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TITELINFO


Türkei - politische Perspektiven / Heinz Kramer. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1999. - 16 S. = 65 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT






[Essentials]

  • Die große politische und intellektuelle Herausforderung für die türkische Elite besteht darin, unter Bewahrung der kemalistischen Entwicklungserfolge einen neuen Gesellschaftsvertrag zu formulieren, der den Notwendigkeiten einer multiethnischen, zunehmend funktional differenzierten und immer noch von raschem Wandel geprägten Gesellschaft unter den Bedingungen wachsender Globalisierung und weltumspannender Kommunikation gerecht wird.

  • Das Ergebnis der Wahlen vom 18. April 1999 hat erneut eine deutliche Entfremdung der Bevölkerung von den politischen Kräften gezeigt: Die stärkste Partei konnte nur 21 Prozent der Stimmen erringen; die Parteien der rechten Mitte haben in einem Jahrzehnt die Hälfte ihrer Wähler verloren; die traditionellen politischen Blöcke sind zerfallen; systemoppositionelle Parteien sind die stärkste Gruppe im Parlament geworden. Der gesellschaftliche Unterbau des politischen Systems befindet sich in starkem Fluß.

  • Die neue Dreiparteienkoalition unter Ministerpräsident Ecevit ist wegen ihrer starken Mehrheit im Parlament zwar in der Lage, notwendige wirtschaftliche Strukturreformen in Gang zu bringen, sie kann aber wegen ihrer nationalkonservativ-kemalistischen Grundhaltung keinen Beitrag zur notwendigen politischen Erneuerung leisten: Auch für sie hat die Bewahrung der Staatsautorität Vorrang vor dem Ausbau liberal-demokratischer Bürgerfreiheiten.

  • Im Umgang mit der Kurdenfrage ist trotz – oder wegen – der Verhaftung und der Verurteilung des PKK-Führers Abdullah Öcalans keine grundlegende Änderung in der Haltung des türkischen Staates zu erwarten. Die politische Offensive Öcalans und der PKK stößt in den entscheidenden Kreisen der Türkei nur auf geringe Resonanz. Es wird zu einer vordergründigen Beruhigung der Lage in den türkischen Kurdenprovinzen kommen, hinter der der Grundkonflikt weiterschwelt.

  • In ihrem Kulturkampf gegen den Islamismus kommt die kemalistische Elite kaum voran. Der politische Islam ist inzwischen als wichtige Minderheit im politischen Pluralismus der Türkei fest etabliert und mit staatlich-administrativer Repression nicht aus der Welt zu schaffen. Die in der MHP und der ANAP vorhandenen traditionell-religiösen Strömungen erschweren es der Regierung Ecevit, den Forderungen des Militärs nach rigoroser Bekämpfung der „reaktionären Tendenzen" ohne weiteres Folge zu leisten.

  • Die türkische Außen- und Sicherheitspolitik ist zunehmend durch einen im Westen rückgebundenen nationalistischen Kurs gekennzeichnet, mit dem die Regierenden ihr Konzept einer regional zentrierten Außenpolitik zum Erfolg verhelfen wollen. Dahinter steht der schon von Turgut Özal formulierte Anspruch, die Türkei zu einer eurasischen Regionalmacht mit Einfluß in der energiereichen kaspischen Region, im Mittleren Osten und auf dem Balkan zu entwickeln. Am Ziel des EU-Beitritts wird festgehalten, doch darf dieses nicht in Konflikt mit innen- und außenpolitischen Interessen der Türkei geraten.

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Schatten über dem kemalistischen Erfolgsmodell

Die moderne Türkei kann heute auf eine 76jährige Geschichte zurückblicken. Diese Geschichte ist eine Erfolgsstory der Bemühungen, das Land im Geschwindschritt an die modernen europäischen Staaten und Gesellschaften heranzuführen. Natürlich hat es Stillstände und Rückschläge gegeben, und die Türkei ist noch keineswegs in jeder Beziehung „in Europa angekommen". Dennoch hat sie in etwa drei Generationen einen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel durchgemacht, für den die meisten europäischen Staaten in der Regel deutlich mehr als hundert Jahre gebraucht haben und der das Land erheblich von seinen Nachbarstaaten in der nah-/mittelöstlichen Region entfernt hat.

