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Großbritannien - ein Erfolgsmodell? : Die Modernisiserung unter Thatcher und New Labour / Hans Kastendiek. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1999. - 24 S. = 80 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


CONTENTS





[Essentials]

  • Großbritannien galt lange als ein Land, das ungern traditionelle Verhaltensweisen und Strukturen aufgibt. Mit dem Thatcherismus und New Labour hat sich das Bild geändert. Großbritannien wird als ein Modell für eine erfolgreiche Modernisierungspolitik diskutiert.

  • Dieses Modell bildete sich als Reaktion auf spezifische Problemkonstellationen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik heraus. Es ließ sich nur durch eine massive Veränderung der gesellschaftlich-politischen Kräfteverhältnisse durchsetzen, und seine Bilanz weist große soziale Kosten auf.

  • Großbritannien hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen dramatischen wirtschaftlichen Positionsverlust erfahren. In den 50er Jahren verfügte es noch über die stärkste Wirtschaftskraft in Europa, fiel dann international aber immer deutlicher zurück.

  • Der "Nachkriegskonsens" war das Ergebnis eines relativ ausgeglichenen Kräfteverhältnisses zwischen den Parteien sowie den Gewerkschaften und Unternehmern. Der Thatcherismus kündigte diesen Konsens explizit auf, obwohl sein Leitbild einer "sozialen Demokratie" zuvor auch von den Konservativen mitgetragen worden war. Die Gewerkschaften verloren, nicht ohne eigenes Verschulden, jeden Einfluß in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und wurden nahezu marginalisiert. Die Labour Party blieb achtzehn Jahre ohne Zugang zu den Schalthebeln der politischen Macht.

  • Die Modernisierung wurde auf dem Rücken großer Teile der Bevölkerung ausgetragen. Die Steuerpolitik bevorzugte höhere Einkommen. Die konservative Politik begünstigte eine "Enttariflichung" der Arbeitsbeziehungen und die Zunahme "gewerkschaftsfreier" Betriebe. Die Sozialleistungen je Empfänger gingen zurück, und der Anteil der Armen an der Bevölkerung hat sich von 1979 bis 1992 von sieben auf 21 Prozent erhöht. Damit folgte Großbritannien eher dem amerikanischen als einem europäischen Kapitalismusmodell.

  • Die langandauernde Dominanz der Konservativen hat Labour schon vor der Wahl von Tony Blair zum Parteivorsitzenden dazu bewogen, viele der von ihnen durchgesetzten Entwicklungen zu akzeptieren. Es bleibt daher abzuwarten, ob New Labour tatsächlich einen eigenen "Dritten Weg" zwischen Markt und Staat, Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Gleichheit findet. Da die Partei bisher an zentralen Strukturentscheidungen der Konservativen festhält, spricht allerdings vieles dafür, daß sich das "Modell Großbritannien" auch künftig von europäischen Modellen unterscheiden wird.

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Modell Großbritannien?

Großbritannien hat immer schon eine große Aufmerksamkeit der deutschen politischen Öffentlichkeit auf sich gezogen. Das Interesse galt keineswegs nur spektakulären Tagesereignissen. Es äußerte es sich vor allem dann, wenn die möglichen Entwicklungsrichtungen der deutschen Politik thematisiert wurden. So richtete sich nach 1945 die Hoffnung großer Teile der SPD und der Gewerkschaften auf die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Labour-Regierung und die Möglichkeit eines "dritten Weges" zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus. In den fünfziger und sechziger Jahren, als noch nicht sicher war, ob sich die westdeutsche Demokratie auf Dauer festigen würde, galt Großbritannien als ein Musterbeispiel für die Stabilität und Effizienz einer parlamentarischen Demokratie. In den siebziger Jahren, als das britische Modell durch die "Englische Krankheit", also durch die wirtschaftliche Wachstumsschwäche, die konflikthaften Arbeitsbeziehungen und die parteipolitische Polarisierung an Attraktivität verloren hatte, setzten die Sozialdemokraten auf das "Modell Deutschland". Als seine Merkmale wurden die wirtschaftliche Exportstärke, die sozialpartnerschaftlichen Arbeitsbeziehungen und eine stabile politische Ordnung hervorgehoben. Einige Jahre später blieb der Thatcherismus zwar nicht ohne Einfluß auf die Politik der "Bonner Wende" und die deutsche politische Öffentlichkeit. Seine gesellschaftspolitischen Ziele und Auswirkungen eigneten sich damals aber nur begrenzt für eine Vorbildfunktion.

Auch die gegenwärtige deutsche Diskussion über New Labour und einen "Dritten Weg" zwischen Staat und Markt erklärt sich nicht allein aus dem generellen Interesse an der britischen Entwicklung. Bereits der Wahlsieg der Labour Party vom 1. Mai 1997 hatte politische Kommentatoren die Frage erörtern lassen, ob er als ein Signal für einen Richtungswechsel der deutschen Politik verstanden werden könne. Sprach nicht vieles dafür, daß Helmut Kohl nach sechzehn Jahren das gleiche Schicksal erleiden werde wie die britischen Konservativen nach ihrer achtzehnjährigen Regierungszeit? Und sprach dann, nach der Bundestagswahl vom Herbst 1998, nicht vieles für eine ähnliche neue Aufbruchstimmung wie sie in Großbritannien nach der langen Phase einer konservativen Dominanz zu beobachten war?

Obwohl sich die Berichterstattung in den Medien häufig an Tony Blair und Gerhard Schröder festmacht, gehen die Diskussionen über New Labour und die Neue Mitte weit über eine Personalisierung hinaus. Deutschland stehe, so eine verbreitete Auffassung, vor Herausforderungen, die in Großbritannien eher, umfassender und entschlossener angenommen worden seien. Tony Blair und New Labour hätten den deutschen Sozialdemokraten nicht zuletzt deshalb einige Schritte auf dem "Dritten Weg" voraus, weil viele der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Reformen, die in Deutschland noch anstünden, in Großbritannien bereits durch die konservativen Vorgängerregierungen angepackt worden seien. Bemerkenswert daran ist, wie die früher oft eher skeptische Einschätzung des Thatcherismus einer eher positiven Bewertung gewichen ist. Großbritannien scheint in der deutschen Wahrnehmung auch deshalb ein Erfolgsmodell zu sein, weil die Blair-Regierung ein Modernisierungskonzept vertritt, das in vielen Punkten an die Politik der vorherigen Regierungen anknüpft. In dieser Situation ist es ratsam, die Entstehungsbedingungen dieses Politikprogramms näher zu untersuchen. Dabei verbietet sich jedoch eine Kurzzeitanalyse. Der Wandel der Labour Party läßt sich ohne die Erfahrung des Thatcherismus nicht verstehen, und da sich dieser explizit als ein Gegenmodell zur britischen Nachkriegentwicklung begründete, muß die Analyse zeitlich sogar noch weiter ausgreifen.

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Der "Nachkriegskonsens" der britischen Gesellschaftspolitik

Großbritannien galt bis in die siebziger Jahre als das Musterbeispiel eines Landes, das durch eine große Kontinuität geprägt ist. Es hatte, anders als z. B. Deutschland, Frankreich und Italien, tiefgreifende Systembrüche vermieden. Viele seiner gesellschaftlichen und politischen Grundstrukturen überdauerten nicht nur den Ersten Weltkrieg, sondern auch die großen Krisen der Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg. Dies wurde keineswegs als Erstarrung und Verkrustung gesehen. Britische und ausländische Kommentatoren waren sich lange darin einig, daß es dem Land in besonderer Weise gelungen war, seine traditionellen Formen der Politik- und Gesellschaftsorganisation an neue Bedingungen anzupassen. Zurückgeführt wurde dies nicht zuletzt auf die Fähigkeit der "politischen Klasse", Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse zu akzeptieren. Dies wiederum mag erklären, warum die Gewerkschaften und die Labour Party trotz ihrer gelegentlich radikalen Rhetorik längst einer reformistischen Orientierung den Vorzug geben.

Das Nachkriegsarrangement der britischen Gesellschaftspolitik ist sicherlich das herausragende Beispiel dieser Konstellation. Der Postwar Consensus war das Ergebnis der innenpolitischen Situation während des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse. Seine Grundlagen wurden durch die Kriegskoalition (1940 - 1945) gelegt. An ihr war nicht allein die parteiübergreifende Zusammensetzung (Conservatives, Labour Party und Liberals) bemerkenswert, sondern ebenso die Einbeziehung von Repräsentanten der Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie die Mitwirkung akademischer Experten. Die Zusammenarbeit aller "nationalen Kräfte" konzentrierte sich zunächst auf die Abwehr der äußeren Gefahr. Bereits seit 1942 kamen dann aber auch die innenpolitischen Planungen für die Nachkriegszeit hinzu. Dabei ging es nicht allein um die anstehende Umstellung der Kriegs- auf eine Friedenswirtschaft, sondern um eine umfassende Planung der künftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Ausschlaggebend dafür waren zunächst die damals noch sehr gegenwärtigen Erfahrungen der sozialen und politischen Umwälzungen in Europa unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Ebenso wichtig war aber auch die Frage, wie sich zukünftig die wirtschaftliche und soziale Not vermeiden ließe, die die Zwischenkriegszeit so tief geprägt hatte. In den Planungen für die Nachkriegszeit verknüpften sich die beschriebenen Krisenerfahrungen mit den insgesamt positiven Erfahrungen der staatlich gelenkten Kriegswirtschaft und der Zusammenarbeit aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen. Das Ergebnis war ein Rahmenkonsens über eine "soziale Demokratie" mit den folgenden Hauptmerkmalen:

  • die Verpflichtung auf eine aktive staatliche Verantwortung für die Steuerung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung auf der Grundlage einer Vollbeschäftigungspolitik;

  • die Schaffung einer mixed economy mit einem Nebeneinander privater und staatlicher Unternehmensformen, das den Regierungen einen direkten Einfluß auf einige Kernsektoren der Wirtschaft und damit auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung geben sollte;

  • den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates, der weit mehr als ein sozialer Reparaturbetrieb sein und Wohlfahrtspolitik als einen einheitlichen Zusammenhang insbesondere von Beschäftigungs-, Sozial-, Gesundheits-, Wohnungs- und Bildungspolitik realisieren sollte;

  • die Anerkennung der wirtschaft- und gesellschaftlichen Mitwirkungsrechte der Gewerkschaften.

