz geschützt sind. Man kennt Ausländer am Arbeitsplatz allenfalls als Untergebene und zu Hause als Putzfrauen. In der wirklichen Welt müssen deutsche Haushalte mit niedrigen Einkommen und niedrigeren Qualifikationen als Nachbarn und Mitbewohner die Integrationsleistungen erbringen und die Reibungskonflikte aushalten. Auf den Arbeitsmärkten für einfache, wenig gewerkschaftlich geschützte Arbeit kam es zu massiver Wettbewerbsverschärfung und zu mehr Arbeitslosigkeit.

Neben der Einkommensarmut in den Wohngebieten der Ausländer begegnet man dort noch ausgeprägter einer ausgesprochenen Netzwerkarmut. Es gibt zu wenig Menschen mit guten Beziehungen in die externe Arbeits- und Geschäftswelt. Jugendliche werden zu wenig motiviert und erhalten zu wenig Anregungen. Der Wohlfahrtsstaat hat sich bisher als ohnmächtig erwiesen, diese Defizite zu kompensieren. Man kann sogar immer mehr beobachten, dass verschiedene Betreuungsleistungen die Ungleichheit festschreiben und eine Kultur der Abhängigkeit und Lähmung fördern. Die diversen Zusatzmaßnahmen, von Wohnumfeldprogrammen bis zu Sprachkursen ändern die Natur der benachteiligten und überforderten Nachbarschaften bisher kaum. Überall in Westeuropa wird immer deutlicher, dass der Staat die Gesamtheit seiner Leistungen in den ethnischen Wohngebieten an die örtlichen Verhältnisse anpassen muss. Polizei und Jugendämter, Schulen und Arbeitsämter müssen in den Gebieten enger zusammenarbeiten. Sie müssen ihre Leistungen modifizieren und dabei insbesondere befähigen und nicht nur betreuen.

Ethnische Wohngebiete sind in einem Einwanderungsland unausweichlich. Doch sie wurden unter den Bedingungen nicht funktionierender Arbeitsmärkte für niedrig Qualifizierte zu Orten der Ausgrenzung und der Lähmung. Eine Politik, der es gelingt, solche Benachteiligungen zu vermeiden, wurde bis jetzt erst in Ansätzen entwickelt. Sie wird in den kommenden Jahren zu einer zentralen Aufgabe. Die Wahlergebnisse, in denen rechte Parteien mit aggressiven Forderungen in diesen Gebieten einen hohen Grad an Zustimmung erhalten, demonstrieren oft einen ohnmächtigen Zorn gegenüber einer ständigen Überforderung.

4.2 Integrationserfolge

Man muss immer wieder betonen, dass die Hinweise auf eine zunehmend fehlschlagende Integration natürlich nicht die ganze Wahrheit darstellen. Etwa 90.000 ausländische Schüler besuchen deutsche Gymnasien. Jährlich heiraten ca. 85.000 Ausländer/innen Deutsche. In den 90er Jahren konnten rd. 750.000 Ausländer eingebürgert werden. Integration findet statt. Aber Integration kommt noch immer viel zu zufällig zu Stande. Die Integrationserfolge nehmen zumindest anteilsmäßig ab. Die Ungleichheit unter den Ausländern wächst. Ein Einwanderungsland mit einer erprobten und wirksamen Integrationsstrategie ist Deutschland (noch) nicht. Vor allem die Schulen bleiben weit hinter den Bedürfnissen der Einwanderer und dem, was wir aus Eigeninteresse von ihnen erwarten müssen zurück. Die bisherigen Lippenbekenntnisse haben diese Realität noch nicht verändert.

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5. Einwanderung und Integration


5.1 Realistische Einwanderung

Die Realitätsverweigerung gegenüber der Einwanderung hat geschadet. Jetzt muss umfassende Klarheit darüber geschaffen werden, wie die innere Einwanderung der 7 Mio. schon hier lebenden Ausländer wirklich erfolgreich bewältigt werden kann und natürlich muss ein Einwanderungsgesetz die künftige Zuwanderung regeln. Wir halten den vorliegenden Entwurf von Innenminister Schily für geeignet. Insbesondere unterstützen wir eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung von Hochqualifizierten ohne Restriktionen. Kriterium könnte eine einfach zu bestimmende Einkommensschwelle sein.

