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Russland : neue Perspektiven für Europa / Peter W. Schulze - [Electronic ed.] - Bonn, 2001 - 21 S. = 68 KB, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




  • Die Ergebnisse der bisherigen Transformation in Russland sind bestenfalls ambivalent. Einerseits hat die politische und wirtschaftliche Dauerkrise der Jelzin-Ära zur wirtschaftlichen und sozialen Verelendung eines Großteils der russischen Bevölkerung geführt und bereits vorhandene regionale Entwicklungsunterschiede extrem verstärkt. Andererseits haben sich diese Faktoren jedoch nicht in einer systemischen Krise oder in scharfen politischen Konflikten geäußert.

  • Das innenpolitische Klima hat sich verschärft. Die anfängliche Offenheit ist einem restaurativen Konservatismus gewichen, der autoritäre Züge trägt und sich selbstbewusst, kühl-patriotisch und entbunden von internationalen Rücksichtnahmen geriert. Der Umbau der staatlichen Ordnung wird mit Nachdruck betrieben. Der Widerstand der regionalen Elite ist gebrochen. Das Ziel, Russland in einen Zentralstaat zurückzuverwandeln, das föderale Element auf ein Minimum zu reduzieren, wird immer deutlicher.

  • Noch liegt keine nachhaltige wirtschaftliche Belebung vor, zumal wichtige Reformen im Steuer-, Zoll- und Finanzwesen noch fehlen. Aber die wirtschaftlichen Indikatoren für 2000 belegen, dass die industrielle Produktion seit zwei Jahren ununterbrochen wächst (durchschnittlich 10%) und sich das Investitionsklima verbessert hat (Zunahme der Gesamtinvestitionen um ca. 20%, einem Höchststand seit 30 Jahren).

  • Das Wachstum des Bruttosozialprodukts liegt bei über 7%, die Inflation bei ca. 20%. Aber die Währung ist stabil, und die Reallöhne und damit die Nachfrage sind gestiegen. Die Handelsbilanz weist den höchsten Überschuss seit Jahren aus. Wäre nicht die Schuldenfalle von ca. 150 Mrd. US Dollar, die jährlich 25% des Budgets für den Schuldendienst verschlingt, wäre Russland in einer ausgezeichneten wirtschaftlichen Lage.

  • Die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur verlangt Milliardeninvestitionen, die Russland selbst dann nicht aufbringen kann, wenn es gelingen sollte, die Kapitalflucht zu stoppen und durch eine Banken-Reform das Vertrauen der Sparer zurückzugewinnen. Das Land bleibt auf den Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten angewiesen. Dieser Zusammenhang bleibt ein bestimmender Faktor der russischen West- und Europapolitik.

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Das Ende der ersten Transformationsphase

Mit den Parlamentswahlen vom Dezember 1999 und den Präsidentschaftswahlen vom März 2000 ist die erste Transformationsphase zum Abschluss gekommen. Etwa bis 1997 befand sich die russische Wirtschaft im freien Fall, erreichte gegen Ende des Jahres die Talsohle und zeigte aufgrund des Importsubstitutionseffektes der „Finanz- und Bereinigungskrise„ vom August 1998 deutliche Aufschwungstendenzen. Die Wirtschaft stabilisierte sich im ersten Halbjahr 1999 auf niedrigem Niveau, und ab Herbst 1999 kam es zur Belebung von Produktion und Investitionen.

Zwar ist es noch zu früh, von einer nachhaltigen wirtschaftlichen Belebung zu sprechen, zumal erforderliche Reformschritte im Steuer-, Zoll- und Finanzwesen noch nicht oder nur unvollkommen eingeleitet wurden. Aber die wirtschaftlichen Indikatoren für 2000 belegen, dass die industrielle Produktion seit zwei Jahren ununterbrochen wächst (durchschnittlich 10%), und sich das Investitionsklima verbessert hat (Zunahme der Gesamtinvestitionen um ca. 20%, einem Höchststand seit 30 Jahren). Das Bruttosozialprodukt beläuft sich auf über 7%. Die Inflation pendelt sich bei ca. 20% ein, aber die Währung ist stabil, und die Reallöhne und damit die Nachfrage sind gestiegen. Die Handelsbilanz weist den höchsten Überschuss seit Jahren aus. Wäre nicht die Schuldenfalle von ca. 150 Mrd. US Dollar, und müssten nicht jährlich 25% des Budgets für den Schuldendienst aufgebracht werden, wäre Russland in einer ausgezeichneten wirtschaftlichen Lage.

Erstmals seit Beginn der Transformationsperiode 1993 ist die beherrschende Stellung der nationalistisch-populistischen und kommunistischen Kräfte gebrochen worden. Sie haben in der Dritten Staatsduma nicht mehr die Mehrheit. Die veränderten Machtverhältnisse haben zur Folge, dass sich Präsident und Regierung auf einen starken parlamentarischen Block der politischen Mitte stützen können, nämlich auf die neue „Partei der Macht„, Edinstwo/Einheit. Dieser Block hat in der Duma eine Schlüsselposition, und solange die Zusammenarbeit mit dem Präsidialamt funktioniert, wird diese Gruppe das Scharnier für die legislative Umsetzung von Initiativen der Kremladministration bleiben.

Die Konstitution eines regierungskonformen Machtblockes in der Staatsduma, der langsam daran geht, sich ein Programm zu geben und Führungspersönlichkeiten aus anderen politischen Lagern zu gewinnen, impliziert, dass die Duma wesentlich konstruktiver bei der Gesetzgebung mitarbeiten kann als bisher. Außerdem kann sie nicht mehr so leicht

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zum Sündenbock für einen zögerlichen Reformprozess gemacht werden. Allein dieser Faktor wird zur Stabilität des politischen Systems beitragen und positive Rückwirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung haben. Gewiss wird diese Duma aber kaum daran gehen, vorsichtige Korrekturen am präsidialen Zuschnitt des politischen Systems auf den Weg zu bringen. Eher kann das Gegenteil erwartet werden: Weil die Regierungspartei Edinstwo ihren Erfolg ausschließlich dem Präsidenten verdankt, ist sie auf Gedeih und Verderb vom Wohlwollen des Präsidenten abhängig. Hierin liegt für den noch schwachen Parlamentarismus eine große Gefahr. Denn ähnlich wie der Föderationsrat in der Anfangsphase der Ära Jelzin, könnte die Duma zum Instrument und Claqueur der Präsidialadministration verkümmern.

Die Ergebnisse der zurückliegenden Transformation können im besten Fall als ambivalent charakterisiert werden. Einerseits hat die politische und wirtschaftliche Dauerkrise in der vorangegangenen Jelzin-Ära zur wirtschaftlichen und sozialen Verelendung eines Großteils der russischen Bevölkerung geführt und bereits vorhandene regionale Entwicklungsunterschiede extrem verstärkt. Um so überraschender war aber andererseits, dass diese Faktoren sich nicht zu einer systemischen Krise zusammenbrauen konnten oder sich in scharfen politischen Konflikten, etwa Generalstreiks, Revolten separatistischen Tendenzen (abgesehen vom Sonderfall Tschetschenien) oder Putschversuchen entluden. In der zurückliegenden Periode müssen demnach gesellschaftliche Kräfte und normative Übereinkünfte am Werk gewesen sein, die stärker als jene Krisen und Konflikte den Zusammenhalt der Föderation bewirkten und ihre wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Umgestaltung akzeptierten und allmählich vorantrieben.