Als die Labour Party 1945 die Regierung übernahm, fiel ihr "der neue Konsens wie ein Zweig reifer Pflaumen in den Schoß" (Paul Addison). Sie hatte sich im Wahlkampf am entschiedensten für die zuvor vereinbarten Grundzüge der Nachkriegspolitik ausgesprochen und profilierte sich als Partei des Wohlfahrtsstaats und der mixed economy. Gleichzeitig aber sah sie sich mit großen Schwierigkeiten der Wirtschaftspolitik konfrontiert. Der Krieg hatte die Leistungsfähigkeit der britischen Ökonomie völlig überfordert. Auch nach 1945 konnte das Land seine internationale Zahlungsfähigkeit nur mit Hilfe amerikanischer Kredite sicherstellen. Hinzu kam, daß es mit seiner traditionell sehr engen weltwirtschaftlichen Verflechtung unter dem Zusammenbruch des Welthandels litt. Die daraus resultierenden Versorgungsengpässe standen immer wieder einer wirtschaftlichen Erholung im Wege. Damit dienten die wirtschaftsplanerischen Komponenten des Nachkriegskonsenses eher der Verwaltung einer Mangelwirtschaft, denn der Entwicklung einer staatlich moderierten Wirtschaftsordnung. In dieser Situation war die Labour-Regierung nicht in der Lage, sich gegen den Druck zur Re-Liberalisierung der Wirtschaftspolitik zu behaupten. Ausgeübt wurde er zum einen von den Vereinigten Staaten. Sie hatten bereits den Kredit von 1945 und dann das Angebot des Marshall-Plans an entsprechende Bedingungen geknüpft. Die Prinzipien einer liberalen Wirtschaftspolitik entsprachen zum anderen auch den Interessen des britischen Handels- und Finanzkapitals. Es drängte auf den Abbau außenwirtschaftlicher und währungspolitischer Reglementierungen, damit das Pfund Sterling wieder seine frühere Rolle als internationale Handels- und Reservewährung einnehmen könne.

Die Re-Liberalisierung der Wirtschaftspolitik hatte auch für die mixed economy und die Rolle der Gewerkschaften entscheidende Konsequenzen. Zwar befanden sich mit den nationalised industries mehrere "Kommandohöhen der Wirtschaft" in öffentlicher Hand, ihre Instrumentalisierbarkeit für die staatliche Politik blieb jedoch sehr beschränkt, weil sie nach dem arm's length approach organisiert wurden und nur begrenzt einer staatlichen Kontrolle unterlagen. Ihre Manager verstanden sich denn auch eher als Teil der business community, denn als Teil des Staatsapparats. Die zweite wichtige Konsequenz bestand darin, daß die Gewerkschaften und die Arbeitgeber nach der wirtschaftspolitischen Kursänderung zum free collective bargaining zurückkehrten. Damit stellte sich wieder eine Form der Arbeitsbeziehungen her, bei der nicht nur die Tarifabschlüsse (Tarifautonomie), sondern auch die Regularien der industrial relations staatsfrei ausgehandelt werden (im Unterschied zum "verrechtlichten System" der deutschen Arbeitsbeziehungen wurde das britische System daher als ein "voluntaristisches" bezeichnet). Die Gewerkschaften reagierten mit diesem Schritt insbesondere auch auf die Erfahrungen mit der Austeritätspolitik seit 1947, die ihnen die Folgen einer engen Einbindung in die staatliche Wirtschaftspolitik vor Augen geführt hatte.

Der Nachkriegskonsens wurde im Verlauf dieser Entwicklungen jedoch keineswegs aufgegeben, sondern mit einer deutlichen Akzentverschiebung umgeschrieben. Mit den Abstrichen am Prinzip der staatlichen Wirtschaftslenkung und damit am kollektivistischen Politikansatz hatte sich eine neue Kompromißstruktur ergeben: Wohlfahrtsstaat und mixed economy plus liberalisierte Wirtschaftspolitik und free collective bargaining. Sie war für beide "Hauptlager" der britischen Politik (Konservative/Unternehmer und Labour/Gewerkschaften) akzeptabel, weil sie sowohl die gesellschaftspolitische Grundstimmung der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre als auch die wirtschaftspolitische Problemkonstellation widerspiegelte. Die Kompromißstruktur macht gleichzeitig deutlich, daß weder die Labour Party und die Gewerkschaften, noch die Konservativen und die Unternehmer in der Lage waren, ihre Zielvorstellungen einseitig gegen das jeweils andere "Lager" durchzusetzen. Die Labour Party sah sich zur Rücksichtnahme auf die Unternehmer und insbesondere auf das traditionell sehr einflußreiche Finanzkapital (City of London) gezwungen. Umgekehrt mußten die Konservativen, als sie von 1951 bis 1964 wieder die Regierung stellten, akzeptieren, daß sich die Gewerkschaften als anerkannte "Gesellschaftspartei" und damit als potentielle Gegenspieler ihrer Politik etabliert hatten.

Dieses Grundmuster der britischen Gesellschaftspolitik gilt für den gesamten Zeitraum von 1945 bis 1979. Auf der Ebene der Parteipolitik läßt sich das daran ablesen, daß sich die Mehrheitsverhältnisse zwischen der Labour Party und den Konservativen in dreißig Jahren kaum verschoben haben (abgesehen von der Ausnahmewahl von 1945). In den neun Wahlen von 1950 bis 1974 kamen beide Parteien auf einen durchschnittlichen Stimmenanteil von jeweils 44 Prozent. Nur bei den Wahlsiegen der Konservativen von 1959 und der Labour Party von 1966 lagen ihre Stimmenanteile um mehr als 3,5 Prozentpunkte auseinander. Das relative Kräftegleichgewicht zwischen den beiden Parteien zeigt sich auch daran, daß sie zwischen 1945 und 1979 jeweils siebzehn Jahre die Regierung stellten.

Es spricht daher vieles dafür, den Nachkriegskonsens, der bis in die siebziger Jahre anhielt, als Ausdruck einer spezifischen gesellschaftlichen und politischen Kräftekonstellation zu interpretieren. Sie erklärt zugleich, warum das Nachkriegsarrangement mit seinen skizzierten Veränderungen weder unter einem eindeutig sozialistischen noch unter einem klar konservativen Vorzeichen stand.

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Relativer wirtschaftlicher Niedergang und gesellschaftspolitische Polarisierung

Der in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre umgeschriebene Nachkriegskonsens konnte sich in den fünfziger Jahren konsolidieren, weil er aus der Sicht aller Hauptakteure eine erfolgversprechende Handlungsorientierung bot. Die Liberalisierung der Wirtschaftspolitik ermöglichte es Großbritannien, von der Initialzündung des Marshall-Plans (das Land gehörte zu seinen Hauptnutznießern!) und dann von der Wiederbelebung des Welthandels in der Folge des Korea-Booms zu profitieren. Mit dem konjunkturellen Aufschwung verschwanden auch die Zweifel, ob sich die Vollbeschäftigungspolitik realisieren und der Wohlfahrtsstaat finanzieren ließen. Immerhin verfügte Großbritannien, trotz seiner Kriegsbelastungen und Nachkriegsprobleme, immer noch über die stärkste Wirtschaftskraft in Europa. Damit schien auch gewährleistet zu sein, daß es seine wirtschaftliche, politische und militärische Weltmachtrolle fortsetzen könne. Zwar wuchs die Einsicht, die Reste des ehemaligen Kolonialreiches aufgeben zu müssen. Aber mit dem Pfund als Leitwährung des Sterling-Blocks zeichnete sich die Möglichkeit ab, die finanz- und währungspolitischen Bindungen zu den früheren bzw. bald selbständigen Kolonialgebieten für die Absicherung dieser traditionell "geschützten" Export- und Importmärkte nutzen zu können. Insgesamt herrschte die Auffassung vor, die internationale Rolle des Pfund als Handels- und Reservewährung werde für die britischen Handelsbeziehungen und damit für alle Wirtschaftssektoren von Vorteil sein.