Allerdings ist Einwanderungspolitik kein Ersatz für Familienpolitik. Auf Dauer wird es nicht gelingen, die Lücken am Arbeitsmarkt durch Zuwanderung zu schließen. Nach Schätzungen des IAB wird selbst bei einem hohen Zuwanderungssaldo von jährlich 200.000 die Zahl der Erwerbspersonen in 30 Jahren um etwa sechs Millionen abnehmen. Solche Größenordnungen können kaum durch Zuwanderung kompensiert werden, ob wohl natürlich die künftigen Wähler über die dann geltenden Zuwanderungsregeln entscheiden werden. Auf Dauer sollten die Geburtenraten steigen, um die Überforderungen einer sich ständig verschlechternden Altersschichtung zu vermeiden.

5.2 Anspruch auf doppelte Staatsbürgerschaft und kommunales Wahlrecht.

Die gegenwärtige Einwanderung ohne Einbürgerung erzeugt spezifische Probleme, weil z.B. in Städten mit hohen Einwanderungsquoten die demokratische Basis schrumpft. Frankfurt am Main mit 644.000 Einwohnern und einem Ausländeranteil von 28 % verliert in der nächsten Bundestagswahl einen Wahlkreis und wird nur noch von zwei Abgeordneten vertreten. Ein kommunales Wahlrecht bleibt als eine erste Stufe der politischen Integration dringlich. Insbesondere sollten Einwanderer, die im Ausland aufgewachsen sind, das Recht zur doppelten Staatsbürgerschaft erhalten. Die doppelte Staatsbürgerschaft entspricht einer Bewusstseinsrealität.

5.3 Einwanderung von Hochqualifizierten anregen, Ausbildung ausweiten.

Die bisherige Zuwanderung von überwiegend niedrig Qualifizierten hat das Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt vergrößert. Künftig müssen soviel Hochqualifizierte wie möglich zuwandern, denn es droht spätestens nach 2010 ein ständig wachsender Nachwuchs- und Jugendmangel. Das wird sich in relativen Steigerungen der Gehälter von jungen Hochqualifizierten äußern. Niemand kann vorhersagen, wann die Nachwuchsengpässe bei Hochqualifizierten zur allgemeinen Wachstumsbremse und damit zum Hindernis für Vollbeschäftigung werden. In jedem Fall liegt es im Interesse der Bundesrepublik, die Attraktivität der Bundesrepublik für Zuwanderer mit hohen Qualifikationen zu steigern. (Rasche Einbürgerung, leichter Familiennachzug). Angesichts der Kosten und Risiken, die damit für die Unternehmen verbunden sind, ist nicht zu befürchten, das es zu einer überhöhten Zuwanderung kommt, die sich etwa in einem Anstieg der Arbeitslosigkeit äußern würde.

Ein weiterer Weg, hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte zu gewinnen, besteht darin, mehr ausländischen Studenten das Studium an deutschen Hochschulen zu ermöglichen und ihnen nach Beendigung ihres Studiums Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme in Deutschland zu ermöglichen. Entsprechende Reformen, die bereits in der Diskussion sind, unterstützen wir nachdrücklich. Von international wettbewerbsfähigeren deutschen Hochschulen, die für eine wachsende Zahl ausländischer Studenten attraktiv sind, profitieren auch deutsche Studenten sowie Deutschland als Wissenschaftsstandort. Darüberhinaus werden die Herkunftsländer der ausländischen Studenten zumindest teilweise von den Kosten für die Bildung von dringend benötigtem Humankapital entlastet.