Denn augenscheinlich haben die im Umgestaltungsprozess entstandenen Institutionen der postsowjetischen Ordnung die schweren Krisen ausgehalten. Und als Ergebnis der marktwirtschaftlichen Reformen hat sich die russische Gesellschaft nicht nur in die beiden Extreme geteilt, nämlich in eine oligarchische Kaste immens Begüterter und in die verelendete Mehrheit der Bevölkerung, so das herkömmliche Bild in den Medien. In diesem rasanten gesellschaftlichen Differenzierungsprozess, der zudem noch durch geographische und ethnische Faktoren verschärft wurde, hat sich auch außergewöhnlich schnell (spätestens ab 1997) als stabilisierendes Element eine relativ starke Mittelklasse ausgeprägt. Etwa 35 Prozent der Bevölkerung zählten sich subjektiv vor 1998 dazu; nach der Finanzkrise ging die Zahl drastisch auf ca. 15 Prozent zurück und liegt heute etwa wieder beim Ausgangswert von 33 Prozent. In ihrer Zusammensetzung, im Status und in normativen Fragen reflektiert diese neue Mittelklasse sowohl die spezifischen Milieubedingungen ihrer eigenen Konstitution als auch charakteristische russische Traditionen, Werte

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und Verhaltensweisen. Die soziale Frage ist ihr kein brennendes Anliegen, sie gibt sich patriotisch und befürwortet eine law and order Politik. Sie zeigt wenig Verständnis für ideologische Auseinandersetzungen und lehnt eigenes Engagement in politischen Organisationen und Parteien ab. Sie definiert politische Konflikte als ihren Interessen abträglich und kann sich allenfalls für berechenbare und allmähliche Veränderungen des politischen Status quo erwärmen.

Diese Mittelklasse hat die beiden letzten Wahlen nachdrücklich mitentschieden und bildet die gesellschaftliche wie politische Basis einer auf Rechtsstaatlichkeit, staatliche Effektivität, Bewahrung der inneren Sicherheit und Integrität des Landes, Patriotismus, politische Stabilität und internationale Anerkennung abzielenden neuen politischen Ordnung. Kurzum, sie hat Wladimir Putin zum Präsidenten gewählt und zuvor die ihm nahe stehende politische Bewegung Edinstwo/Einheit aus dem Stand, allerdings unter Einsatz unlauterer Praktiken, zur zweitstärksten politischen Kraft aufsteigen lassen.

Unwiderruflich gehört die erratische und subjektiv gefärbte Politik des Präsidenten Jelzin, der die zurückliegende Transformationsperiode so eindrucksvoll kolorierte, der Vergangenheit an. An die Stelle der Ungewissheit, der politischen Instabilität, der Orientierungslosigkeit und der oftmals berechtigten Frage, wer eigentlich die Richtung der Politik bestimme, ist die Gewissheit getreten, dass sich nun im Land eine feste Führung etabliert habe, die berechenbar sei und auf die man sich für eine längere Periode einlassen müsse. Anstrengungen zur Stärkung und Festigung staatlicher Autorität sind augenfällig. Allerdings sind Zukunftsentwürfe und politische Ziele von Regierung und Präsident, wohin sich denn das Land entwickeln, ob es den demokratischen Weg weiter beschreiten und letztlich, welche Rolle Russland in Europa und in der internationalen Politik spielen soll, nicht definiert. Auffallend ist auch, dass der wirtschaftliche Reformprozess von der staatlichen Umgestaltung völlig getrennt ist. Bestand und Ausbau der Marktwirtschaft werden nicht berührt.

Angesichts mannigfaltiger Indizien und nicht zuletzt auch ausgelöst durch die Entscheidung, die alte Sowjethymne mit neuem Text wieder einzuführen, fragen sich kritische Intellektuelle und demokratische Politiker, ob die Reise „Vorwärts in die Vergangenheit, oder Zurück in die Zukunft„ geht. Ohne Frage, das innenpolitische Klima hat sich verschärft. Die anfängliche Offenheit in der Politik ist einem restaurativen Konservatismus gewichen, der autoritäre Züge trägt und sich selbstbewusst, kühl-patriotisch und entbunden von internationalen Rücksichtnahmen geriert. Die Instrumentalisierung der Medien für politische Ziele, die im Vorfeld der Duma- und Präsidentschaftswahlen bereits groteske Züge annahm und teil-

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weise an totalitäre Praktiken der 30er Jahre erinnerte, geht weiter. Die Medien haben ihre Funktion als kritische Instanz in der Gesellschaft weitgehend eingebüßt.

Der Umbau der staatlichen Ordnung wird mit Nachdruck betrieben. Der Widerstand der regionalen Elite ist gebrochen. Die Mehrheit der Parlamentarier von der Kommunistischen Partei bis hin zu den monetaristischen Konservativen um Kirienko, Nemzow et al. - einschließlich der Liberalen in Jabloko - entpuppen sich als Zentralisten. Angesichts der Härte, mit der die neue Führung den Krieg in Tschetschenien betrieb und noch betreibt und wie sie gegen politische Gegner im Wahlkampf vorging, mehren sich Sorgen, ob die demokratische Entwicklung nicht auf der Strecke bleiben wird.

Das Ziel, Russland in einen Zentralstaat zurückzuverwandeln, das föderale Element auf ein Minimum zu reduzieren, wird immer deutlicher. Nach der ersten Runde des staatlichen Umbaus, die mit der politischen Entmachtung der Gouverneure endete und in der die Unabhängigkeit des Föderationsrates beschnitten wurde, wird nun die gesamte politische Stoßrichtung des Kreml gegen die Regionen voll erkennbar. Das kurze politische und historisch einmalige Experiment in der russischen Geschichte, nämlich die freie Wahl der Gouverneure (seit Herbst 1996), soll beendet werden. Stellt man die zentralistischen Tendenzen in den Kontext der Überlegungen zur Reform des Wahl- und Parteiengesetzes, wobei es durchaus sinnvoll wäre, die qualitativen Anforderungen an die Parteien zu erhöhen, dann wird sich bis zu den nächsten Dumawahlen ein politisch gänzlich verändertes Russland formen.

Zweifellos wird die Entwicklung eines zentralstaatlichen Kolosses, der am anderen Rande Europas einen anderen Entwicklungspfad beschreitet, nicht ohne Wirkungen auf die Beziehungen der Europäischen Union zu Russland bleiben. Ein zentralstaatlicher Sonderweg Russlands in Europa würde die Beziehung zur Europäischen Union belasten. Er wäre der europäischen Integrationslogik diametral gegenläufig, beruht diese doch letztlich auf den Postulaten der Subsidiarität und Regionalität sowie der dezentralen Mitgestaltung und Kontrolle.

Westliche Hoffnungen, dass die Demokratisierung der russischen Gesellschaft gelingen werde, basierten weniger auf der Funktionsfähigkeit von Institutionen einer mehr formalen Demokratie als auf Erwartungen, dass sich mittels der Regionalisierung pluralistische, dezentrale Institute einer Bürgergesellschaft entwickeln würden. Denn das wirklich politisch qualitativ Neue im postsowjetischen Russland war doch die Entwicklung des föderalen Gedankens, der sich ab 1996 institutionell zu festigen und zu verankern schien. Mit der Föderalisierung Russlands entstanden erstmals Ansatzpunkte dezentraler wirt-

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schaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Kontaktaufnahme, entwickelten sich regionale, kommunale und Städtepartnerschaften, konnten Konzeptionen der grenzüberschreitenden regionalen Zusammenarbeit (Nordische Dimension, Baltische Brücke, Ostseerat etc.) anvisiert werden. Nach 70 Jahren bolschewistischen Zentralstaates begann man in der europäischen Politik (selbst bei eingefleischten Etatisten) das föderale Russland allmählich als vielschichtige, komplexe, differenzierte und politisch-pluralistische Einheit zu sehen. Damit wurde die immense geographische Größe des Landes handhabbarer, und das Land konnte leichter an die europäische Integration herangeführt werden. Die Angst vor dem Koloss wich einer mehr differenzierten Betrachtungsweise. Die Auswirkungen der innenpolitischen Restrukturierung auf die Außenbeziehungen scheinen kaum bedacht worden zu sein.