Aber schon beim ökonomischen Aufschwung der fünfziger Jahre stellte sich heraus, daß die britische Wirtschaftspolitik vor einem Dauerdilemma stand. Sie hatte sich nach dem Abbau der Wirtschaftskontrollen einer keynesianisch inspirierten Konjunktursteuerung verschrieben und versuchte, die wirtschaftliche Entwicklung mit den Mitteln der Steuer-, Zins- und Ausgabenpolitik zu lenken. Dabei standen die Regierungen jedoch vor dem Problem, daß in jeder Wachstumsphase die Importe stärker stiegen als die Exporte - ein Ausdruck der internationalen Konkurrenzschwäche der britischen Industrie. Dies verschlechterte die Leistungs- und Zahlungsbilanz, was wiederum den Wechselkurs gefährdete. Dessen Stabilität aber war die Voraussetzung für die Rolle des Pfundes als internationale Handels- und Reservewährung. Folglich trat die Regierung auf die Konjunkturbremse. Dem "stop" folgte ein "go", sobald sich die Gefahr einer Rezession abzeichnete, und dann wieder ein "stop" im nächsten Aufschwung. Es liegt auf der Hand, wie wenig sich diese konjunkturpolitischen Wechselbäder mit einer Politik des stetigen Wirtschaftswachstums vereinbaren ließen. Folglich wurde die wirtschaftspolitische Diskussion Ende der fünfziger Jahre von der Frage bestimmt, wie die Regierungen diesem "stop/go"-Zirkel ausweichen könnten.

Diese Frage verband sich mit einem zweiten Hauptproblem: dem immer deutlicher werdenden internationalen Positionsverlust der britischen Ökonomie. Er ließ sich bereits in den fünfziger Jahren an allen relevanten Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung ablesen (Investitionsraten, Produktivität, Anteile am Weltexport etc.). Die britische Wirtschaft war zwar durchaus auf einem Expansionskurs. Aber gemessen an den deutlich höheren Wachstumsraten ihrer Konkurrenten befand sie sich in einem relativen Niedergang. So übertraf die wirtschaftliche Gesamtleistung der Bundesrepublik die Großbritanniens seit 1955 mit stetig größerem Abstand. Frankreich überholte Großbritannien in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, und auch Italien konnte immer mehr aufholen. Dieses Bild wird durch die Pro-Kopf-Entwicklung des Sozialprodukts bestätigt. Der jahresdurchschnittliche Zuwachs von 1950 bis 1979 betrug in Großbritannien 2,25 Prozent und lag damit deutlich unter den Ergebnissen der Bundesrepublik (4,75 Prozent), Italiens (4,4 Prozent) und Frankreichs (4,0 Prozent).

Diese Vergleichszahlen markieren einen langfristigen Trend. Er zeichnete sich bereits in den fünfziger Jahren ab, also in einer Zeit, in der auch in Großbritannien die Ankunft einer affluent society, einer "Wohlstands- und Überflußgesellschaft", ausgerufen wurde. Damit war er auch lange erkennbar, bevor britische und ausländische Beobachter die "Englische Krankheit" diagnostizierten. Der Begriff erreichte seine fast schon sprichwörtliche Bedeutung erst mit den Versuchen der sechziger und siebziger Jahre, das Problem der wirtschaftlichen Wachstumsschwäche zu lösen. Sie waren von einem permanenten und permanent erfolglosen wirtschaftspolitischen Krisenmanagement der Regierungen gleich welcher Couleur geprägt. Dies wiederum führte schrittweise zu einer gesellschaftspolitischen Polarisierung, bei der der Nachkriegskonsens schließlich auf der Strecke bleiben sollte.

Einen Versuch zur Krisenlösung hatte die konservative Regierung Macmillan unternommen, als sie Anfang der sechziger Jahre einen Nationalen Rat für die wirtschaftliche Entwicklung berief. In ihm sollten Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften mit der Aufgabe zusammenarbeiten, die Wachstumsprobleme und das "stop/go"-Dilemma in der Wirtschaftspolitik zu überwinden. Damit begann ein neues Planungsexperiment mit dem Ziel einer Modernisierung der britischen Wirtschaft. Den "Modernisierungswettlauf" der beiden großen Parteien sollte die Labour Party in der Unterhauswahl von 1964 gewinnen. Nach den "thirteen wasted years" konservativer Regierungszeit versprach sie eine umfassende Reformpolitik und eine Wirtschaftsplanung mit dem Ziel, in Großbritannien eine "white heat of technological revolution" zu entfachen. Die beiden National Plans (1964 - 1966 und 1965 - 1970) wurden als Überdehnung des Nachkriegskonsenses kritisiert, aber sie waren schon bei ihrer Verkündigung wenig mehr als bloßes Papierwerk. Dies nicht nur, weil die Plandaten offensichtlich unrealistisch waren (so versprach der zweite National Plan ein Wirtschaftswachstum von 25 Prozent innerhalb von fünf Jahren!), sondern auch, weil die möglichen Steuerungsinstrumente unzureichend waren bzw. eingesetzt wurden. Zwar gelang es der Regierung anfangs, die Plandaten durch lohn- und preispolitische Absprachen mit den Gewerkschaften bzw. den Unternehmern abzusichern. Die Zielvorgaben für die Entwicklung der Exporte und Importe hätten jedoch nur mit einer Abwertung des Pfund Sterling erreicht werden können, zumal der Wechselkurs ohnehin überhöht war. Mit Rücksicht auf die City of London und ganz im Rahmen des umgeschriebenen Nachkriegskonsenses schloß die Regierung diese Option jedoch aus. Statt dessen versuchte sie, der Handelsbilanz- und Währungskrise ein weiteres Mal mit einem konjunkturpolitischen "stop" zu begegnen. Gleichzeitig nahm sie eine Anleihe beim Internationalen Währungsfonds auf, die mit Auflagen für eine restriktive Politik verbunden waren. Die Regierung hatte also das Wachstumsziel erneut zurückgestellt. Dennoch mußte sie - nachdem sie ihre Wirtschaftspolitik drei Jahre lang auf die Sicherung des Wechselkurses zentriert hatte - schließlich 1967 eine Abwertung des Pfundes um 14,3 Prozent (!) hinnehmen.

Das erfolglose Krisenmanagement hatte deutlich gemacht, wie eng die Grenzen tatsächlich waren, die der Wirtschaftspolitik als Folge des internationalen Positionsverlustes der britischen Ökonomie gezogen waren. Da den Regierungen die außenwirtschaftlichen und währungspolitischen Handlungsbedingungen vorgegeben waren, versuchten sie in der Folgezeit, ihren Bewegungssspielraum auf der nationalen Ebene zu erweitern, indem sie die Einkommenspolitik zum zentralen Ansatzpunkt ihrer Wirtschaftspolitik machten. Damit bahnte sich eine Entwicklung an, die durch heftige Auseinandersetzungen zwischen Regierungen und Gewerkschaften geprägt war.

In der Diskussion der sechziger Jahre war es unbestritten, daß die Revitalisierung und Modernisierung der Wirtschaft nicht zuletzt von einer Reform der Arbeitsbeziehungen abhängen würde. Auch die Trade Unions verschlossen sich nicht dieser Einsicht. Sie beteiligten sich aktiv an einer unabhängigen Untersuchungskommission, die sich von 1965 bis 1968 sehr gründlich mit der Rolle von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen beschäftigte. Die Kommission kam zu der Feststellung, daß das traditionelle britische Prinzip des voluntarism eine überaus große Differenzierung und Fragmentierung der Arbeitsbeziehungen hervorgebracht hatte. Die Verhandlungsformen und -ergebnisse unterschieden sich je nach den wirtschaftlichen Bedingungen der einzelnen Branchen, je nach den regionalen und lokalen Gegebenheiten und insbesondere je nach den Kräfteverhältnissen in den Unternehmen. Auf der betrieblichen Ebene hatten sich bei Gewerkschaften und Management Verhaltensmuster verfestigt, mit denen sich beide Seiten nur zu oft wechselseitig blockierten. Insgesamt fehlten dem system of industrial relations alle Voraussetzungen für eine kalkulierbare Lohnentwicklung, zumal sich die fragmentierten und dezentralisierten Strukturen des Verhandlungssystems im gesamten Organisationsgefüge der Gewerkschaften und Unternehmerverbände widerspiegelten. Damit fehlten aber auch die Voraussetzungen für eine staatliche Einkommenspolitik, die auch nach der Meinung der Kommission unerläßlich war.

Mit ihren Reformvorschlägen blieb sie jedoch weitgehend auf der Linie des Nachkriegskonsenses. Sie akzeptierte das relative Kräftegleichgewicht zwischen den "two parties of industry" und betrachtete die relativ hohe Zahl von Arbeitskonflikten als einen durchaus funktionalen Bestandteil eines nicht verrechtlichten Systems der Arbeitsbeziehungen, in dem das Kräfteverhältnis immer wieder neu ausgelotet wird. Folglich vermied die Kommission Empfehlungen, die geeignet gewesen wären, dieses Kräfteverhältnis zugunsten einer der Seiten zu verschieben. Ihre Reformvorschläge liefen statt dessen darauf hinaus, die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern bzw. zwischen Belegschaften und Management zu formalisieren und auszubauen. Dabei warnte die Kommission eindringlich vor staatlichen Eingriffen in das historisch gewachsene System der Arbeitsbeziehungen. Es müsse sich aus sich selbst heraus weiterentwickeln - also mit den Mitteln des free collective bargaining.