Außerdem gilt: einfache Arbeit entsteht durch qualifizierte Arbeit. Wer Vollbeschäftigung erreichen will, muss nach dem Auslaufen des Baby-Booms und bei sinkendem deutschen Nachwuchs die Zahl der neu verfügbaren Hochqualifizierten rasch steigern. Wer die Zuwanderung niedrig Qualifizierter und die daraus entstehende Arbeitslosigkeit nicht verhindern kann, der muss die Grenzen auch für Hochqualifizierte öffnen. Dies entspräche im übrigen auch dem Wanderungsmuster, das die erfolgreichen Stadtregionen in der Bundesrepublik seit langem verfolgen. Sowohl nach München wie Stuttgart sind überdurchschnittlich viele Ausländer mit niedrigen Qualifikationen zugewandert. Die Arbeitslosigkeit blieb dennoch niedrig, weil gleichzeitig ständig eine große Zahl von hochqualifizierten deutschen Erwerbspersonen aus anderen Regionen (Ruhrgebiet, Niedersachsen) zuwanderte .

Natürlich hat eine bessere Ausbildung der schon hier Lebenden absolute Priorität. Doch die Hindernisse und Zeitverzögerungen sind riesig. Die ständigen Lippenbekenntnisse der letzen Jahre, die der inneren Einwanderung Vorrang gaben, haben an der Wirklichkeit der Unterausbildung von jugendlichen Ausländern nichts geändert, weil weder die Rolle der Schulen wirklich in Frage gestellt wird, noch die Bereitschaft verstärkt wird, zugunsten ausländischer Schüler wirklich mehr Ressourcen aufzuwenden. Am einfachsten wäre es, Kinder, deren Eltern nicht in der Lage sind, sie in ihren schulischen Pflichten ausreichend zu motivieren und zu unterstützen, ergänzend zu den öffentlichen Schulangeboten, Bildungsvoucher zu gewähren, damit sie Zusatzunterricht, der in Kooperation mit ihren Schulen bereitzustellen wäre, selbst bezahlen können. Dies wäre eine rasch wirkende und überprüfbare Möglichkeit.

Eine solche Politik der besseren Ausbildung der schon hier lebenden Ausländer muss auch deshalb deutlich intensiviert werden, weil völlig offen bleibt, ob Deutschland attraktiv genug sein wird, eine hohe Zuwanderung zu erreichen. Die internationale Konkurrenz um wanderungswillige hochqualifizierte Arbeitnehmer wird zunehmen. Für die wirtschaftliche Entwicklung wäre eine Verschärfung des Wettbewerbs auf den Arbeitsmärkten für Hochqualifizierte mehr als wichtig. Im übrigen wird es bei den Hochqualifizierten ohnehin kaum Integrationsprobleme geben. Integrationsprobleme entstehen fast nur bei Niedrigqualifizierten.

5.4 Einwanderung kein Ersatz für erfolgreiche Familienpolitik.

Wachsende Zuwanderung löst die Geburtenprobleme auf Dauer auch deshalb nicht, weil sich die Geburtenraten der Einwanderer an die deutschen Verhältnisse anpassen. Der Versuch, die Krise der Familie und der niedrigen Geburtenraten in Deutschland durch eine erhöhte Einwanderung in ihren Folgen dauerhaft zu lösen, wird scheitern. Einwanderung ist kein Ersatz für Familienpolitik. Zuwanderung in eine familienfeindliche Gesellschaft verschiebt die Folgeprobleme von Geburtendefiziten und erzeugt mit Zeitverzögerungen neue Probleme. Eine hohe Zuwanderung macht nur Sinn, wenn die Gesellschaft auf Dauer insgesamt familienfreundlicher wird und die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgeht.