Die Türkei ist das einzige muslimisch geprägte Land der Region, das deutliche Fortschritte im Prozeß der nachholenden Industrialisierung vorweisen kann und das sein politisches System mit einigem Erfolg nach westlichen demokratischen Vorbildern umgestalten konnte. Die türkische Gesellschaft unterscheidet sich von ihren nah-/mittelöstlichen Nachbarn durch einen spürbaren Vorsprung bei der Anpassung an westlich geprägte Wertemuster und Verhaltensweisen. Die Türkei ist heute in der Region neben Israel die stärkste Wirtschafts- und Militärmacht und der einzige Staat mit einem leidlich funktionierenden demokratischen System. Grundlage dieser Entwicklung war eine Politik, die sich seit der Gründung der Republik an der kemalistischen Entwicklungsidee orientierte: weitgehend von oben verordnete und betriebene „Westernisierung" als Leitbild für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.

In letzter Zeit mehren sich jedoch Zweifel, ob diese Entwicklungsidee noch hinreichend tragfähig ist, dem Land auch im nächsten Jahrhundert als offizielle Richtschnur seiner Entwicklung zu dienen. Das gilt insbesondere mit Blick auf die von der türkischen Staatselite verfolgte Interpretation des kemalistischen Gedankenguts, das ja von Mustafa Kemal nicht in Form einer geschlossenen Ideologie entwickelt wurde, sondern in eher pragmatischer Weise als Anwendung einiger europäischer/westlicher politischer und gesellschaftlicher Grundprinzipien auf die konkreten Herausforderungen in der Gründungs- und frühen Konsolidierungsphase der Republik entstand. Kemals Nachfolger in der Staatsführung haben sich in der Regel eher an seiner zeit- und situationsbedingten autoritären Staatspraxis orientiert und weniger an den in den kemalistischen Prinzipien auch angelegten und von allen Kemalisten auf der rhetorischen Ebene immer wieder betonten liberal-demokratischen Perspektiven.

Die Entwicklung der Türkei zu einer „reifen" Demokratie mit offener Gesellschaft und einer funktionierenden Marktwirtschaft wurde folglich immer wieder von Phasen unterbrochen, in denen eine staatszentrierte Politik den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel am Modell einer „geschlossenen Gesellschaft" orientieren wollte. Der Übergang zum parlamentarischen Mehrparteiensystem seit Beginn der 50er Jahre und die etwa gleichzeitig verstärkt einsetzende Industrialisierung bewirkten jedoch eine zunehmende gesellschaftliche Differenzierung, deren Dynamik immer weniger mit den tradierten Entwicklungskonzepten der Staatselite in Einklang zu bringen ist. Auch die wiederholte Notbremse des Militärputsches als extremes Element zur Durchsetzung der Staatsinteressen gegen die Bürger konnte letztlich den einmal in Gang gesetzten Emanzipationsprozeß der Zivilgesellschaft vom Staat nur bremsen, aber nicht endgültig stoppen.

In ihrer rückwärtsgewandten Interpretation der Ideen und Grundsätze neigen die Gralshüter des Kemalismus in der Militärführung, im Staatsapparat, in der Justiz, in den Parteien und in den Medien dazu, den eigentlich fortschrittsorientierten Charakter von Atatürks Politik und Denkweise zu übersehen. Mit politischen Werten und Methoden, die in den zwanziger Jahren durchaus funktional und angemessen waren, wollen sie die Türkei von heute regieren und übersehen dabei völlig, daß das Modell des europäischen Nationalstaates des 19. Jahrhunderts nicht das geeignete Vorbild für die Türkei des 21. Jahrhundert sein kann.

Die große aktuelle politische und intellektuelle Herausforderung für die türkische Elite besteht folglich darin, unter Bewahrung der kemalistischen Entwicklungserfolge einen neuen Gesellschaftsvertrag zu formulieren, der den Notwendigkeiten einer multiethnischen, zunehmend funktional differenzierten und immer noch von raschem Wandel geprägten Gesellschaft unter den Bedingungen wachsender Globalisierung und weltumspannender Kommunikation gerecht wird. Das wird nur zu leisten sein, wenn es gelingt, den innenpolitischen Erosionsprozeß durch die Bildung einer „neuen politischen Mitte" zu stoppen und die Außenpolitik an den Erfordernissen der „neuen internationalen Ordnung" nach dem Kalten Krieg auszurichten, deren Konturen allerdings erst schemenhaft zu erkennen sind.