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Konsolidierung des Staates und die Begrenzung partikularer Interessen

Nun ist die Begradigung von Fehlentwicklungen aus den wilden Konstitutionsjahren des postsowjetischen Russlands angesagt, nämlich die Abgrenzung von Kompetenzen staatlicher Organe, aber auch die Neuausrichtung gesamter Politikbereich, die vorher unbearbeitet blieben. Der Aufbau eines kompetenten Staates, die technologische Modernisierung der Industrie und Infrastruktur, die Förderung des eigenen Innovationspotentials durch Verbesserung von Bildung und Ausbildung, die Schaffung sozialstaatlicher Regelungen zum Schutz der Beschäftigten sowie das schrittweise Heranführen Russlands an die Europäische Union sind Herausforderungen der Zukunft, die eine berechenbare, pragmatische und auf Ausgleich mit westlichen Ländern, besonders mit der Europäischen Union, abzielende Politik erfordern.

Allein für die Modernisierung der Infrastruktur im Energiebereich (Kraft- und Heizungswerke, Wasserleitungen etc.), - bereits heute ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht, und ab 2003 werden schwere Zusammenbrüche prognostiziert, - müssten hohe Milliardenbeträge aufgebracht werden. Ähnlich sieht es in anderen Sektoren der morschen Infrastruktur aus, im Bildungswesen, bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung oder im Transportwesen. Das russische Verkehrswesen, hauptsächlich die Eisenbahn, ist hoffnungslos veraltet und selbst bei einer moderaten Zunahme des Güterverkehrs reichten ab 2005 die vorhandenen E- und Diesellokomotiven nicht mehr aus, den Transport über die Schiene zu bewerkstelligen. Die Erdöl- und Gasindustrie braucht um die 100 Mrd. US Dollar an Investitionen zur Modernisierung der

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Pipelines. Die russische Luftfahrt muss in den nächsten Jahren mehrere tausend Flugzeuge ihrer nahezu 30 Jahre alten Luftflotte ersetzen. Der Umbau und die waffentechnologische Modernisierung der russischen Streitkräfte werden Milliarden kosten. Addiert man all diese Faktoren und Kosten, so ist es höchst unwahrscheinlich, dass Russland über die Mittel verfügen wird, die anstehende Modernisierung aus eigener Kraft zu bewerkstelligen. Selbst wenn es gelingen sollte, sowohl der Kapitalflucht Einhalt zu gebieten als auch durch eine Reform des Bankwesens das Vertrauen der Sparer wieder zu gewinnen, wird das Land auf Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten angewiesen sein. Dieser Zusammenhang wird eine bestimmende Determinante der russischen West- und Europapolitik bleiben.

Ob diese Anforderungen eingelöst werden können, wird nicht allein von Russland abhängen. Zwischen vollmundigen Strategieerklärungen der Europäer und unschlüssigen Einschätzungen auf amerikanischer Seite, dass auch eine Welt vorstellbar sei, in der Russland keine Rolle mehr spiele, manifestiert sich die westliche Ratlosigkeit, wie man mit diesem Land umgehen soll. Westliches Zaudern wurde bereits einmal, Anfang der 90er Jahre, zu einem Faktor politischer Frustration und anti-westlicher Sentiments unter russischen Intellektuellen. Illusionen auf eine schnelle Aufnahme des Landes in die westliche Gemeinschaft wurden damals arg enttäuscht. An Stelle dessen sah man sich mit Ausgrenzungsstrategien (Osterweiterung der Nato) ab 1994 konfrontiert.

Aber anders als damals kann die russische Politik heute auf Grundlagen zurückgreifen, die in der Transformationsperiode geschaffen wurden, nämlich

  • auf eine recht robuste und gesellschaftlich akzeptierte politische Ordnung, die ein geringes Maß an Legitimationserfordernissen zu benötigen scheint. Sie hat zwar wenig mit westeuropäischen Demokratien gemein, umreißt aber für die Russländische Föderation den Ordnungsrahmen, innerhalb dessen sich die weitere Entwicklung vollziehen wird,

  • auf die nahezu abgeschlossene Privatisierung und tendenziell erfolgreiche marktwirtschaftliche Umgestaltung der Wirtschaft sowie deren sektorale Integration in den Weltmarkt,

  • auf eine differenzierte Gesellschaft, die Produkt der wirtschaftlichen Umgestaltung ist und beginnt, sich in Verbänden, Parteien und Interessengruppen zu formieren, also jene entscheidenden Vermittlungsinstanzen zu erzeugen, die gesellschaftliche Interessen artikulieren,

  • auf entideologisierte, aber gesellschaftlichen wie sozialen Belangen gegenüber extrem indifferente Herrschaftseliten in Wirtschaft, Administration und in der Politik, die längst die sow-

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    jetische Haut abgestreift haben und auf Erfahrungen eines nahezu zehnjährigen brutalen Überlebenskampfes unter den chaotischen Bedingungen der Transformation zurückblicken können,

  • auf die erstaunliche Fähigkeit dieser Herrschaftselite, auf Veränderungen in den Machtorganen zu reagieren und sich jeweils erneut als Machtelite umzugruppieren und neu zu konstituieren,

  • auf einen robusten Herrschaftskonsens unter den funktionalen Teileliten, der die wohl wesentliche Voraussetzung für die relativ konfliktarme und rasche Transformation des Landes war. Dieser Konsens ist auch deswegen so ausgeprägt, weil die funktionalen Teileliten aus der vormaligen Komsomolzenbewegung hervorgingen.

Diesem Konsens zur Machterhaltung der „administrativen und politischen Teileliten„ entsprechen in der russischen Gesellschaft konservative, am Status quo ausgerichtete Grundströmungen, nämlich der Wunsch nach Ordnung, die Sehnsucht nach sozialer Stabilität und die instinktive Abwehr von extremen Positionen und Neuerungen. Es scheint, dass sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung trotz wirtschaftlicher Not und sozialer Misere mit dem Bestehenden arrangiert hat. Sie befürwortet weder ein Zu-rück in die repressive, aber soziale Geborgenheit des alten Systems, noch unterstützt sie autoritäre Lösungen für die Zukunft.

Nun erfolgt die Feinabstimmung der geschaffenen Institutionen und partiell auch die Restauration der vormaligen, aber im Kontext der neuen Bedingungen. Obwohl in der zurückliegenden einjährigen ersten Phase der Amtszeit Putins, übereinstimmend mit der Jelzin Ära, der Akzent auf die Innen- und Wirtschaftspolitik lag, sind auch Weichenstellungen und Kursberichtigungen in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik wahrnehmbar.