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6. Einwanderung und EU-Erweiterung

Die EU-Erweiterung wird - wahrscheinlich mit gewissen Zeitverzögerungen - die Zuwanderung aus Osteuropa erhöhen. Niemand kann befriedigend sicher vorausberechnen, welche Zuwanderung dadurch ausgelöst wird. Erfahrung mit der Zuwanderung aus Portugal, Spanien oder Irland hat jedoch gezeigt, dass der Konvergenzprozess, der in den Beitrittsländern automatisch in Gang gesetzt wird, die Einkommensgrenzen verringert und die Abwanderungsneigung automatisch reduziert. Schon die Erwartung eines kräftigen Wachstum und ein größeres Vertrauen in die eigene wirtschaftliche Entwicklung wirkt automatisch als Abwanderungsbremse. Die Befürchtungen, dass die deutschen Arbeitsmärkte gleichsam „überflutet" würden, dürften unbegründet sein.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die historische Erfahrung Deutschlands mit Zuwanderung aus Polen und Osteuropa im Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts. Hier findet sich ein Beispiel gelungener Integration, an das sich auch in Zukunft anknüpfen liesse.

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7. Einwanderung und wirtschaftliche Entwicklungspolitik

Eine Einwanderungspolitik, bei der praktisch alle Länder der EU hochqualifizierte Erwerbstätige aus aller Welt für Europa anwerben wollen, ruft massive verteilungspolitische Probleme hervor. Hochqualifizierte sind sehr häufig die Nutznießer von staatlich finanzierten Bildungsinvestitionen. Die Abwanderungsländer tragen die Kosten der Bildung von Humankapital, insbesondere die Kosten akademischer Ausbildungen. Der Einwanderungsländer profitieren von diesen Investitionen, ohne für ihre Finanzierung aufgekommen zu sein. Angesichts der möglichen Dimensionen kräftiger Abwanderung Hochqualifizierter aus Entwicklungsländern und Schwellenländern werden hier Verteilungskonflikte entstehen.

Insgesamt könnten in nicht ferner Zukunft pro Jahr rund 500.000 hochqualifizierte junge Erwerbstätige nach Europa kommen. Für die Auswanderungsländer muss dieser riesige Brain Drain zu einem Rückschlag in ihrer eigenen Entwicklung führen. Die verteilungspolitischen Ergebnisse sind unerträglich, denn Länder, die weit ärmer sind als Europa, würden in großem Stil Humankapital exportieren und damit die europäische Entwicklung alimentieren. Die unausgesprochene Annahme, Europa könne sich auf den internationalen Arbeitsmärkten bedienen, um seine eigenen inneren Entwicklungsdefizite und bildungspolitischen Fehlentwicklungen der Vergangenheit auszugleichen, käme einer neuen kolonialen Arroganz gleich. Wie die gegenwärtigen Konfliktsituationen der Welt demonstrieren, werden solche Verteilungsprobleme auf Dauer immer weniger hingenommen. Das künftige Einwanderungsland Bundesrepublik muss sich deshalb die Frage gefallen lassen, wie die negativen Folgen eines Brain Drain kompensiert oder zumindest abgemildert werden können. Eine technisch einfache Abgabe auf Unternehmen, die hochqualifizierte Ausländer aus Entwicklungs- oder Schwellenländern abwerben, ist sicher nicht konsensfähig. Das Problem lässt sich jedoch nicht einfach verdrängen. Es wird gelöst werden müssen.

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8. Kalifornien in Deutschland?


8.1 Keine Angst vor Heterogenität.

Kalifornien dürfte gegenwärtig die Region der Welt mit der wohl heterogensten Bevölkerung sein. Hier mischen sich eine große Zahl von (z.T. illegalen) Einwanderern aus Lateinamerika, insbesondere Mexiko, und unterschiedliche Einwanderergruppen aus Asien mit einem hohen Anteil von Zuwanderern aus ganz Nordamerika, die erst in den letzten 30 bis 40 Jahren nach Kalifornien kamen. Die Universitäten haben sich internationalisiert. Gleichzeitig wurden die einheimischen Studenten ihrer Herkunft nach immer heterogener. Als Ergebnis entstand eine sehr farbige, wettbewerbsintensive und äußerst kreative Gesellschaft, die immer wieder durch wirtschaftliche und gesellschaftliche, aber auch politische Pionierleistungen überrascht. Trotz des hohen Anteils von Menschen mit einem sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrund hat die Gesellschaft in Kalifornien eine unverwechselbare kulturelle Identität. Die Heterogenität der Menschen hat Kreativität und Wettbewerb gefördert. Das Wirtschaftswunder Kaliforniens und die Offenheit der Gesellschaft ist auch ein Produkt der vielfältigen Einwanderung.