Schon die Labour-Regierung Harold Wilsons, die den Bericht in Auftrag gegeben hatte, hielt sich nicht an die Empfehlungen. Nachdem die Gewerkschaften aus der freiwillig vereinbarten Einkommenspolitik ausgeschert waren, weil sie sich nicht auf den Vorrang der Währungspolitik verpflichten lassen wollten, verfügte die Regierung zunächst eine gesetzlich verbindliche Einkommenspolitik und schließlich sogar einen Lohnstop. Als diese Maßnahmen nicht griffen, legte sie 1969 einen Plan zur gesetzlichen Regulierung der Arbeitsbeziehungen vor. Die Gewerkschaften registrierten geradezu mit Verbitterung, wie einseitig sie von vielen der Vorschläge betroffen sein würden. Damit schiebe ausgerechnet eine Labour-Regierung den Trade Unions die Verantwortung für die Konfliktualität der Arbeitsbeziehungen und darüber hinaus für die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu. Der Unmut der Gewerkschaften und großer Teile der Unterhausfraktion war so groß, daß die Regierung die Pläne sehr schnell wieder zurückziehen mußte. Sie blieben jedoch keineswegs folgenlos, weil sie genau jene Politisierung der Arbeitsbeziehungen vorantrieben, vor der die Kommission so eindringlich gewarnt hatte.

Dies zeigte sich bereits wenige Monate später, nachdem die Labour Party die Unterhauswahl von 1970 verloren hatte. In der Konservativen Partei hatten nach den Wahlniederlagen von 1964 und 1966 jene Kräfte an Einfluß gewonnen, die aus dem Scheitern der Krisenpolitik der Macmillan- und Wilson-Regierungen den Schluß zogen, die liberalen Bestandteile des Nachkriegsarrangements zu stärken und dem Marktprinzip ein neues Gewicht zu geben. Die Regierung Heath (1970 - 1974) begann mit einer strikten Ablehnung jeglicher Einkommenspolitik, die die Regierung in die Tarifauseinandersetzungen hineinziehen würde. Dies bedeutete aber keineswegs eine Rückkehr zum free collective bargaining. Im Gegenteil: Mit dem Industrial Relations Act von 1971 unternahm die Regierung den Versuch einer umfassenden gesetzlichen Neuordnung der Arbeitsbeziehungen. Er enthielt einige Bestimmungen des früheren Labour-Plans (z. B. Urabstimmungen und "Abkühlungsperioden" vor Streiks), ging aber erheblich weiter. So wurden z. B. Rechtsbestimmungen aufgehoben, die eine strafrechtliche Verfolgung und eine zivilrechtliche Haftung der Gewerkschaften bei Streiks und anderen Aktionsformen weitgehend ausschlossen; Tarifverträge sollten künftig bindend und einklagbar sein; sogenannte closed shops (Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern über eine ausschließliche Beschäftigung von Gewerkschaftsmitgliedern) wurden erschwert usw. Wie schon beim Labour-Plan mögen einige der Maßnahmen aus deutscher Sicht selbstverständlich sein. Im britischen Verhandlungssystem aber gingen sie eindeutig zu Lasten der Gewerkschaften. Das Gesetz blieb jedoch weitgehend unwirksam, weil es von den Gewerkschaften schlicht ignoriert wurde und die Unternehmer nicht bereit waren, es für ihre Zwecke einzusetzen. Angesichts steigender Inflationsraten während der Ölpreiskrise von 1972 und nach einem erfolgreichen Streik der Bergarbeiter sah sich die Regierung daher gezwungen, den Gewerkschaften Verhandlungen über eine Einkommenspolitik anzubieten. Da diese aber dem plötzlichen Kurswechsel mißtrauten und eine Kooperation ablehnten, blieb der Regierung nur noch die Möglichkeit, von sich aus Eckwerte der Lohnentwicklung festzusetzen. Die daraus resultierenden Konflikte verschärften sich nochmals, als es 1974 erneut zu einem großen Bergarbeiterstreik kam und die OPEC zur gleichen Zeit die Öllieferungen zurückfuhr. Nachdem die Regierung weder mit ihrer Abkehr von der Konsenspolitik, noch mit ihrer Rückkehr zur Kooperationspolitik Erfolg gehabt hatte, schrieb sie vorzeitig Unterhauswahlen aus. Es liege nun bei den Wählern, über den Konflikt zwischen der Regierung und den Gewerkschaften zu entscheiden.

Diese waren sich bei der Wahl vom Februar 1974 aber nicht so recht schlüssig, welcher der beiden zuletzt erfolglosen Regierungsparteien der Vorzug zu geben wäre. Beide erlitten herbe Verluste. Ihr gemeinsamer Stimmenanteil fiel von etwa 90 Prozent auf ca. 75 Prozent. Die Konservativen konnten zwar einen kleinen Stimmenvorsprung verbuchen, aber die Mechanismen des britischen Wahlrechts sorgten dafür, daß die Labour Party auf 301 Sitze kam und den Konservativen mit 297 Sitzen das Nachsehen gab. Dies bedeutete allerdings auch, daß das Land erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Minderheitsregierung regiert und nur wenige Monate später erneut zu den Urnen gerufen wurde. (In Großbritannien müssen Unterhauswahlen spätestens alle 5 Jahre stattfinden; der Prime Minister hat jedoch das Recht, jederzeit Neuwahlen ausschreiben zu lassen. Zwei Wahlen innerhalb von weniger als zwölf Monaten hatte es zuvor nur in den Krisenjahren 1910 und 1923/24 gegeben!). Nach dem neuerlichen Wahlgang vom Oktober 1974 reichte es jedoch nur zu einer sehr knappen Mehrheit für Labour. Daß sie überhaupt zustande kam, dürfte sich aus dem "Schulterschluß" erklären, den die Labour Party und die Gewerkschaften zwischen den beiden Wahlgängen demonstriert hatten.

Der von ihnen schon während der Regierung Heath vereinbarte social contract sah eine enge wechselseitige Zusammenarbeit vor. Die Gewerkschaften verpflichteten sich auf eine zurückhaltende Lohnpolitik; im Gegenzug versprach ihnen die Labour Party ein Mitspracherecht in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Für die Konservativen war die faktische Aufnahme des social contract in das Regierungsprogramm eine Kapitulation vor den Gewerkschaften. Dem stand jedoch gegenüber, daß sich die Trade Unions an ihre einkommenspolitischen Zusagen hielten und die Streikzahlen, die 1972 und 1974 eine Rekordhöhe erreicht hatten, rapide zurückgingen. Ab 1976 aber verfing sich die Politik des social contract in den schon mehrfach beschriebenen Problemen der britischen Wirtschaftspolitik. Eine neuerliche Währungskrise zwang die Regierung zu einer neuen Anleihe beim Internationalen Währungsfonds, die wieder mit Auflagen für eine restriktive Finanz- und Sozialpolitik verbunden war. Die Gewerkschaftsführungen konnten die lohnpolitische Zurückhaltung immer weniger gegen die eigene Basis durchsetzen. 1978/79 entlud sich der angestaute Unmut in den Belegschaften und in vielen Einzelgewerkschaften in einem sprunghaften Anstieg von Arbeitskämpfen. Im "Winter der Unzufriedenheit" wurden alle Streikrekorde der Nachkriegszeit eingestellt. Jetzt schien auch der letzte Beweis erbracht, daß das bisherige Grundarrangement der britischen Gesellschaftspolitik keinen Raum für eine erfolgreiche Politik der Krisenlösung bot.

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Die Alternative des Thatcherismus

Die Krisenerklärung des Thatcherismus enthielt alle Leitsätze neoliberal-konservativer Politikprogramme: die Kritik an einer Verstaatlichung der Gesellschaft, die These von der Knebelung der Marktkräfte durch staatliche Interventionen und die Macht der kollektiven Großorganisationen (vor allem der Gewerkschaften) sowie die Kritik an einer wohlfahrtsstaatlichen Gängelung der Individuen. In Großbritannien erhielt diese Interpretation allerdings eine besondere Wirksamkeit. Angesichts des internationalen Positionsverlustes der britischen Wirtschaft und des permanent erfolglosen Krisenmanagements schien hier die Staatsüberlastung fast schon mit der Hand greifbar zu sein. Auch für die These einer exzessiven Macht der Gewerkschaften schien es spätestens seit dem "Winter der Unzufriedenheit" kaum noch weiterer Begründungen zu benötigen.

Anders als wenige Jahre später die Politiker der "Bonner Wende", die angetreten waren, um die "Erblasten" der sozialdemokratischen Bestandteile der sozialliberalen Regierungspolitik aus den siebziger Jahre abzutragen, thematisierte der Thatcherismus den Gesamtkurs der britischen Nachkriegsentwicklung und somit das Gesamtarrangement der bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Damit kritisierte er nicht allein die Politik der Labour-Regierungen, sondern auch der eigenen Partei. Alle Regierungen hätten sich über die Interessen der Wirtschaft hinweg auf eine Politik der staatlichen Intervention in ökonomische und soziale Prozesse verpflichtet. Das Modell der "sozialen Demokratie" müsse endlich als ein Irrweg erkannt und aufgegeben werden. Nur ein Entwicklungsmodell, das konsequent die Wirtschaft von staatlichen Regulierungen, die Individuen von der Vormundschaft des Wohlfahrtsstaates und die Unternehmer von der betrieblichen Gegenmacht der Gewerkschaften befreie, eröffne Großbritannien die Möglichkeit, wieder den Anschluß an die technologisch-ökonomische Entwicklung zu gewinnen. Eine der Voraussetzungen dafür sei eine umfassende Liberalisierungspolitik, die es der Wirtschaft erlaube, sich unter den Bedingungen der internationalen Konkurrenz zu behaupten. Noch wichtiger aber sei es, die Gesellschaftspolitik aus den Blockierungen des Nachkriegskonsenses herauszuführen.