Die Aktionsfelder der russischen Politik seit März 2000 sind relativ klar erkennbar:

  • Neuordnung des Staatsaufbaus und Stärkung des Zentralstaates

    • Begrenzung des Einflusses von oligarchischen Interessengruppen und Ausschaltung der regionalen Machtelite aus der nationalen Politik

    • Konstitution einer breiteren gesellschaftlichen Basis zur Stärkung und Legitimation politischer Macht

    • Neugestaltung des Parteiensystems, Modifikation des Wahlrechtes und Schwächung der parlamentarischen Opposition

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  • Modernisierung und Kräftigung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der russischen Wirtschaft

  • Anerkennung als Russlands als Großmacht und Sicherung sowie Durchsetzung nationaler Interessen in der internationalen Politik

  • Überwindung der tendenziellen Selbstisolation Russlands in Europa durch Wiederaufnahme des Dialoges um europäische Sicherheit.

Im Unterschied zur gesamten Jelzin-Ära sind die Umfeldbedingungen für eine zielgerichtete Reformpolitik so günstig wie nie zuvor. Es gibt kaum eine nennenswerte Opposition und parlamentarischen Widerstand gegen die von der Regierung eingebrachten Gesetzentwürfe. Die Duma wie der Föderationsrat sind in die Machtvertikale eingegliedert und die regionale Elite ist aus der nationalen Politik verbannt worden. Die Macht der oligarchischen Gruppen ist gebrochen. Abgesehen vom unlösbaren, aber nicht systembedrohenden Konflikt in Tschetschenien und der schleichenden Destabilisierung Zentralasiens hat die Regierung und der Präsident nach Eindämmung des Balkankonfliktes auch in der Außen- und Sicherheitspolitik ausreichend Handlungsspielraum, der genutzt werden könnte. Dass dennoch die russische Politik auf der Stelle zu treten scheint und sich schwer tut, mit Zukunftskonzeptionen aufzuwarten, scheint daher an anderen Faktoren zu liegen. Wir meinen, dass die Konstitution der eigentlichen Herrschaftselite noch nicht abgeschlossen ist, dass, abgesehen vom zügig durchgezogenen staatlichen Restrukturierungsprojekt, innere Konflikte die Politik eher in einen seitlichen Krebsgang zwingen, als dass die eingangs genannten Herausforderungen der wirtschaftlichen, technologischen, infrastrukturellen und sozialen Reform in Angriff genommen werden.

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Umgruppierung der Machtelite

Ein Charakterzug zeichnet die russische Politik speziell aus: Sie ist nicht nachtragend, sondern gewohnt, die Grenzen des politisch Opportunen auszuschöpfen. Weil Duma- und Präsidentschaftswahlen eindeutige Mehrheitsverhältnisse erbrachten, begannen unverzüglich Absprachen zwischen den verfeindeten Lagern. Die Differenzen zwischen den beiden Nomenklaturagruppen von Edinstwo und „Otetschestwo-Wsaja Rossia„ wurden sekundär.

Für die politischen Parteien und Bewegungen in Russland zählt nur eines: die Teilnahme an der Macht zu sichern. Der Kampf ums politische Überleben zwingt zu Zugeständnissen und Loyalitätsbekundungen. Da normative

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Grundüberzeugungen in der russischen Politik - bis auf die Kommunisten und Neoliberalen - kaum oder nur schwach ausgeprägt sind, fallen beim Machtwechsel auch Loyalitätsopfer leichter. Rasche politische Wenden sind nicht ehrenrührig, sondern Indiz für realpolitische Einsichten.

Loyalität wird honoriert, und im weiten Geäst des postsowjetischen Herrschaftsbaumes finden sich genügend Positionen, mit denen ehemalige Gegner bedacht werden können. Die Liberalen, insbesondere ihre Leitfigur, der junge frühere Premierminister Sergej Kirienko, überschlugen sich nahezu im Eifer, auf den rollenden Zug des Präsidenten Putin aufzuspringen. Kirienko wurde, wie zu erwarten, belohnt und zum Generalgouverneur für den inter-regionalen Verwaltungsraum Wolga ernannt. Die übrigen „Generalgouvernements„ wurden mit Vertrauten des Präsidenten aus dem Bereich der inneren Sicherheit oder mit Militärs besetzt.

Die Konstitution einer neuen Machtelite geht also einher mit Umgruppierungen der bestehenden politischen Kräfte und ist als Prozess keineswegs abgeschlossen. Die neue Machtelite ist heterogen und von scharfen Konfliktlinien durchzogen. Sie setzt sich in erster Linie aus drei Gruppierungen zusammen:

  • aus Mitgliedern der „Familie„, die den Aufstieg Putins orchestrierten und in der Kremladministration, in der Regierung und Wirtschaft (Finanzsektor) noch über erheblichen Einfluss verfügen. Zu nennen sind: die Banker Alexander Mamut und Roman Abramowitsch (jüngst zum Gouverneur von Tschukotka gewählt), der Aluminium- Magnat Oleg Deripaska, der Minister für das Eisenbahnwesen Nikolaj Aksyonenko und wahrscheinlich auch der Chef des Präsidialamtes Alexander Woloschin und Premierminister Mikhail Kasyaniow. Als Regierungsmitglieder zählen zu dieser Gruppe der Innenminister Wladimir Ruschajlo, der Presse- und Informationsminister Michail Lessin sowie der Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow und der Vorsitzende des Rentenfonds Michail Surabow.

  • aus Kräften der inneren Sicherheit, aus Militärs, aus Wirtschaftsgruppen des Energiesektors und vor allem aber aus Vertrauten Putins, die mit ihm früher in St. Petersburg zusammen gearbeitet haben, und

  • aus einer Gruppe von liberalen Wirtschaftstheoretikern, die bereits in der Jelzin-Ära maßgeblich die Wirtschaftspolitik konzeptionell dominierten und mit Anatolij Tschubais verbunden sind.

Die Wirtschaftsführer großer Konzerne von Gasprom, Lukoil, Yukos, Uralmash, Avtowas, der Alpha Bank oder der MIG Gruppe gehören nicht zur politischen Machtelite im engerem Sinn. Im Gegensatz etwa zu den Imperien von Gussinskij und Beresowskij haben die Führer dieser Konzerne auch in der zurückliegenden

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Periode eher versucht, ihre Geschäftsbeziehungen zum Staat zu verrechtlichen und zu institutionalisieren. Sie wurden selbst nicht wie die genannten Oligarchen zu Akteuren der russischen Politik. Der Energie- und Brennstoffbereich hat aber traditionell wichtige Schaltstellen in der Regierung, seien es Minister oder Sonderbeauftragte für spezifische Regionen und Aufgaben (Kaspisches Meer), immer mit eigenen Leuten besetzten können. Über diese Schiene, und vor allem weil der Energiebereich einen Großteil der staatlichen Einnahmen erwirtschaftet, ergibt sich eine starke Kongruenz der Interessen.

Auffällig ist, dass die regionale Elite, die in den zurückliegenden zehn Jahren die nationale Politik entscheidend mitbestimmte, innerhalb eines halben Jahres aus dem engeren Zirkel der Macht hinausgedrängt wurde. Wie viele Gouverneurswahlen im Jahre 2000 aber belegten, haben sie ihre Machtstellung in den Regionen im großen und ganzen erhalten können. Gegenkandidaten, auch wenn sie vom Kreml und von Edinstwo unterstützt wurden, hatten es schwer, sich gegen Amtsinhaber durchzusetzen. In vielen Regionen war das Zusammenspiel zwischen den regionalen Wirtschaftseliten und den regionalen Machtorganen wesentlich entscheidender für den Wahlausgang als die Intervention nationaler Politikinstanzen.