Gemessen an kalifornischen Erfahrungen ist die Bevölkerung in Deutschland noch immer extrem homogen und wird dies trotz Einwanderung auch bleiben. Allerdings wird es nicht gelingen, die historisch gewachsene Homogenität und die strengen einheitlichen Regulierungen der Arbeitsmärkte in einem Einwanderungsland zu erhalten. Die Ausländer müssten sich dann in zu enge Nischen der Arbeitsmärkte zwängen, die ihnen das deutsche System zugesteht. Allerdings werden die Potentiale einer heterogenen Bevölkerung mit unterschiedlichen Talenten oder Arbeitsmotiven viel zu wenig genutzt, weil die strengen deutschen Ordnungen den Ausländern nicht ermöglichten, sich insbesondere in einer weniger formellen Ökonomie der haushaltsbezogenen Dienstleistungen zu tummeln.

8.2 Dereguliertes Einwanderungsland.

Neben den rechtlichen Grenzen gegenüber dem Ausland stehen Einwanderer im Inland vor den vielfältigen Barrieren der Prozeduren für einen Gewerbeschein und erst Recht für Meisterbriefe, der Gesellenprüfungen und der de facto Zugangsbeschränkungen. Viele dieser Regelungen sind nicht nur gegenüber Einwanderern überholt und überflüssig. Wozu braucht ein indischer oder türkischer Schneider einen deutschen Meisterbrief, wenn er mir einen Anzug machen will? Wieso wird in Deutschland jede leere Baracke sofort mit Subventionen hochmodernisiert, mit der Folge, dass es keine billigen Gewerberäume gibt? Wieso können zwei junge Jugoslawen nicht in ihrem gebrauchten VW-Bus einen Hausservice anbieten, ohne Buchhaltungspflicht und ohne Prüfungen? Sie könnten pauschal zur Einkommensteuer und zu Sozialabgaben veranlagt werden. Pfusch wird auf Wettbewerbsmärkten ohnehin nicht lange toleriert. Kontrollen durch Wettbewerb sind bei Kleinreparaturen, Gartenpflege oder kleinen Modernisierungen ohnehin wirksamer als Prüfungen vor Industrie- und Handelskammern.

Deutschland als Einwanderungsland muss im Inneren zunächst durchlässiger werden wollen und dies aktiv durch alle Berufsbereiche hindurchdeklinieren. Jeder Ausländer, der sich rechtlich legal hier aufhält, muss eine Arbeitserlaubnis haben, die allerdings nur effektiv wird, wenn die Arbeitsmöglichkeiten deutlich erweitert werden. Gegenwärtig sind unter den deutschen Bedingungen die Märkte für die vielen Ausländer, die einfache Arbeit suchen, viel zu eng. Mehrbeschäftigung wird eine Frage der relativen Preise. Das erfordert Entlastungen bei den öffentlichen Abgaben und einen Abbau der Armutsfalle. Es erfordert aber auch durchlässigere und weniger regulierte Märkte für einfache (selbständige) Arbeit.

Man kann diese Position auch noch weiter interpretieren. So zeigt ein Vergleich mit den USA, dass dort - jedenfalls im Vergleich zu Deutschland - in vielen Bereichen viel systematischer ein qualifikationssparender, technischer und organisatorischer Fortschritt zugelassen und gefördert wurde. Die Bundesrepublik versucht demgegenüber immer noch, alle Erwerbspersonen möglichst maximal zu qualifizieren. Das hat natürlich bei der Festlegung von Produktionsformen oder Arbeitsabläufen in den Unternehmen zur Folge, dass jeweils sehr hohe Qualifikationen vorausgesetzt werden. Wahrscheinlich wäre es in verschiedenen Bereichen sinnvoller, Regelungen und Anreize dafür zu schaffen, dass hochwertige Produkte mit möglichst niedrigen Qualifikationen erzeugt werden.