Die Suche nach einem neuen Zentrum

Wie wenig die am Modell des Einheitsstaates und der einheitlichen Nation orientierte Politik der kemalistischen Staatseliten noch der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht, zeigt die innenpolitische Entwicklung der 90er Jahre: Sie ist von einem zunehmenden Zerfall der traditionell dominierenden politischen Kräfte und einem Aufstieg jener Gruppierungen geprägt, die in Opposition zum herrschenden System entstanden und zum Teil verblieben sind. Die türkische Politik stützte sich traditionell auf Parteien, die bei der Einführung des Mehrparteiensystems aus der kemalistischen Einheitspartei, der Republikanischen Volkspartei, hervorgegangen waren und einmal deren eher staatsorientierten Kern (Parteien der linken Mitte) und zum anderen deren volksorientierten Oppositionsflügel (Parteien der rechten Mitte) entsprachen. Systemoppositionelle Gruppen repräsentieren dagegen den politischen Islam (Tugendpartei – FP, vorher Wohlfahrtspartei – RP), den kurdischen Nationalismus (HADEP, vorher DEP) oder den rassistisch geprägten türkischen Nationalismus (Nationalistische Aktionspartei – MHP), häufig in seiner pan-türkischen Spielart.

In den 90er Jahren haben nicht nur die letzteren Gruppen stetig an Bedeutung gewonnen, zugleich hat auch das politische System insgesamt an gesellschaftlicher Bindungskraft verloren: Seit 1995 kann keine Partei mehr als gut 20 Prozent der Wähler an sich binden. Die 1991 eher noch als Notlösung empfundene Notwendigkeit, relativ instabile Koalitionsregierungen zu bilden, ist mittlerweile zum strukturellen Merkmal türkischer Innenpolitik geworden. Gleichzeitig wurde es immer schwieriger, nicht-kemalistische Kräfte von der Machtbeteiligung fernzuhalten, was die DYP-RP Koalitionsregierung vom Juni 1996 unter Islamistenführer Erbakan ebenso zeigte wie die Beteiligung der nationalistischen MHP an Ecevits Drei-Parteien-Koalition vom Mai 1999. Als Folge dieser Entwicklung sah sich die Militärführung in ihrem Selbstverständnis als Hüter des kemalistischen Erbes immer öfter gefordert, in das politische Geschehen einzugreifen, vor allem um den Einfluß der islamistischen Kräfte zurückzudrängen.

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Die Wahlen und die neue Regierung


Schwächung des Zentrums,
Stärkung der Extreme

Mit den Parlamentswahlen vom 18. April 1999 erreichten die Kräfte des Zentrums einen neuen Tiefstand, während die extremen Gruppierungen einen bisher nicht erreichten Stimmenanteil für sich verbuchen konnten (vgl. Anhang).

Die seit den 50er Jahren dominierende Kraft der türkischen Politik, die rechte Mitte, ist auf einen Stimmenanteil von 25,2 Prozent (Partei des rechten Weges – DYP und Mutterlandspartei – ANAP) zurückgefallen, wohingegen sie 1991 noch 51 Prozent der Stimmen und 1987 sogar noch 55,4 Prozent erreicht hatte. Die linke Mitte, in der die sich als Sozialdemokraten verstehenden Gruppierungen zusammengefaßt sind, konnte mit 30,9 Prozent (Demokratische Linkspartei – DSP und Republikanische Volkspartei – CHP) in etwa ihr traditionelles Ergebnis erringen, was sich wegen der Schwäche der CHP allerdings nicht in einer entsprechenden Vertretung im Parlament niederschlägt.

Die in Opposition zum Systems stehenden Parteien MHP, FP und HADEP erreichten einen kombinierten Stimmenanteil von 38,1 Prozent, nachdem sie schon 1995 mit 33,7 Prozent ein Drittel der türkischen Wähler hinter sich scharen konnten. Allerdings haben diese drei Parteien außer der Distanz zum etablierten System so gut wie nichts gemeinsam, wenn man einmal davon absieht, daß es in den Reihen der Nationalisten auch zahlreiche Anhänger eines traditionellen, stark religiös geprägten Gesellschaftsverständnisses gibt und daß es in der Tugendpartei einen „kurdischen" Flügel gibt, der zum Teil auch kurdisch-nationale Positionen auf religiöser Grundlage vertritt.