Der Wechsel in der Machtelite vollzieht sich geräuschlos, sieht man einmal davon ab, wie einige Politoligarchen von der politischen Bühne abtraten. Wie einflussreich die verbliebenen Kräfte der „Familie„ noch sind, ist schwer zu sagen. Einfacher können ihre Interessen definiert werden: sie wollen nachträgliche Ermittlungen und Bestrafungen von insider-Geschäften oder die Beschlagnahme illegal erworbenen Eigentums ebenso verhindern wie sie an der Restrukturierung, Zerschlagung und zukünftigen Privatisierung der natürlichen Monopole (Gasprom und UES) beteiligt sein wollen.

Trotz des eher indirekten Einflusses, der über sehr spezifisch finanzpolitische, binnen- und außenwirtschaftliche Interessen geleitet wird, sind Interessengruppen aus den internationalisierten Wirtschaftssektoren ein gewichtiger Faktor bei der Konstitution der neuen Machtelite. Mit diesen Gruppen könnte ein anderes politisches Paradigma Einzug in die russische Politik halten, nämlich das der Berechenbarkeit, des Pragmatismus und der politischen Verantwortung für wirtschaftliches und soziales Handeln. Denn diese Gruppen sind internationalen Bedingungen des Wettbewerbs ausgesetzt, der ihnen normative Einstellungen abverlangt und externe Rahmenbedingungen setzt, die sie für die Realisierung ihrer Ziele beachten müssen. Diese Gruppen werden so zwangsläufig zu Mittlern und vielleicht auch Trägern einer Modernisierung, die selbst unter politisch restaurativen Bedingungen die Ablösung der russischen Politik von extern gesetzten Realitäten verhindern könnte.

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Diese Gruppen dürften ein erhebliches Interesse an rechtstaatlicher Konfliktregulierung und innen- wie außenpolitischer Stabilität haben, an einem Staat also, der etwa die Sicherheit der Transportwege gewährleistet (essentiell für die Energie- und Rohstoffsektoren), der für die unentbehrliche Infrastruktur sorgt, der industrielle Strukturanpassungen sozial abfedert, der für die Ausbildung und Qualifizierung von Menschen Sorge trägt und zudem die außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für einen störungsfreien Handel und Kapitalverkehr garantiert. Mit anderen Worten, diese Gruppen können weder ein Interesse an der Selbstisolation des Landes, noch an einer ostwestlichen Schaukelpolitik, gar an einem konfrontativen, außenpolitischen Kurs haben.

Es hat sich also eine temporäre, fragile und heterogen zusammengesetzte Machtelite konstituiert, die in sich widersprüchliche Ziele verfolgt. Modernität, Effektivität, Pragmatismus, Öffnung und Internationalisierung stehen neben Forderungen nach einer zentralistisch geführten, stärker abgeschotteten, gar geschlossenen Gesellschaft. Welche Gruppen sich durchsetzen werden, oder ob es gelingen wird, die widersprüchlichen Interessen zu vereinen, wird die entscheidende Frage für die Zukunft sein. Gelingt der Aufbau einer kohärenten Machtelite nicht, so könnte eine Entwicklung ähnlich der Jelzin-Ära einsetzen, als die damalige Allianz der Oligarchen an ihren widersprüchlichen Interessen zerbrach.

Als dominante Fraktion in dieser Machtstruktur scheinen sich mehr und mehr Kräfte aus den Bereichen der inneren Sicherheit herauszuschälen. Belege für diese Annahme sind sowohl die Besetzung von Schlüsselpositionen im Staatsapparat und in den regionalen Gliederungen mit Angehörigen aus den Sicherheitsdiensten, aber auch die sichtbare politische Aufwertung des Nationalen Sicherheitsrates und seines derzeitigen Leiters Sergej Ivanow. Der Nationale Sicherheitsrat scheint zum Entscheidungsgremium und zur Schnittstelle geworden zu sein, in der konzeptionelle Fragen der inneren und äußeren Sicherheit sowie zur Außen- und Außenwirtschaftspolitik koordiniert werden.

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Kurswechsel in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik?

Wie dargestellt, sind im Laufe der Transformation tragfähige und akzeptierte politische Institutionen entstanden, womit mehr Berechenbarkeit in die Politik Eingang gefunden hat. Auch wirtschaftliche Umbau ist vorangekommen, und die Wirtschaft hat sich aus der tiefen Depression der 90er Jahre lösen können. Daraus kann man auch den Schluss ziehen, dass sich erst im neuen

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Millennium eine eigenständige russische Außenpolitik konstituiert, die stärker gesellschaftliche Interessen zum Ausdruck bringt.

War die Außenpolitik seit Beginn der Reformen von einer relativ homogenen Elite dominiert, die bis auf wenige Ausnahmen Normen und Vorstellungen verpflichtet war, die noch der imperialen Sowjetzeit entsprangen, so hat die Transformation andere Gruppen und damit andere Ziele hervorgebracht. Damit wird der langjährige Richtungsstreit zwischen Westlern, Eurasiern und Isolationisten zwar nicht beigelegt, verliert aber an Schärfe. Die ideologisierte Intelligenz wird weiter dem Konzept der Multipolarität das Wort reden, und die Außenpolitik wird weiter „Strategische Partnerschaften„ suchen, aber die Gefahr einer Schaukelpolitik wie sie im Primakowschen Konzept der euroasiatischen, geostrategischen Option tendenziell angelegt war, scheint gebannt. Von der russischen Politik kann jedoch weder eine erhöhte Konflikt- oder Risikoorientierung erwartet, noch aus der weitläufigen Reisediplomatie Putins, die Belebung euroasiatischer Illusionen gefolgert werden. Denn die sozialen und wirtschaftlichen Reformaufgaben, die es innenpolitisch zu bewältigen gilt, erlauben es nicht, sich in außenpolitische Abenteuer zu verstricken. Analog den 70er Jahren, als Koexistenz sich mit innenpolitischer Repression paarte, wird der politische Kurs unter Putin „nach außen weich und nach innen hart„ sein.

Am Ende der Transformation hat sich zudem eine pragmatische Machtelite konstituiert und hat sich nach den bitteren Erfahrungen auf dem Balkan und mit der Nato-Osterweiterungsproblematik die Erkenntnis durchgesetzt, dass, um als Großmacht anerkannt zu werden, mehr dazu gehört als der nukleare Status. Diese Einsicht wird denn auch in zwei grundlegenden Dokumenten zur Außen- und Sicherheitspolitik des Landes unterstrichen, nämlich im „Konzept der Nationalen Sicherheit der Russischen Föderation„ und in der „Militärdoktrin der Russischen Föderation„. Beide Doktrinen gehen von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus und definieren innenpolitische Prioritäten, nämlich die Stärkung des Rechtsstaates und staatliche Autorität sowie die fortschreitende demokratische und marktwirtschaftliche Umgestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft, als unabdingbare Voraussetzung für das Ziel, innere und äußere Gefährdungen abzuwenden und Russland einen gebührenden Platz unter den Großmächten zu verschaffen.