Nach seiner Selbstdarstellung folgte der Thatcherismus einer klaren Linie. Seine Politik gliederte sich in drei Hauptphasen, die den Amtsperioden Mrs. Thatchers entsprachen:

  • Von 1979 bis 1983 sei es zunächst darum gegangen, die Macht der Gewerkschaften zu brechen ("curbing the power of the trade union barons"), weil sich nur so der neue wirtschaftspolitische Kurs durchsetzen ließe.

  • Von 1983 bis 1987 habe sich die Regierung dann auf die Restrukturierung und Revitalisierung der Wirtschaft konzentrieren können ("getting the economy right").

  • Die dritte Amtsperiode Mrs. Thatchers ab 1987 sollte das neuerliche Mandat der Wähler für eine über den unmittelbaren Bereich der Wirtschaft hinausgehende Erneuerung der Gesellschaft nutzen ("a programme of radical reform").

Das Bild einer in sich geschlossenen Programmatik und einer stringenten Abfolge von Politikschritten hält einer Überprüfung jedoch nicht stand. Beim Thatcherismus handelte es sich keineswegs um ein monolithisches Projekt, sondern um ein durchaus flexibles Politikprogramm. Die stillschweigende Revision der Instrumente einer monetaristischen Wirtschaftspolitik war ein Beispiel dafür, daß sich der Thatcherismus durchaus von Konzepten trennen konnte, die er zu seinen "Grundüberzeugungen" rechnete. Die Prominenz der Privatisierungspolitik seit etwa 1982 war umgekehrt ein Beispiel dafür, wie plötzlich sich neue "Grundüberzeugungen" herausbilden konnten. Noch im Wahlprogramm für 1979 war das Thema kaum erwähnt und deshalb auch nicht als ein zentrales Anliegen der konservativen Politik wahrgenommen worden. Die Privatisierungspolitik, häufig als "Flaggschiff des Thatcherismus" bezeichnet, entwickelte sich erst zu einem Privatisierungsprogramm, nachdem die ersten Privatisierungen reibungsloser als erwartet verliefen.

Es spricht also vieles dafür, die "Logik" des Thatcherismus nicht im Sinne einer zielgerichteten Verwirklichung eines eindeutig umrissenen Modells für eine neue Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikordnung zu verstehen. Eher schien diese "Logik" in dem Versuch zu liegen, die Blockierungen und Zirkelsituationen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung von 1945 bis 1979 aufzubrechen:

  • Mit der expliziten Aufkündigung des Nachkriegskompromisses ergab sich die Möglichkeit, das Spannungsverhältnis zwischen dem Konsensmodell der "sozialen Demokratie" und einer liberalen Wirtschaftspolitik einseitig zu Gunsten der letzteren aufzulösen.

  • Obwohl alle früheren Regierungen den Interessen des international orientierten britischen Finanzkapitals nachkommen mußten, hatten sie es immer wieder versucht, auch den Bedingungen des Industriekapitals gerecht zu werden - und sich folglich regelmäßig in einer widersprüchlichen Politikkonstellation befunden. Der Thatcherismus hingegen, ohnehin vom Trend zur postindustriellen Gesellschaft überzeugt, setzte die britische Industrie bedingungslos dem internationalen Wettbewerb aus, auch um den Preis des Niedergangs ganzer Industriebranchen.

  • Der Thatcherismus ließ von vornherein keinen Zweifel daran, daß er das relative Kräftegleichgewicht zwischen Unternehmern und Gewerkschaften bzw. Management und betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen zugunsten der Arbeitgeber beseitigen wollte, damit sie die Erneuerung der britischen Wirtschaft gegen die Belegschaften und ihre Gewerkschaften durchsetzen konnten.

Insbesondere die Gewerkschaften haben die ausgesprochen machtpolitische Orientierung erfahren, mit der der Thatcherismus auf die wirtschaftspolitischen Problemkonstellationen und die gesellschaftlich-politischen Kräfteverhältnisse der britischen Nachkriegsentwicklung reagierte. Insofern läßt er sich eher als ein Versuch verstehen, die Hindernisse beiseite zu räumen, die einer umfassenden und tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Restrukturierung und einer gesellschaftspolitischen Neuorientierung im Wege standen. Dies sollte jedoch nicht über die insgesamt pragmatische und vorsichtige Vorgehensweise der thatcheristischen Politik hinwegtäuschen. Das Paradebeispiel dafür ist wiederum die Politik gegenüber den Gewerkschaften. Anders als ihr Vorgänger Edward Heath, der mit dem Industrial Relations Act von 1971 eine umfassende Reform des Systems der Arbeitsbeziehungen anstrebte, entschied sich Mrs. Thatcher für einen step by step approach. Mit einer Kette von Gewerkschafts- und Arbeitsgesetzen (1980, 1982, 1984, 1988, 1990 - um die wichtigsten zu nennen) zum einen und in einer Reihe von Auseinandersetzungen mit verschiedenen Einzelgewerkschaften zum anderen gelang es ihr, die Gewerkschaften weitgehend als Machtfaktor der britischen Gesellschaft auszuschalten.

Nach der Krisenerklärung des Thatcherismus war die "Lösung des Gewerkschaftsproblems der Schlüssel für die Wiedererstarkung der britischen Wirtschaft" (Keith Joseph). Demnach hätte die wirtschaftliche Entwicklung seit 1979 eine wahre Erfolgsgeschichte sein müssen. Entgegen einer weitverbreiteten Wahrnehmung in Deutschland ist die wirtschaftspolitische Bilanz der konservativen Regierungen von 1979 bis 1996 jedoch reichlich "durchwachsen". Positiv zu vermelden ist zunächst, daß es Großbritannien anscheinend gelungen ist, den langfristigen Trend des relativen wirtschaftlichen Niedergangs zu stoppen. So wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP), in Großbritannien zwischen 1979 und 1990 um ca. 27 und in der Bundesrepublik um ca. 26 Prozent. Für den Zeitraum 1991 bis 1997 lauten die Daten, die allerdings wegen der deutschen Vereinigung und der Entwicklung in Ostdeutschland nur bedingt vergleichbar sind, 9 bzw. 15 Prozent. Auch die Produktivität (BIP je Erwerbstätigen) nahm in beiden Ländern zwischen 1979 und 1990 etwa im gleichen Maße zu (um ca. 18 Prozent). In Großbritannien war dies aber nicht so sehr die Folge des Aufbaus neuer effizienter Unternehmen, sondern der Aufgabe unrentabler Betriebe. Zwischen 1991 und 1996 dürften sich - umgekehrt - die höheren Produktivitätszuwächse in Deutschland (13,4 Prozent im Vergleich zu 9,1 Prozent in Großbritannien) zumindest teilweise durch die Deindustrialisierung in den neuen Ländern erklären. Trotz aller Erfolgsmeldungen der letzten Jahre sind auch die britischen Arbeitsmarktdaten keineswegs so positiv, wie hierzulande häufig angenommen wird. Die EU-standardisierten Arbeitslosenquoten für die Zeiträume 1983 - 87, 1988 - 92 und 1993 - 97 betrugen in Großbritannien jahresdurchschnittlich 11,2 / 8,4 / 8,8 Prozent und in der Bundesrepublik 6,8 / 5,1 / 8,7 Prozent. In ähnlicher Weise "verflüchtigen" sich die britischen Erfolgsmeldungen, wenn die Entwicklung der Investitionsquoten betrachtet wird: Von 1980 bis 1996 lag ihr jahresdurchschnittlicher Wert im früheren Bundesgebiet bei ca. 8,2 und in Großbritannien bei ca. 7,6 Prozent. Erst 1994 bis 1996 übertrafen die britischen Angaben geringfügig die deutschen. Auch die Indikatoren der Inflationsentwicklung und der Handels- und Leistungsbilanzen lassen nicht erkennen, warum sich das Großbritannien Margaret Thatcher und John Majors als ein besonders erfolgreiches Modell der wirtschaftlichen Entwicklung anbieten sollte. Achtzehn Jahre konservativer Regierungszeit haben nichts daran geändert, daß das Niedriglohnland Großbritannien in der Wohlstandsskala der westeuropäischen Länder nur einen Mittelplatz einnimmt. (Das deutsche Bruttoinlandsprodukt war 1995 mehr als doppelt so hoch wie das britische; berechnet pro Kopf der Bevölkerung war es um mehr als die Hälfte höher. Der häufige Hinweis auf die geringeren britischen Arbeitskosten, die 1997 nur bei 77,6 Prozent der westdeutschen lagen, entwertet sich im wahrsten Sinne des Wortes, sobald wir die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität vergleichen. Sie betrug im gleichen Jahr in Großbritannien 71,6 Prozent des Ergebnisses im früheren Bundesgebiet!).