Das erhebliche Maß an politischer Systemerosion wird auch darin sichtbar, daß die drei führenden Parteien der Wahl vom 18. April ihr Ergebnis wesentlich der in ihrem Auftreten oder in ihrer Programmatik zum Ausdruck kommenden Systemdistanz verdanken: Ecevits DSP hat die Wahlen vor allem deshalb gewonnen, weil ihr Vorsitzender als einzige der eta-

blierten politischen Führungspersonen von der Bevölkerung für ehrlich, bescheiden und nicht korrumpierbar gehalten wird und dieses Image auf die Partei abstrahlte. Die MHP unter ihrem neuen Vorsitzenden Devlet Bahçeli profitierte von dessen gemäßigtem Auftreten sowie von dem Umstand, daß sie als einzige der etablierten Parteien noch nicht in der Regierungsverantwortung und damit auch nicht in die zahlreichen Skandale verwickelt war, die insbesondere den Ruf der Mitte-Rechts-Parteien ruiniert haben. Die Tugendpartei konnte trotz verschiedener innerparteilicher Turbulenzen das in vielen Umfragen ermittelte Wählerpotential des politischen Islam voll ausschöpfen, in dem sich religiös fundierte Opposition gegen das kemalistische System und politische Unzufriedenheit der „Verlierer" der türkischen Modernisierung treffen.

Insgesamt bringt das Wahlverhalten eine deutliche Entfremdung der Bevölkerung von den politischen Kräften zum Ausdruck, die sie zu repräsentieren vorgeben. Der gesellschaftliche Unterbau des politischen Systems befindet sich in starkem Fluß, ohne daß die Parteien darauf schon in erkennbarer oder gar adäquater Weise reagiert hätten.

Es fehlen ganz offensichtlich überzeugende inhaltliche und personelle Angebote, die die Wähler wieder um stabile politische Blöcke scharen können. Hinzu kommt die Spaltung der rechten und linken Mitte in rivalisierende Parteien, die mehr durch wechselseitige Animositäten ihres Führungspersonals als durch echte programmatische Unterschiede getrennt sind. Die daraus resultierende Zersplitterung der Wähler kommt letztlich verstärkt den Anti-System-Parteien zugute, die eine überproportionale Wirkung im politischen System entfalten können.


Staatsautorität vor Bürgerrechten

Diesen Mißstand wird auch die neue Regierungskoalition von DSP, MHP und ANAP unter Ministerpräsident Bülent Ecevit nur schwer beseitigen können. Sie verfügt mit 351 Sitzen im 550 Abgeordnete starken Parlament über eine komfortable Mehrheit, die es ihr sogar erlaubt, verfassungsändernde Vorhaben mit Aussicht auf Erfolg anzugehen. Diese numerische Stärke dürfte auch dazu beitragen, daß die Koalition eine längere Lebensdauer erwarten kann als ihre Vorgängerinnen der letzten Legislaturperiode, in der die Türkei zwischen Dezember 1995 und April 1999 immerhin vier Regierungen verschliß. Die Türkei kann also mit einer längeren Periode stabilen Regierens rechnen, von der man sich auch Fortschritte bei der Bewältigung der enormen wirtschaftlichen Strukturprobleme erwarten kann.

Allerdings zeigt auch Ecevits Koalition kaum eine größere inhaltlich-programmatische Kohäsion als alle seit 1991 amtierenden Vorgängerinnen. Die links-nationalistische DSP und die rechts-nationalistische MHP weisen nur hinsichtlich der Verteidigung und Bewahrung der nationalen Interessen der Türkei und der unreflektierten Wertschätzung staatlicher Autorität Gemeinsamkeiten auf. Doch haben sie hierfür durchaus unterschiedliche ideologische Wurzeln: bei der DSP die kemalistische Nationalstaats- und Nationsidee, bei der MHP eindeutig ethnisch-rassistisch geprägte Vorstellungen einer großen türkischen Nation mit jahrtausendealter Geschichte. Die ANAP als dritte, allerdings deutlich kleinere Kraft im Bunde verfolgt eher eine pragmatische Politik der Vertretung nationaler Interessen auf der Grundlage eines gemäßigten Kemalismus. Dafür dürfte sie in ihrer Mehrheit aber größere Sympathien für die von der MHP angestrebte Berücksichtigung traditionell-religiöser Anliegen und Projekte haben als die stark kemalistisch und damit säkularistisch geprägte DSP.