Ohne wirtschaftliche Stärke, internationale Konkurrenzfähigkeit, Bereitschaft zur Kooperation und relative Unabhängigkeit vom Diktat des Weltmarktes sowie innenpolitische Stabilität und Souveränität zur Gestaltung eigener Politik- und Problembereiche ist eine von eigenen Interessen geleitete Außenpolitik in Europa nicht mehr zu machen. Die alten diplomatischen Machtspiele und Finessen zählen nur noch bedingt. Und das Aussitzen

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wie das Aufschieben von Problemen erzwingen nicht deren Lösung oder anderen Konfliktpartnern die eigenen Vorstellungen auf, sondern erzeugen in erster Linie steigenden Problemdruck, der durch die globalisierten Medien beliebig manipuliert, d.h. verschärft werden kann. Damit wird das Gegenteil bisheriger Politikprämissen, wie die russische Politik auf dem Balkan leidvoll hat erfahren müssen, bewirkt. Der Westen wurde in seiner Handlungsfähigkeit politisch nicht immobilisiert, sondern im Gegenteil zur Aktion, auch ohne das russische Plazet, getrieben.

Mit Tendenzen der innenpolitischen Stabilisierung und, weitaus wichtiger, der sozialen Differenzierung und des Aufkommens starker partikularer wirtschaftlicher Interessengruppen wird zunehmend der Rahmen vorgezeichnet, in dem sich die russische Außenpolitik bewegen wird. Jenseits machtpolitischer Faktoren, scheint sich als Tendenz die Ökonomisierung der russischen Außenpolitik abzuzeichnen.

Rückblickend können grosso modo drei Phasen im Formierungsprozess der russischen Außenpolitik seit 1991 unterschieden werden. Für alle drei Phasen gelten die Besonderheiten der Übergangsperiode, nämlich dass starke Verbindungen zwischen der außen- und der innen-, aber insbesondere der wirtschaftspolitischen Entwicklung bestehen. Diese Phasen haben Grundhaltungen in der russischen Außenorientierung geschaffen, die zum Verständnis der jetzigen Politik in der Präsidentschaft Putins herangezogen werden müssen.

- Die Phase der Westorientierung von 1991 bis 1993/95 war noch von den Anschubkräften des Gorbatschowschen Reformkurses und weiterwirkenden Denkmustern der Bipolarität getragen. Trotz Auflösung der UdSSR und des wirtschaftlichen wie politischen Niederganges des postkommunistischen Raumes verkörperte das neue Russland, nunmehr virtuell, die vormalige Macht der Sowjetunion. Diese Fiktion wurde zum normativen Kristallisationskern der sich umgruppierenden außen- und sicherheitspolitischen Eliten in der postsowjetischen Zeit. Jedoch im Unterschied zu anderen sozialen Formationen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung (besonders auf der regionalen Ebene), die dem rasanten Umbau des alten Systems ausgesetzt waren, blieb die Zusammensetzung der außen- und sicherheitspolitischen Elite ziemlich unversehrt. Sie schrumpfte und verjüngte sich, litt aber unter Phantomschmerzen ob des untergegangenen Imperiums. Weniger als die übrigen Herrschaftsgruppen war sie bereit oder gefordert, sich den neuen Gegebenheiten zu stellen und konzeptionelle Prämissen zu überdenken. Obgleich privilegiert und internationalisiert wie keine andere Gruppe unter den übrigen Funktionseliten, blieb der Hunger nach „greatness, majesty, grandeur„ und der Rückfall in die fatale Falle der Selbstisolation, des Wagenburg - Denkens. Einige wenige, die versuchten daraus

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auszubrechen, wurden gejagt und scheiterten letztlich, wie der frühere Außenminister Kosyrew.

Eine vorsichtige Revision der Westorientierung beginnt noch unter Kosyrew im Sommer 1993. Fragen der nationalen Selbstbehauptung sowie die Stabilisierung des post-sowjetischen Raumes erhalten mehr Gewicht. Trotz Kurskorrektur verschärft sich die Kritik im Kontext der ab 1994 einsetzenden Debatte über die Nato-Osterweiterung. Insbesondere wird gerügt, dass der „Marktromantizismus und romantische Vorstellungen„ in der Außenpolitik die geopolitischen Interessen des Landes gravierend beschädigt und dazu geführt haben, dass Russland seine Eigenständigkeit als Akteur im internationalen System einbüßte.

- Als zweite Phase zeichnete sich eine balancierte und geopolitisch diversifizierte „Realpolitik„ nach den Wahlen zur zweiten Staatsduma und dem Machtwechsel im russischen Außenministerium 1996 ab. Sie dauert in Grundzügen bis heute an, obwohl derzeit eine neue Gewichtung der Ziele zu erkennen ist. Der Kurs des damaligen Außenministers Primakow setzte auf „Diversifizierung„ und auf eine realistische Reorientierung der russischen Außenpolitik entsprechend den geopolitischen Gegebenheiten des Landes, um die einseitige Ausrichtung auf den Westen abzuschwächen.

Die Konsolidierung des außenpolitischen Apparates war eine wesentliche Voraussetzung, um zu einer konzeptionell klareren russischen Außenpolitik zu kommen. Der Wildwuchs an parallelen Institutionen, die zur Konfusion über den Kurs der russischen Außenpolitik beitrugen, wurde gelichtet. Konzeptionell wurden Anstrengungen gemacht, den Platz der Russländischen Föderation im internationalen System neu zu definieren. Es kam nicht zum Bruch, aber zum bedachten Kurswechsel in der Westorientierung.

Paradoxerweise reflektierte die russische Außenpolitik in beiden Phasen den Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik. Mehr noch, sie akzeptierte den Primat der Innenpolitik. Ihr Ziel war, den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Reformkurs durch Kooperationsangebote und Unterstützung der westlichen Politik außenpolitisch abzusichern. Vom Westen erwartete die russische Regierung nicht nur finanzielle und materielle Unterstützung, sondern auch politischen Beistand, damit der Weg geebnet werde, die Russländische Föderation an die westliche Wertegemeinschaft heranzuführen. Eine Alternative gab es sowieso nicht, weil die russische Außenpolitik ohnehin nicht über die institutionellen Instrumente und Ressourcen der Umsetzung eigener Interessen verfügte.

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Die mittelfristige Strategie Russlands gegenüber der Europäischen Union

In der Präsidentschaft Putins scheint ein neues Kapitel in den russisch- europäischen Beziehungen möglich und bahnt sich eine dritte Phase in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik an. Indizien für eine Akzentverschiebung liefern nicht nur die Dokumente über die Sicherheits- und Militärdoktrinen von 2000, sondern vor allem auch die russische Antwort auf die von der EU im Juni 1999 erklärte Strategie gegenüber der Russländischen Föderation. Im russischen Dokument vom Oktober 1999, das sich als mittelfristige Strategie definiert, werden erstmals Anzeichen eines grundsätzlichen Umdenkens in der politischen Einschätzung des europäischen Integrationsprozesses erkennbar.

Das ist umso bemerkenswerter, als der russischen Politik bisher jegliche Vorstellung über die Spezifika des europäischen Integrationsprozesses und der inneren Dynamik von Kooperation, Ausgleich und Konfliktbewältigung zwischen den Mitgliedstaaten fehlten. Für die traditionell machtpolitische Wahrnehmungsweise der russischen Politik war der europäische Integrationsprozess ein sekundärer Vorgang, der lange Zeit ausschließlich als wirtschaftliche Kooperation missverstanden wurde. Ohne eigene Außen-, Sicherheits- oder Verteidigungspolitik erschien ihr die Europäische Union nur als ein Anhängsel oder Instrument amerikanischer Machtpolitik, die durch die Nato in Europa exekutiert wurde. Die EU wurde primär als Handels- und Wirtschaftsmacht ohne Aktionsfelder in der Außen- und Sicherheitspolitik missgedeutet. Konzeptionelle Überbleibsel des bipolaren Blockdenkens und die Fokussierung der russischen Politik auf die USA erklären partiell, warum die politischen, wirtschaftlichen und monetären Folgen der westeuropäischen Integration und damit die Transformation der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, die zunehmend international selbständiger agierte, kaum wahrgenommen wurden.