Noch prekärer wird die Leistungsbilanz der konservativen Regierungen, wenn sie um die sozialen und gesellschaftspolitischen Kosten ihrer Politik ergänzt wird. Nach der Interpretation von Will Hutton hat sich eine Gesellschaft herausgebildet, die sich mit der Formel 40:30:30 beschreiben läßt. Nur etwa 40 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben danach einen sicheren Vollzeitarbeitsplatz als Arbeitnehmer oder Selbständige mit einem ausreichenden Einkommen. 30 Prozent haben unsichere Arbeitsplätze oder müssen sich mit Teilzeit- oder Gelegenheitsarbeit begnügen, und die restlichen 30 Prozent seien entweder arbeitslos oder müßten zu so geringen Löhnen arbeiten, daß sie zu den working poor gehörten. Diese Entwicklung war eine Folge der tiefen Strukturbrüche. Sie wurde jedoch auch durch die konservative Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik begünstigt:

  • In der Steuerpolitik wurden die Bezieher höherer und sehr hoher Einkommen bevorzugt. Das bekannteste Beispiel für die Verlagerung der Abgabenbelastung auf die Bezieher geringerer Einkommen war die poll tax, aber die weniger spektakuläre Erhöhung indirekter Steuern und der Sozialversicherungsabgaben schlug sicherlich mehr "zu Buche".

  • Mit der "Deregulierung" und "Flexibilisierung" des Arbeitsmarktes wurde die Erosion des "normalen" Beschäftigungsverhältnisses früher und gründlicher eingeleitet als in anderen europäischen Ländern. Sie ist in einer engen Verbindung mit der Gewerkschaftspolitik der konservativen Regierungen zu sehen. Der Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades von 54 Prozent im Jahre 1979 auf 32 Prozent im Jahre 1995, die "Enttariflichung" der Beschäftigungsverhältnisse (von 1980 bis 1995 hat sich der Anteil der Arbeitnehmer, die durch Tarifverträge erfaßt sind, von 70 auf 47 Prozent reduziert!) sowie der Anstieg der Zahl "gewerkschaftsfreier Betriebe" (allein von 1984 bis 1990 von 27 auf 36 Prozent) ließen das "selbstverantwortliche Individuum" auch im Arbeitsleben zunehmend allein auf sich selbst angewiesen sein. Die Lohn- oder gar Arbeitsplatzunsicherheit wurde durch das zunehmend uneingeschränkte Recht des unternehmerischen right to manage sowie einen rigiden Abbau des Kündigungsschutzes verstärkt. Damit durchaus vereinbar war die wachsende Lohnungleichheit, wobei die Grenze nach unten 1986 durch die Aufgabenbeschränkung und 1993 durch die Auflösung der wages councils aufgehoben wurde (sie hatten für bestimmte Beschäftigungsfelder, in denen es häufig keine gewerkschaftliche Interessenvertretung gab, Mindestlöhne festgesetzt).

  • In der Sozialpolitik kam es zwar nicht zum befürchteten rolling back of the welfare state. Zumindest konnten die Konservativen ihren Kritikern begegnen, daß sich der Umfang der staatlichen Wohlfahrtsausgaben zwischen 1979 und 1990 in absoluten Zahlen sogar erhöht und in seiner Relation zum Bruttoinlandsprodukt kaum verändert hatte (und von 1992 bis 1996 sogar gestiegen war). Dem läßt sich aber entgegenhalten, daß die Zahl der Leistungsbedürftigen in den achtziger Jahren deutlich gestiegen war, nicht nur auf Grund der gestiegenen Lebenserwartung, sondern vor allem auch als Folge der hohen Arbeitslosigkeit. Die Leistungen mochten insgesamt gleichgeblieben sein, pro Empfänger gingen sie aber deutlich zurück.

  • Die Ergebnisse dieser Entwicklungen kommen am deutlichsten in den Einkommens- und Armutsstatistiken zum Ausdruck. Während die Summe aller Einkommen inflationsbereinigt zwischen 1979 und 1995 um 40 Prozent stieg, blieb das des untersten Einkommensfünftels etwa auf dem Stand von 1979. Der Anteil der Bevölkerung, der sich mit weniger als der Hälfte der durchschnittlichen Einkommen begnügen mußte und damit unter der Armutsgrenze lag, verdreifachte sich zwischen 1979 und 1991/92 von etwa sieben auf ca. 21 Prozent.

Das von Margaret Thatcher eingeleitete Modernisierungsprogramm wurde also auf dem Rücken großer Teile der Bevölkerung ausgetragen. Selbst wenn die Hutton'sche Formel 40 : 30 : 30 allzu griffig ausgefallen sein sollte, dürfte insgesamt kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die gesellschaftspolitische Konstellation, die sich in Großbritannien seit dem Ende der siebziger Jahre herausgebildet hat, auf einen Typ kapitalistischer Entwicklung verweist, der eher dem US-amerikanischen als einem europäischen Modell folgt. Der Niedergang der britischen Gewerkschaften und das neue Ausmaß der sozialen Ungleichheit sind insofern nicht lediglich als "Kosten" eines Krisenlösungsmodells, sondern vielmehr als Merkmale eines spezifischen Gesellschaftsmodells zu sehen.

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Die Transformation der Labour Party

Die Labour Party konnte dieser Entwicklung wenig entgegensetzen, weil sie durch die Wahlerfolge der Konservativen von 1979, 1983, 1987 und 1992 achtzehn Jahre in die wilderness verbannt war. Anders als im föderalen System der Bundesrepublik, in dem die Oppositionsparteien in einigen Bundesländern und gelegentlich sogar mit einer Mehrheit im Bundesrat an den Schalthebeln der Macht bleiben, haben sie in Großbritannien kaum Möglichkeiten einer politischen Gestaltungskraft. Ihnen bleibt nur, sich als potentiell nächste Regierungspartei zu profilieren. Das Problem der Labour Party bestand darin, daß ihr genau dies von 1979 bis zur Unterhauswahl von 1992 nicht gelang. Die Herausbildung von New Labour läßt sich ohne diesen Erfahrungshintergrund nicht verstehen.

Der Wandel der Partei hatte schon lange eingesetzt, bevor Tony Blair 1994 zum Parteivorsitzenden und damit zum Oppositionsführer gewählt wurde. Bereits seine Vorgänger, Neil Kinnock und John Smith, hatten sich einer umfassenden Reform der Partei verschrieben. Ihr Ausgangspunkt war das Wahldesaster von 1983. Es hatte der Labour Party lediglich 27,6 Prozent der Stimmen gebracht, fast 10 Prozentpunkte weniger als 1979. Dies war das schlechteste Wahlergebnis seit 1918! Es war keineswegs das Resultat eines rauschenden Wahlsieges von Mrs. Thatcher - die Konservativen hatten sogar 1,5 Prozentpunkte gegenüber 1979 verloren und kamen auf 42,4 Prozent. Dies reichte zwar für eine komfortable parlamentarische Mehrheit, aber der eigentliche Gewinner war das Wahlbündnis der Liberalen und der Social Democratic Party, die sich 1981 von Labour abgespalten hatte. Mit einem Stimmenanteil von 25,2 Prozent hatte die Alliance die Labour Party beinahe auf den dritten Platz verwiesen (allerdings nur bei den Wählerstimmen; es liegt an den Eigenarten des britischen Wahlrechts, daß die Labour Party 209 Unterhausmandate erhielt und die Alliance trotz etwa gleicher Stimmenprozente lediglich auf 23 Sitze kam). Offensichtlich hatte Labour das Vertrauen der Wähler verloren. Umstritten war nur, in welchem Ausmaß dies noch eine Nachwirkung der Regierungsbilanz von 1974 bis 1979 und insbesondere des Winter of Discontent war oder eine Reaktion auf die internen Auseinandersetzungen seit 1979 (Abspaltung der Social Democrats und der dadurch eher noch erleichterte Linksruck in der Labour Party). Beiden Interpretationen war jedoch gemeinsam, daß sie die Frage, wie sich das Erscheinungsbild der Partei verändern ließe, auf die Tagesordnung setzten.

Im Vordergrund stand zunächst die Forderung nach einer organisatorischen Erneuerung. Dabei ging es keineswegs allein um den innerparteilichen Einfluß der Gewerkschaften. Die korporative Mitgliedschaft von Gewerkschaften kennzeichnet ja nur besonders deutlich die Grundstruktur einer Partei, die sich als eine "Vereinigung von Vereinigungen" bezeichnen läßt. Ihr Machtgefüge wird bis heute durch die Wahlkreisorganisationen, durch die assoziierten Einzelgewerkschaften und durch die Unterhausfraktion bzw. ihre Führung bestimmt. Die Auseinandersetzungen zwischen diesen Teilen der Partei, die noch durch die quer durch diese Struktur gehenden Flügelbildungen kompliziert werden, hatten in den ersten Oppositionsjahren von 1979 bis 1983 zu mehreren Reformen der Parteisatzung geführt. Sie gingen zu Lasten der innerparteilichen Vormachtstellung der Unterhausfraktion und ihrer Führung. Gestärkt wurde nicht nur die Position der Gewerkschaften, sondern auch die der Wahlkreisorganisationen und ihrer Aktivisten in der Kommunalpolitik (die einzige Ebene, die der Labour Party zur Abwehr konservativer Politik verblieben war). Als Folge dieser Entwicklung festigte sich einerseits das Bild von Labour als einer Partei, die von den Gewerkschaften und ihren Apparaten dominiert wurde. Andererseits erschien die Partei als ein Tummelbecken lokaler Aktivisten, die sich nicht selten radikal-partizipatorischen Politikkonzepten verschrieben hatten (und als sogenannte "loony left" der mehrheitlich konservativ orientierten Presse ein gefundenes Fressen boten). Mit diesem in sich durchaus widersprüchlichen Doppelimage waren die Ansätze der Parteireform fast schon vorgegeben. Die Position der Gewerkschaften und der Parteiaktivisten wurde schrittweise reduziert, und gleichzeitig wurde mit einer Reihe prozeduraler und institutioneller Änderungen die Stellung der Parteiführung erheblich gestärkt.