Es lässt sich vor allem in der Vielfalt der Konsequenzen nicht im Detail ausmalen, welche optimale Symbiose Einwanderer und Einheimische in der Berufs- und Arbeitswelt und auch in Wohngebieten eingehen sollten oder eingehen werden. Gesucht wird ein Satz von möglichst lockeren Regeln, die Beschäftigungschancen maximieren. Sicher ist nur, dass die Einwanderer mit ihren gegebenen Fähigkeiten wirtschaftlich möglichst erfolgreich sein sollten. Dann geht es auch den Einheimischen besser. Einwanderungsländer, die den Zuwanderern keine Prosperität ermöglichen und sie zu stark in Abhängigkeit vom Sozialstaat halten, machen sich selbst ärmer.

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9. Ein Fazit

Einwanderung und wachsende Arbeitslosigkeit haben – als wichtigste Einflussfaktoren - seit den 70er Jahren die Ungleichheit in der Bundesrepublik erhöht. Die Deutschen haben die riesige, sehr heterogene Einwanderung mehr schlecht als recht über sich ergehen lassen, ohne darüber jemals demokratisch abzustimmen oder sie im Interesse der Einwanderer und der Einheimischen wirklich zu steuern. In der Intensität überstieg diese Einwanderung das Niveau der klassischen Einwanderungsländer USA oder Kanada. In der Struktur widersprach die Einwanderung - abgesehen von den 60er Jahren - den Erfordernissen und Integrationsmöglichkeiten des Arbeitsmarktes. Sie widersprach in ihren Dimensionen den Interessen der Deutschen und auch vieler Zuwanderer, die entgegen ihrer Hoffnungen und Erwartungen zu geringe Integrationschancen, Betätigungschancen und Aufstiegschancen erhielten. Die hohe Einwanderung in die Arbeitslosigkeit und in die Abhängigkeit von Transferzahlungen erzeugte neue Ungleichheit, innere Konflikte und führt auf Dauer zu mehr Kriminalität und zu unerträglichen Lasten für den Sozialstaat. Allein deshalb müssen die Bildungsanstrengungen zugunsten der Einwanderer und die Aufwertungsstrategien zugunsten der ethnischen Wohngebiete massiv intensiviert werden.

Die bisherige Zuwanderung war in großen Teilen ein Fehlschlag und darf so nicht weiterlaufen. Alle ernst zu nehmenden Vorschläge müssen auch die absehbare - durch die Geburtenentwicklung - bestimmte Dimension der künftigen Schrumpfung des Arbeitsangebots bei steigenden Anforderungen an den Staat und die öffentlichen Transfersysteme im Auge behalten. Der größte Engpass in dieser Diskussion ist die Wirklichkeitsferne der Deutschen. Im Interesse der Deutschen läge es, künftig eine Kombination aus intensiver Einwanderung Hochqualifizierter mit einer aufwendigen, und auf Jahre hinaus bedeutsameren Integration der schon Eingewanderten zu organisieren. Die Zuwanderung gering Qualifizierter sollte eingeschränkt und der Nachzug von Kindern je nach Alter von einer für ihre Integration ausreichenden Schulbildung im Herkunftsland abhängig gemacht werden. Für ausländische Studenten sollte das Studium in Deutschland attraktiver werden, nicht zuletzt durch verbesserte Arbeitsmöglichkeiten im Anschluss an das Studium. Aus Gründen der Fairness werden Kompensationen für den Brain Drain erforderlich werden.

Es kommt jetzt darauf an, eine neue Einwanderungspolitik zügig umzusetzen. Dabei kann man sicher sein, dass der bornierteste 1990iger Skinhead im Jahre 2040 als Rentner glücklich sein wird, wenn ihn eine philippinische Krankenschwester und kein Roboter betreut. Nur eine realistische Einwanderungspolitik, die auch die innere Einwanderung bewältigt, kann die bisher negative Kosten-Nutzen-Bilanz positiv werden lassen und gleichzeitig innere Entwicklungsengpässe überwinden helfen.


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