Die „mittelfristige Strategie„ ist vorläufiger Endpunkt eines lebhaften Diskussionsprozesses über die Beziehungen Russlands zum Westen. Lange Zeit schien es, als ob die russische Westpolitik in hilflos-aggressiver Weise immobilisiert auf die Ablehnung der Nato-Osterweiterung fixiert war. Aber 1999 kamen mehrere Faktoren zusammen, die, vermittelt über wirtschaftliche und soziale Erfordernisse, ein außen- und sicherheitspolitisches Umdenken in Russland begünstigten:

1. Die russische Politik konnte die Osterweiterung der Nato nicht verhindern;

2. Die Finanz- und Budgetkrise vom August 1998 setzte wirtschaftspolitische Akzente, die

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sich stärker auf Instrumente, Methoden und Erfahrungen des europäischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg besannen; amerikanische Konzeptionen verloren an Einfluss;

3. Die finanzindustriellen Gruppen verloren an Bedeutung, und Umgruppierungen in der Machtelite stärkten jene Kräfte, die außenpolitische und außenwirtschaftliche Interessen stärker in Einklang zu bringen suchten;

4. Der Kosovo-Krieg demonstrierte schließlich nicht nur die Grenzen russischer Einflussnahme, sondern enthüllte die potentielle Gefahr der Isolation und Marginalisierung des Landes in Europa.

Wenn die „Gemeinsame Strategie„ der EU vielleicht auch eine Geste war, um der russischen Politik eine Brücke nach Europa zu bauen, so ließen sich die russischen Regierungen unter Sergej Stepaschin und Wladimir Putin darauf ein. Die Offerte der EU konnte auch innenpolitisch genutzt werden, um Tendenzen der Selbstisolation, der ansteigenden Radikalisierung und anti-westlichen Stimmungsmache in den Medien, ausgelöst durch die Militärschläge der Nato gegen Serbien, Einhalt zu gebieten. An einer Isolation des Landes konnten weder die Politik noch die russische Wirtschaft ein Interesse haben. Positive Signale auf die EU-Offerte wirkten so in zwei Richtungen. Zum einen konnten populistische und anti-westliche Strömungen eingedämmt werden. Zum anderen öffnete die russische Europapolitik urplötzlich ein Fenster, um aus der außenpolitischen Sackgasse herauszukommen. Der Europa- Bezug wurde zum selbständigen und an Relevanz stetig zunehmenden Faktor in der russischen Außenpolitik.

In der vom damaligen Premierminister Wladimir Putin im Oktober 1999 vorgestellten „Mittelfristigen Strategie für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russländischen Föderation und der Europäischen Union im Zeitraum von 2000 bis 2010„ wird das Zugehen auf Europa auch damit legitimiert, dass dadurch die Hegemonie der USA via Nato auf Europa eingedämmt werden könnte. Aber im Unterschied zu traditionellen Ansätzen früherer Politik, werden in der mittelfristigen Strategie keine Illusionen genährt, dass Russland mit einer eigenständigen Europapolitik einen Keil in die transatlantischen Beziehungen treiben könnte. Denn für die EU ist unbedingte Loyalität im Rahmen der transatlantischen Beziehungen zu den USA die Voraussetzung für eine flexiblere Politik gegenüber Russland. Jeder Versuch, die EU von den USA abzuspalten, würde sich negativ auf den europäischen Handlungsspielraum auswirken und könnte letztlich zu einer Isolierung Russland in Europa führen.

Die russische Politik scheint diese Prämisse der europäischen Ostpolitik anzuerkennen. Sie hat akzeptiert, dass gegen die Nato kein anhaltender Widerstand ohne Rückwirkungen auf

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die EU formiert werden kann. Abwartende und vorsichtige Mitarbeit im Nato-Russland-Kooperationsrat ist daher angesagt. Die russische Position greift normative Zielsetzungen des EU-Papiers auf. Insbesondere soll die Trennung des Kontinents in unterschiedliche wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Blöcke verhindert werden. Russland will zum sicherheitspolitischen Partner der EU werden, dabei aber seine Eigenständigkeit in Europa und seine Distanz zur Europäischen Union bewahren.

Zwar misst die russische Position den Beziehungen zur EU strategischen Wert bei, gibt sich allerdings nicht der Illusion hin, in naher oder ferner Zukunft die Mitgliedschaft in der EU anstreben zu wollen. Auch einer eventuellen Assoziierung an die EU steht Moskau skeptisch gegenüber. Schließlich sei ja Russland noch eine Großmacht und Großmächte assoziieren sich nicht, sie haben untereinander Vertragsbeziehungen. Sie treten auch keiner Union bei, wie 1998 an anderer Stelle der ehemalige Stellvertreter des Ständigen Vertreters Russlands bei der EU, Iwan Iwanow, unterstrich. Letztlich verbiete die „euroasiatische„ Doppelnatur des Landes eine solche Entwicklung.

Entgegen dieser traditionell machtpolitischen Sichtweise weisen andere, pragmatische Stimmen des russischen Außenministeriums auf die Relevanz der russisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen hin. Mehr als 40% des russischen Außenhandels werden mit der EU abgewickelt. Davon entfallen ca. 45% auf Energielieferungen. 1999 erzielte der russische Außenhandel mit der EU einen Überschuss von 11 Mrd. Euro; im Jahre 2000 waren es bereits 25 Mrd. Euro. Beim jüngsten Moskaubesuch des für außenpolitische Beziehungen zuständigen Kommissars der EU, Chris Patten, betonte dieser das europäische Interesse an einer sicheren und langfristigen Energieversorgung durch Russland.

Die EU ist zum größten Direktinvestor avanciert und hier zählen besonders die Direktinvestitionen in der realen Wirtschaft. Die EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, sind eng mit russischen Energiesektoren verwoben, und die Zusammenarbeit erreichte im Frühsommer 2000 eine neue Qualität durch deutsche Kapitalbeteiligungen bei Gasprom. Im Kontext der fortschreitenden Investitions- und Handelsverflechtungen mit dem europäischen Kapital geraten Statusfragen ebenso in den Hintergrund wie die penetrante Definitionsakrobatik, wo denn Europa ende, ob Russland noch dazu gehöre und ob und wann eine Form der Assoziation an die EU gefunden werde.

Übereinstimmend befürwortet die „mittelfristige Strategie„, einen permanenten und umfassenden politischen Dialog über Sicherheit in Europa zu führen und dafür geeignete Umsetzungsmechanismen zu schaffen. Die Osterweiterung der EU wird von der russischen Seite grundsätzlich begrüßt, spezifische Fragen, wie die

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Behandlung der Exklave Kaliningrad sollen beidseitig gelöst werden. Die seit Helsinki geltende gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit Europas wird erneut bekräftigt. Beide Seiten sollten ihre Position, falls geboten, in internationalen Organisationen abstimmen und ein Höchstmaß an Kooperation zur Krisenprävention und Konfliktminimierung im OSZE-Raum erreichen. Dem Angebot der EU jedoch, eventuelle Missionen im Sinne der Petersberg Erklärung vorab zu koordinieren, kann die russische Seite derzeit nur bedingt etwas abgewinnen.