Mit den organisatorischen Neuerungen waren zugleich wichtige Voraussetzungen für die Durchsetzung einer programmatischen Transformation der Partei geschaffen. In den ersten Jahren der Kinnock'schen Parteiführung beschränkte sie sich zunächst darauf, einige der zentralen Programmpunkte zu entschärfen, mit denen die Partei 1983 auf die Politik der Thatcher-Regierung reagiert hatte (insbesondere Rückkehr zu einer interventionistischen Wirtschaftspolitik, Re-Nationalisierung privatisierter Unternehmen, Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und vollständige Rücknahme der konservativen Arbeits- und Gewerkschaftsgesetze). Mit ihren Wahlaussagen von 1987 verpflichtete sich die Partei zwar weiter auf einen Ausbau der Sozialleistungen, distanzierte sich aber vorsichtig von den übrigen Positionen (Abbau der Arbeitslosigkeit statt Orientierung auf eine Vollbeschäftigungspolitik; Entwicklung neuer Formen gesellschaftlichen Eigentums statt simpler Re-Nationalisierungspolitik; Überprüfung statt Rücknahme der konservativen Gewerkschaftsgesetze). Damit ließ sich jedoch nicht verhindern, daß Labour weiterhin mit den Politikformen und Entwicklungen der krisenhaften sechziger und siebziger Jahren identifiziert werden konnte. In der Wahl von 1987 erholte sich die Partei zwar leicht auf Kosten der Alliance, aber der Stimmenanteil der Konservativen hatte sich kaum verringert. Ihnen kam insbesondere zugute, daß sich die Politik des Thatcherismus bewährt zu haben schien, da sich ab 1986 ein "britisches Wirtschaftswunder" abzeichnete. In dieser Situation sah sich die Labour Party mit der Möglichkeit einer langfristigen Dominanz der Konservativen Partei konfrontiert.

Die folgende Programmdiskussion, die bereits als Policy Review in die Geschichte der Labour Party eingegangen ist, hat das politische Profil der Partei entscheidend verändert. Bis 1991 legten sieben Arbeitsgruppen insgesamt vier Berichte vor, an die sich eine Reihe weiterer Programmpapiere anschlossen. Ihre gesellschaftspolitischen Aussagen bedeuteten eine weitgehende Abkehr von früheren Positionen:

  • Die Labour Party rückte von ihrer traditionellen Annahme eines generellen Spannungsverhältnisses zwischen den Interessen einer privat organisierten Wirtschaft und den Gesamtinteressen der Gesellschaft ab. Damit gab sie die Vorstellung einer staatlichen Verantwortung für die Steuerung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung auf. Der Staat habe nur eine kompensatorische Funktion, indem er in Abstimmung mit der Wirtschaft diejenigen Aufgaben wahrnehme, die diese nicht oder nur unzureichend leisten könne (z. B. Ausbildung, Förderung langfristiger Investitionen und eine ausreichend ausgewogene Entwicklung der Regionen).

  • Damit löste sich die Partei zugleich von der Konzeption einer mixed economy, in der bestimmte Wirtschaftsleistungen in der Form öffentlicher Unternehmen zu erbringen sind. Sie akzeptierte explizit die Vorstellung, nach der die Dynamik der ökonomischen Entwicklung allein durch den Wettbewerb privatwirtschaftlich organisierter Unternehmen gewährleistet wird.

  • Obwohl sich Labour weiter als Garant des Wohlfahrtsstaates darstellte, ging die Partei aktuell nicht über das Versprechen hinaus, zwei der besonders symbolträchtigen Leistungen (Kindergeld und staatliche Renten) zu erhöhen. Der Anstieg sollte jedoch relativ gering sein, so wie insgesamt sorgsam auf Forderungen verzichtet wurde, die auf eine Umverteilungspolitik oder auf eine Erhöhung der staatlichen Sozialausgaben verweisen könnten. Notwendig sei vielmehr eine Effektivierung der sozialstaatlichen Institutionen zur gezielteren Verwendung der verfügbaren Mittel.

  • Labour löste sich in mehreren Schritten von den früheren Zusagen, die Gewerkschaften wieder in die Rechte einzusetzen, die ihnen durch die konservativen Arbeits- und Gewerkschaftsgesetze genommen worden waren. Im Wahlmanifest von 1992 wurde schließlich klipp und klar festgestellt, eine Labour-Regierung werde nicht zur früheren Politik der Arbeitsbeziehungen zurückkehren. Unter maßgeblicher Beteiligung von Tony Blair, dem damaligen arbeitspolitischen Sprecher der Partei, beschränkten sich die Aussagen auf das Versprechen, einen fairen Rahmen für die Beziehungen zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften zu schaffen.

Obwohl die organisatorischen Veränderungen und programmatischen Neuorientierungen mit einer äußerst professionell konzipierten und inszenierten Kampagnenstrategie "kommuniziert" wurden, gelang es der Partei bei der Wahl von 1992 nicht, sich erfolgreich als eine erneuerte Partei darzustellen. Ihr half nicht einmal, daß das von den Konservativen 1986/87 ausgerufene "britische Wirtschaftswunder" nur bis 1988 angedauert hatte und die Wahl von 1992 in das vierte Jahr einer langen Rezessionsphase fiel. Labour gewann zwar 3,6 Prozentpunkte hinzu, aber die Konservativen, jetzt unter der Führung von John Major, verloren auch dieses Mal nur geringfügig (0,4 Prozentpunkte).

Die Labour Party reagierte auf die neuerliche Niederlage mit der Wahl von John Smith zum Partei- und Oppositionsführer. Er setzte die parteiorganisatorischen Reformen seines Vorgängers fort, zählte aber die Programmdiskussion nicht zu seinen Prioritäten. Ein Hauptgrund dafür dürfte gewesen sein, daß die Popularität der frisch gewählten Regierung Major schon kurz nach ihrem Amtsantritt abrupt zurückgegangen war (vor allem als Folge des "Schwarzen Mittwochs" vom 16. September 1992, als die Regierung mit katastrophalen Fehlern auf eine Währungskrise reagierte und damit eine kräftige Pfundabwertung provozierte). Der Autoritätsverfall John Majors und die Zerrissenheit der Partei insbesondere in der Europapolitik gaben der Labour Party ab Herbst 1992 einen Popularitätsvorsprung, der bis 1997 anhielt und zeitweise 30 Prozentpunkte erreichte. Als Tony Blair im Juli 1994 zum Nachfolger des verstorbenen John Smith gewählt wurde, hatten sich die Chancen der Partei, die zwei Jahre zuvor noch als desolat eingeschätzt worden waren, also bereits drastisch verbessert. Dennoch begnügte sich Tony Blair nicht mit einer Konsolidierung des Reformkurses. Nachdem er sich bereits vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden dafür ausgesprochen hatte, die Erneuerung fortzusetzen, verkündete er einige Monate später, auf dem Parteitag vom Oktober 1994, das Projekt New Labour, New Britain.

Wenn, so der politische Autor Peter Jenkins, die Partei die Wahl von 1992 verlor, weil sie als Labour antrat, stelle sich die Frage, ob nicht eine neue Partei entstehen müsse. Tony Blair trat zwar nicht als Gründer einer neuen Partei auf, aber er ließ keinen Zweifel daran, daß sich New Labour fundamental von old Labour unterscheiden müsse. Mehr noch: die Gegenüberstellung von old und New Labour wurde, neben der Abgrenzung von der New Right, zu einem festen Bestandteil einer Argumentation, mit der die Reformergruppe um Blair einen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Richtungswechsel für Großbritannien propagierte. Dabei stand old Labour für den wirtschaftlichen Niedergang und die Konfliktualität der Arbeitsbeziehungen der sechziger und siebziger Jahre, während der Thatcherismus mit seiner bis dahin umfassendsten Strategie zur Modernisierung Großbritanniens als eine durchaus notwendige Reaktion auf die damalige krisenhafte Entwicklung erschien. Der Thatcherismus habe wichtige Impulse für eine Revitalisierung der britischen Wirtschaft gegeben. Er habe durchaus richtige Fragen zur Lösung der britischen Probleme gestellt, und New Labour zögere nicht, einige seiner Erfolge, beispielsweise in der Politik der Arbeitsbeziehungen und in der Privatisierungspolitik, anzuerkennen. Mrs. Thatcher habe zwar einige zentrale Hindernisse für eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung beseitigt, sich dabei aber eher auf eine destruktive Rolle beschränkt. Während die Neue Rechte zu sehr auf den Eigennutz des Individuums gesetzt und dabei die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit geopfert habe, wolle New Labour eine Gesellschaft schaffen, die von den sozialen Grundwerten der Gerechtigkeit, der Fairness, der Verantwortung und der Partnerschaft geprägt sei: New Labour sei, so Tony Blair 1994, eine Partei des ethischen Sozialismus, in Abgrenzung zum Sozialismus von Marx und vom Sozialismus der staatlichen Kontrolle eine Partei des social-ism (mit Bindestrich!). Die Aufgabe bestehe jetzt darin, diese Grundwerte in der Partei zu verankern und weiter die Parteiorganisation und das Politikprogramm zu modernisieren, damit sie in reale Politik umgesetzt werden können.