Differenzen gibt es auch zwischen der eher liberal-marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsprogrammatik der ANAP und den von einer stärker staatswirtschaftlich geprägten Grundhaltung gebremsten diesbezüglichen Bekenntnissen der DSP und der MHP. Diese Unterschiede treten allerdings hinter der alle drei Partner einenden Einsicht zurück, daß die über ein Jahrzehnt aufgestauten strukturellen Wirtschaftsprobleme der Türkei wohl nur durch entsprechend drastische Maßnahmen zur Anpassung der Strukturen des Landes an die Regeln der globalisierten Wettbewerbswirtschaft zu lösen sind. In diesen Zusammenhang gehören die in den ersten Wochen der Ecevit-Regierung durchgesetzten Maßnahmen, einschließlich entsprechender Verfassungsänderungen, zur Erleichterung der Privatisierung durch die Einführung eines internationalen Schiedsgerichtsverfahrens, zur Reform der Sozialversicherung durch eine deutliche Heraufsetzung des Rentenalters und zur Bankengesetzgebung sowie die Pläne zur Beseitigung investitionshemmender Regelungen im erst im letzten Jahr reformierten Steuersystem. Diese Maßnahmen haben das Ziel, das Vertrauen der internationalen Finanzorganisationen und Finanzmärkte in die türkische Wirtschaft zu stärken.

Auf dieser Grundlage könnte dann ein längerfristiges Programm zur nachhaltigen Korrektur der makroökonomischen Ungleichgewichte, insbesondere durch die Rückführung der chronischen Haushaltsdefizite, in Angriff genommen werden. Hierfür hat der IWF bereits Unterstützung in Form eines Beistandskredites signalisiert. Dabei muß die Regierung allerdings darauf achten, daß sie die Erwartungen ihrer Anhänger auf eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse der breiten städtischen und ländlichen Massen nicht enttäuscht. Dies ist in einer Gesellschaft, die durch eine hohe Binnenmigration, unkontrollierte Urbanisierung, enorme Wohlstandsunterschiede und einen hohen Anteil junger, arbeitsuchender Menschen an der Gesamtbevölkerung gekennzeichnet ist, eine enorme politische Herausforderung. Sie dürfte durch die anstehende Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Erdbebenkatastrophe vom 17. August 1999 zusätzlich erschwert werden.

Noch schwieriger dürfte es für die Koalition sein, die politischen Strukturprobleme anzugehen. Hier ist nicht nur mit erheblichem Widerstand der Militärführung zu rechnen, sondern auch innerhalb der Koalition gibt es deutlichen Widerstand gegen eine weitgehende Liberalisierung des politischen Lebens etwa durch den Verzicht auf das Gesinnungsstrafrecht, gegen politische Zugeständnisse an kurdische Forderungen oder gegen eine Duldung des politischen Islam – kurz gegen alles, was als eine Schwächung des Staates und seiner Autorität empfunden wird. Damit setzt sich die Regierung in Gegensatz zur wachsenden Minderheit politisch mündiger Bürger, die vor allem in den Städten des Landes den Kern der sich zunehmend selbstbewußter artikulierenden Zivilgesellschaft bildet.

Die politischen Grundlinien der Koalition sind also einmal durch bewußt oder widerstrebend akzeptierte marktorientierte wirtschaftspolitische Strukturreformen gekennzeichnet und zum anderen durch das Festhalten am Vorrang der staatlichen Sicherheitsinteressen vor bürgerlichen Freiheitsrechten. Dieser Ansatz birgt das Risiko, sowohl die auf eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände gerichteten Erwartungen der türkischen Massen als auch die Hoffnungen der demokratisch orientierten Minderheit unter der städtischen Bevölkerung zu enttäuschen. Während letzteres die Regierenden weniger stören wird, darf man annehmen, daß die machtpolitisch ratsame Rücksichtnahme auf die Erwartungen der eigenen Anhänger die Koalition immer wieder zu populistischen Sünden gegen den reinen wirtschaftlichen Konsolidierungskurs verführen wird.