Die russische Politik reagiert auf Entwicklungen der EU, die außen- und sicherheitspolitische Identität zu stärken, vorsichtig abwartend. Die in der Vergangenheit an den Tag gelegte Führungs- und Entscheidungsschwäche der EU (Balkankonflikt), militärische Missionen im Rahmen der Petersberg Erklärung durchzuführen, ist noch nicht vergessen. Daher rühren die Zweifel am Gelingen des ehrgeizigen Projektes und die Annahme, dass im Konfliktfall, die EU lieber ihr Heil unter den Fittichen der Blockführungsmacht USA suchen wird, als sich mit Russland auf ein gemeinsames Krisenmanagement zu verständigen.

Aber immerhin, zum erstenmal erkennt die russische Politik die EU als globalpolitisch operierenden Akteur mit eigenen Interessen. Neu in der russischen Perzeption ist auch, dass die WEU als integraler Bestandteil der EU gesehen wird, und dass Russland eine operative Zusammenarbeit auf sicherheitspolitischem Gebiet, einschließlich des Krisenmanagements und der Durchführung von Frieden schaffenden Maßnahmen für möglich und wünschenswert hält.

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Die neue Europapolitik als Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Interessen

Der Kurswechsel in der russischen Europapolitik ist durch ein komplexes Zusammenwirken von Faktoren und Ereignissen, die allesamt im Kontext der Finanzkrise vom August 1998 und dem Kosovo-Krieg 1999 angesiedelt sind, ausgelöst worden. Maßgebend war vielleicht auch die Erkenntnis, dass sich Integrations- und Kooperationsprozesse in Europa mit unterschiedlicher Dynamik vollziehen. Egbert Jahn hat auf diese asymmetrische Integrationskonkurrenz zwischen Brüssel und Moskau hingewiesen und zu recht postuliert, dass es keinen gleichwertigen Integrationsansatz im Rahmen der GUS gibt oder auf absehbarer Zeit geben wird, in dem Russland als Motor und Zentrum fungieren könnte. Die Attraktivität und Ausstrahlung des westeuropäischen Integrationsprozesses auf den mittel- und osteuropäischen Raum wird zur extern gesetzten Determinante der russischen Politik. Sie strahlt über

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die potentiellen Beitrittsländer wirtschaftlich und sicherheitspolitisch in den postsowjetischen Raum. Ihre Dynamik birgt jedoch die Gefahr der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Teilung des Kontinents. Chancen für eine „parallele Integration„ (Jahn) sind zur Zeit gering, da Russland aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwäche nicht in der Lage ist, als Kristallisationskern auf östlicher Seite zu wirken. Zudem können die territorialen Zerfallsprozesse im GUS-Raum noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden.

Als Ausweg aus der sich abzeichnenden faktischen, wenn auch politisch nicht gewollten Teilung des Kontinents, kommt nach Jahn allein die Förderung „gesamteuropäischer„ Integration in Betracht, bei „gleichzeitiger Anerkennung der Möglichkeit und Notwendigkeit eines eigenständigen parallelen marktwirtschaftlichen und demokratischen Entwicklungs- und Integrationsraumes zwischen der Europäischen Union und Ostasien. Dies setzt eine Selbstbeschränkung der Osterweiterung der Brüsseler Bündnisse voraus„.

Wenn auch die Forderung nach einer Selbstbeschränkung der EU bei der Osterweiterung kaum einzulösen sein wird, begrenzen die erforderlichen institutionellen und prozeduralen Reformen, die der Aufnahme und Absorption neuer Mitgliedsländer vorausgehen und sie begleiten, faktisch ein weiteres Ausgreifen der Integrationsdynamik. Auf längere Sicht wird es also Staaten zwischen der EU und Russland geben, die von der europäischen Integrationsdynamik zwar angezogen, die aber nicht angeschlossen werden. Schon heute ist bei den mitteleuropäischen Staaten erkennbar, dass sie die Zwischenstufen zur Integration durch vorbereitende Schritte der Konvergenz rechtlicher, administrativer und politischer Regelwerke sowie Normen nutzen. Diese Länder fokussieren ihre Anstrengungen auf Teilnahme am westeuropäischen Integrationsprozess. Eine „parallele„ Integration ist weder politisch noch wirtschaftlich für die mitteleuropäischen Länder vorstellbar. Ein Abrücken von der Option, sich in die EU zu integrieren, würde zu schwerwiegenden innenpolitischen Verwerfungen führen.

Andere Bedingungen finden wir aber in Russland. Dort fehlen einerseits die politischen, wirtschaftlichen und normativen Voraussetzungen für eine baldige Annäherung an den westeuropäischen Integrationsprozess. Andererseits sind die Realisierungschancen für eine „parallele Integration„ im GUS-Raum äußerst schwach. Beide Faktoren erhöhen den Handlungsspielraum für die russische Politik, denn sie steht nicht unter Erfolgszwang und zeitlichen Druck, sich auf den Takt der westeuropäischen Integration einlassen zu müssen. Gleichwohl hat sich die russische Gesellschaft im Lauf der zurückgelegten marktwirtschaftlichen und demokratischen Transformation in eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen mit mehr oder minder ausgeprägten Interessen gespalten, haben sich

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spezifische Normen, Verkehrs- und Lebensweisen auf allen Ebenen der Russländischen Föderation herausgebildet, stehen Institutionen und Bürger durch eine Vielzahl von Netzen und Kontakten mit der europäischen Außenwelt in Verbindung. Die Formierung einer politischen und wirtschaftlichen Machtelite, die der partiellen Integration von Wirtschaftsektoren und Regionen in Weltmarktszusammenhänge Rechnung trägt und sich von isolationistischen und imperialen Orientierungen weitgehend befreit hat, ist im vollen Umfang zu beobachten. Die „mittelfristige Strategie„ ist Ausdruck der realistischen und pragmatischen Politikorientierung dieser Elite.

Diese Wirtschaftsgruppen verfolgen keine spezifischen außenpolitischen Interessen. Für sie ist wichtiger, dass sie sich zur Realisierung oder Absicherung ihrer partikularen Interessen der Außenpolitik partiell bemächtigen können. Evident wurde dieser Zusammenhang am Beispiel der Kaspischen See oder in der Politik zur Ukraine. Auch die russische Westpolitik nach und trotz der Nato-Osterweiterung und der Balkankriege reflektiert diesen Zusammenhang.

Letztlich impliziert diese Tendenz, dass sich wirtschaftliche und politische Interessen ge-genseitig durchdringen. Dies gilt neben den angeführten Wirtschaftsgruppen aus den Brennstoff- und Rohstoffkomplexen auch für einzelne Metropolen (Moskau) und russische Regionen (Karelien, Leningradskij Oblast, Nowgorod, die großen metallurgischen Zentren des Urals und Zentralrusslands, die Wolgaregion etc.). Aufgrund ihrer Grenzlage oder ihrer Wirtschaftsstrukturen (Branchen, die stärker in den Weltmarkt integriert sind) schenken sie der Ausrichtung der russischen Außenpolitik stärker Aufmerksamkeit, da davon ihre wirtschaftlichen Entwicklungschancen (Export und Anwerbung von Investitionen) berührt werden.

Geht der marktwirtschaftliche und gesellschaftspolitische Transformationsprozess in Russland weiter, und verdichten sich aus dem in Gang gesetzten europäisch-russischen Dialog die Felder gemeinsamer Kooperation in der Technologie, Wissenschaft, Wirtschaft, Verkehrsinfrastruktur sowie grenzüberschreitende Beziehungen, so können auch andere Kooperationsfelder, etwa in der Sicherheitspolitik und letztlich auch Fragen der politischen Form der Kooperation davon angestoßen werden.


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