Tony Blair entschied sich, die Festschreibung der neuen Grundwerte mit einer äußerst symbolträchtigen Absage an old Labour zu verbinden, indem er die Änderung des Abschnittes IV der Parteisatzung forderte. Diese Clause IV, die den Vorrang des öffentlichen Eigentums postulierte, gehörte zum Traditionsbestand der Partei, der faktisch längst bedeutungslos geworden war. Symbolträchtig war der Vorstoß Tony Blairs auch deshalb, weil Hugh Gaitskell, der Parteiführer der fünfziger Jahre, am Widerstand der Partei und insbesondere der Gewerkschaften gescheitert war, als er diesen "historischen Ballast" abwerfen wollte. Die Auseinandersetzung über diese Frage gab Blair die Gelegenheit, sich in der Partei eine starke Position zu verschaffen und sich in der Öffentlichkeit als Reformer zu profilieren. Wichtiger als die neuen Formulierungen war daher die Entscheidung Blairs, sich über die Parteigremien und Gewerkschaftsvorstände hinweg direkt an die Mitglieder zu wenden und eine Urabstimmung zu organisieren. Nach ihrem erfolgreichen Ausgang hatte die Zustimmung einer außerordentlichen Parteikonferenz, die eigens für die Änderung der Satzung einberufen worden war, nur noch eine formale Bedeutung. Für die Reformer war dies zugleich eine Ermutigung, den Umbau der Parteiorganisation durch eine Aufwertung der individuellen Parteimitgliedschaft voranzutreiben und die Kampagnen zur Rekrutierung neuer Einzelmitglieder zu verstärken, damit sich New Labour zu einer Mitgliederpartei kontinentalen Zuschnitts entwickeln könne. Diese organisatorische Modernisierung sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, daß viele der weiteren Änderungen seit 1994 zu einer Machtkonzentration auf die Parteiführung führten. Vor der Wahl von 1997 mochte sich die daraus resultierende innerparteiliche Disziplin(ierung) noch mit dem Hinweis auf das frühere Erscheinungsbild der Partei rechtfertigen lassen. Seitdem sich jedoch die Machtposition der Parteiführung mit der der Regierung verknüpft hat, ist New Labour für viele Kritiker zu einem Problemfall innerparteilicher Demokratie geworden.

Die Politikaussagen, mit denen sich die Partei auf den kommenden Wahlkampf vorbereitete, folgten, so neu sich auch New Labour darstellte, in vielen Punkten den Aussagen, mit denen die Partei in die Wahl von 1992 gegangen war. Die inzwischen noch weiter professionalisierte Kampagnen- und Kommunikationsstrategie der Parteiführung richtete sich jedoch jetzt noch stärker darauf aus, den Konservativen jeden Weg zu verbauen, das alte Image von Labour für sich zu instrumentalisieren. Dabei spielte insbesondere die Erfahrung eine Rolle, wie schnell 1992 der vorherige Vorsprung bei den Meinungsumfragen dahingeschmolzen war. Damals hatten die Tories in ihrem doch noch erfolgreichen Wahlkampfendspurt vor allem betont, auf welch unsicheres Spiel sich die Wähler bei einer Entscheidung für Labour einlassen würden (Inkompetenz in der Wirtschaftspolitik, Partei der steigenden Staatsausgaben und damit von Steuererhöhungen, Gewerkschaftspartei etc.). New Labour entschied sich daher jetzt, ganz "auf sicher" zu gehen. Die Partei grenzte sich eindeutiger und stärker von old Labour ab als von den Konservativen, um den Wählern, die zwar mit der Major-Regierung unzufrieden waren, aber noch Vorbehalte gegen Labour hatten, die Berührungsängste zu nehmen. Nur in den Politikfeldern, in denen sich die Partei mit der Kritik an der konservativen Politik sicherfühlen konnte (z. B. soziale Folgen der wirtschaftlichen Restrukturierung), ging sie die Regierung voll an. Insbesondere in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sowie in der Politik der Arbeitsbeziehungen aber waren die Aussagen vom Bemühen gekennzeichnet, sich nicht allzu sehr von den Konservativen zu unterscheiden. New Labour werde

  • den Eingangssatz für die Einkommensbesteuerung in der nächsten Wahlperiode nicht erhöhen,

  • den Umfang der Staatsausgaben im Rahmen der Finanzplanung der Regierung Major für die Haushaltsjahre 1997/98 und 1998/99 halten und die in Aussicht gestellte Verbesserung der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in der Sozialversicherung, im Erziehungsbereich und im Gesundheitswesen durch eine Umstellung der Haushaltsprioritäten finanzieren,

  • prinzipiell an der konservativen Politik deregulierter und flexibler Arbeitsmärkte festhalten und sich auf eine Korrektur einiger Fehlentwicklungen beschränken,

  • den Gewerkschaften gegenüber nach dem Grundsatz "fairness, no favours" verfahren, aber das werde nichts daran ändern, daß Großbritannien die "restriktivsten Gewerkschaftsgesetze aller westlichen Länder" behalten werde, so Tony Blair fünf Wochen vor der Unterhauswahl von 1997.

Die Strategie des "safety first" (Anderson/Mann) sollte mit dem Erdrutschsieg von Tony Blair und New Labour vom 1. Mai 1997 aufgehen. Die Labour Party, die 1992 noch mit 7,5 Prozentpunkten hinter den Konservativen gelegen hatte, errang jetzt einen Stimmenvorsprung von 12,5 Prozentpunkten. Noch drastischer wurden die Sitzverhältnisse umgekehrt: die Konservativen verloren 171 ihrer 336 Unterhausmandate, während Labour 147 hinzugewann und damit 418 von 659 Sitzen erhielt. Dies war die größte Parlamentsmehrheit einer Partei seit dem Zweiten Weltkrieg. Gemessen am Stimmenanteil von 43,2 Prozent war der Wahlsieg allerdings weniger spektakulär. Der triumphale Wahlsieg erklärt sich denn auch eher aus dem desaströsen Abschneiden der Konservativen, die mit 30,7 Prozent ein historisches Tief erreichten und auf den Labour-Stand von 1987 zurückfielen.

Obwohl die neue Regierung einen eindrucksvollen Start hingelegt und sich mit ihrem neuen Politikstil profiliert hat, läßt sich in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die Kontinuität zur Politik der Vorgängerregierungen nicht übersehen. Am deutlichsten kommt dies in der Bildungspolitik zum Ausdruck, die explizit nach dem Motto "standards, not structures" verfährt und damit die von den Konservativen in achtzehn Jahren durchgesetzten institutionellen Veränderungen unangetastet läßt. Ähnliches läßt sich in der Sozialpolitik feststellen. Die Regierung hat zwar einige neue Prioritäten gesetzt, z. B. die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, aber mit ihrer Betonung der Eigenverantwortlichkeit den von den Konservativen eingeleiteten Trend zur größeren Selektivität der Wohlfahrtsleistungen insgesamt eher noch verstärkt. Dabei besteht ein enger Zusammenhang mit der Verpflichtung, sich bei den Staatsausgaben an die Finanzplanung der Vorgängerregierungen zu halten. New Labour - so eine kürzliche Analyse - ist auf dem Weg, den Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf unter 40 Prozent zu senken, weniger als in der Thatcher-Ära. In der Arbeitsmarktpolitik und in der Politik der Arbeitsbeziehungen hat die Regierung zwar die Position der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften verbessert (Verlängerung des Kündigungsschutzes, Einführung eines staatlich festgesetzten Mindestlohnes, Anerkennung der Gewerkschaften als betriebliche Verhandlungspartner, wenn sie mehr als 50 Prozent der Belegschaft organisieren oder sich mindestens 40 Prozent für die Anerkennung aussprechen). Obwohl die Notwendigkeit solcher Regelungen eher zeigt, wie schwach die Position der Arbeitnehmer und Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern als Folge der konservativen Politik geworden ist, wurden mit diesen Maßnahmen nur einige der gröbsten Asymmetrien aufgehoben.

Mit dem Verzicht, die strukturellen Entscheidungen der konservativen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik rückgängig zu machen, steht New Labour seit 1997 jedoch vor einem Problem: Die Partei sieht sich trotz der vorsichtigen Wahlaussagen mit sehr hohen Erwartungen konfrontiert, hat sich mit diesen Wahlaussagen jedoch so gebunden, daß sie diese Erwartungen nur teilweise erfüllen kann. Dies nährt den Verdacht, daß New Labour letztlich doch die Politik des Thatcherismus fortsetzt. Da in dieser Situation der Versuch der doppelten negativen Abgrenzung von old Labour und New Right unglaubwürdig zu werden droht, muß das Blair-Projekt weiter begründet und gewissermaßen "positiv" begründet werden. Der von Tony Blair und seinen Beratern seit 1998 propagierte "Dritte Weg" ist sicherlich in diesem Zusammenhang zu sehen. Bisher ist aber allenfalls in Umrissen erkennbar, wie sich die Diskussion auf die konkrete Politik auswirken soll, da sich die Überlegungen, wie sich Markt und Staat, Individuum und Gesellschaft sowie Freiheit und Gleichheit miteinander verbinden lassen, noch weitgehend auf der Ebene der Grundwerte bewegen und zudem häufig sehr vage bleiben. Der "Dritte Weg" betont zwar immer wieder die Ziele einer sozialen Demokratie. Dennoch drängt sich bei der Lektüre der bisherigen Statements von Tony Blair u. a. die Frage des Economist auf, ob "eine Partei ihre Politikaussagen umkehren und dennoch an ihren Grundwerten festhalten" kann.


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