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Die Kurdenfrage nach Öcalan

In der Kurdenfrage steht die Türkei am Scheideweg. Noch nie seit dem Aufflammen der PKK-Aktionen im August 1984 war die Möglichkeit für eine politische Lösung so groß wie heute. Doch kann es genau so gut zu einer erneuten Verhärtung der Fronten kommen, in deren Folge die Gewaltaktionen wieder zunehmen und der Kampf der kurdischen Nationalisten gegen den türkischen Staat in eine neue Runde eintritt. Diese kann dann Jahre oder Jahrzehnte dauern und zu einer endgültigen Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Türken und Kurden führen.

Diese Situation ist die Folge der Verhaftung und Verurteilung des PKK-Führers Abdullah Öcalan. Durch sie hat der türkische Staat überzeugend gezeigt, daß er letztlich in der Lage ist, mit dem Gewaltterror der Kurdenorganisation fertig zu werden. Die PKK, insbesondere Öcalan selbst, haben andererseits eingesehen, daß sie die militärische Auseinandersetzung mit der Türkei verloren haben und versuchen nun, ihr Anliegen auf der politischen Schiene weiter zu verfolgen.

Doch haben beide Seiten ihre eigentliche Bewährungsprobe noch vor sich: Die türkische Führung muß zeigen, daß sie nach dem militärischen Sieg auch zur dauerhaften politischen Bereinigung des nationalen Kurdenproblems in der Lage ist. Die PKK muß den Nachweis erbringen, daß ihr Bekenntnis zur politischen Lösung mehr ist als ein vorübergehender taktischer Schwenk in einer nahezu ausweglosen Lage. Insbesondere müssen Öcalan und die restliche PKK-Führung zeigen, daß die für alle überraschenden Bekenntnisse Apos zum politischen Ausgleich mit dem türkischen Staat auch von praktikablen Vorstellungen über die konkrete Ausgestaltung der politischen Lösung getragen werden.

Eine Beendigung der Kämpfe ist nur der erste Schritt auf einem mühsamen Weg der Verständigung, für den beide Seiten bisher wenig Vorarbeit geleistet haben. Mehrere Faktoren spielen für die weitere Entwicklung eine wichtige Rolle: Zum einen muß die PKK irgendwie nachweisen, daß ihre Kampfeinheiten sich tatsächlich aus der Türkei zurückgezogen haben und daß die Beendigung der Gewalt von Dauer ist. Zum zweiten muß der türkische Staat konkrete Schritte zur Entspannung der politischen Situation im Kurdengebiet tun, die erkennen lassen, daß er bereit ist, dem kurdischen Anliegen nach Anerkennung der eigenen Identität innerhalb des türkischen Staatsverbandes Rechnung zu tragen. Dabei sollte von kurdischer Seite zunächst nicht erwartet werden, daß die Regierung in ein politisches Gespräch mit kurdischen Organisationen über die zu ergreifenden Maßnahmen eintritt, von Verhandlungen oder einer Einbeziehung der PKK gar nicht zu reden. Türkische Maßnahmen mit Signalcharakter könnten sein der Verzicht auf das Verbot der pro-kurdischen HADEP (Arbeitspartei des Volkes), die Aufhebung der Ausnahmezustandsverwaltung in den letzten Provinzen des Südosten und die ungehinderte Zulassung von kurdischen Medien in der Türkei. Drittens wird von entscheidender Bedeutung sein, ob das gegen Öcalan verhängte Todesurteil vollstreckt wird. Kommt Öcalan an den Galgen, dann wird der bewaffnete Kampf der PKK sofort wieder aufflammen und wahrscheinlich noch unerbittlicher als bisher geführt werden. Insbesondere dürften dann auch die Ballungsgebiete in der Westtürkei nicht mehr von systematischen Gewaltaktionen verschont bleiben, was bisher weitgehend der Fall war.

Dennoch ist keineswegs sicher, daß die Führung der Türkei die gegenwärtige Situation als Chance für einen grundlegenden Ausgleich mit den kurdischen Nationalisten ansieht. Das Gefühl des Sieges über die als Bedrohung der nationalen Existenz empfundene „separatistische kurdische Terrororganisation" ist groß und kann viele überzeugte Kemalisten in Politik, Staatsführung, Militär und Medien zu der Annahme verführen, daß mit diesem Sieg auch die grundsätzliche Überlegenheit der kemalistischen Staats- und Nationsdoktrin bewiesen worden ist. Forderungen nach der Akzeptierung einer eigenen kurdischen Identität und daraus abgeleiteter politischer Rechte könnten nunmehr erst recht als Versuch einer auch von feindlich gesonnenen ausländischen Kräften geförderten Spaltung des türkischen Staates und seiner Nation zurückgewiesen werden. Diese national-türkische Sichtweise herrscht in Kreisen der DSP-Führung und bei der Führung und Anhängerschaft ihres Koalitionspartners MHP vor und wird von zahlreichen Medien in ihrer Berichterstattung und Kommentierung über das Kurdenproblem auch in der Bevölkerung am Leben gehalten.

Es ist keineswegs gewiß, daß die liberalen Kräfte in der Türkei und die diskrete Einflußnahme der amerikanischen Regierung hier einen Wandel bewirken können. Die bisher von der Regierung Ecevit in dieser Hinsicht angekündigten Maßnahmen, für den Südosten ein umfangreiches wirtschaftlich-soziales Entwicklungsprogramm aufzulegen und durch das „Reuegesetz" PKK-Kämpfer, die ihre Waffen abliefern, weitgehend von Strafverfolgung freizustellen, sind allenfalls geeignet, die Lage in den kurdischen Provinzen vorübergehend zu entspannen, sie können jedoch nicht weitergehende politische Schritte zur längerfristigen Beseitigung des Grundproblems ersetzen. Letztlich wird eine grundlegende Änderung nur durch ein radikales Umdenken der türkischen Führungseliten zu erreichen sein, die entsprechende Gesetzes- und Verfassungsänderungen nicht länger als Unterminierung des Staates und seiner Autorität begreifen dürfen, sondern als notwendigen Schritt, um die Türkei auf das „Niveau der zeitgenössischen Zivilisation" zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu bringen. Ein Schwenk in der Kurdenpolitik wäre nämlich gleichzeitig mit einer weitreichenden allgemeinen Liberalisierung des politischen Lebens verbunden, da die Mehrzahl der Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit der Verfolgung „separatistischer Bestrebungen" stattfinden.

Unterbleiben diese Maßnahmen und wird Öcalan hingerichtet, dann wäre der militärische Sieg über die PKK nichts weiter als eine weitere Etappe in der nunmehr schon über hundert Jahre andauernden Auseinandersetzung der türkischen Zentralmacht mit den kontinuierlich gewachsenen kurdischen Identitätsforderungen. Der Konflikt wird dann früher oder später wieder aufbrechen. Angesichts der durch die Türkei nicht zu verhindernden Internationalisierung des Kurdenproblems, die durch die Entwicklungen im Nordirak noch gefördert wird, dürfte das eher früher als später der Fall sein. Darüber hinaus würde auch die internationale Isolierung der Türkei größer, weil die Hinrichtung Öcalans nicht nur das Verhältnis zu Europa weiter zerrütten, sondern auch in den USA die anti-türkische Stimmung im Kongreß wachsen und der Administration die Fortsetzung der strategischen Sonderbeziehung zu Ankara schwerer fallen dürfte.

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Der Kulturkampf gegen den politischen Islam

Der türkische Kulturkampf zwischen den Verteidigern der säkularistischen Republik Kemal Atatürks und den Anhängern des politischen Islam dauert unvermindert an. Das Mitte Januar 1998 vom Verfassungsgericht verhängte Verbot der Wohlfahrtspartei und das gleichzeitig ausgesprochene fünfjährige Politikverbot für ihren Vorsitzenden Necmettin Erbakan blieben praktisch wirkungslos. Mit der Tugendpartei stand die Nachfolgeorganisation schon bereit, und binnen weniger Wochen hatte sich das islamistische Lager der Türkei neu eingerichtet, einschließlich der andauernden „Fernsteuerung" durch Erbakan aus dem Hintergrund.

Der kemalistische Staat setzte daher seinen Kampf gegen die „religiöse Bedrohung" der säkularistischen Republik fort, wobei allerdings der Chef der regierenden Dreierkoalition aus ANAP, DSP und DTP, ANAP-Chef Mesut Yilmaz, zunehmend weniger Bereitschaft zeigte, den Vorgaben des Militärs im Nationalen Sicherheitsrat so selbstverständlich Folge zu leisten, wie er es im Sommer 1997 mit der rigorosen Durchsetzung der achtjährigen Schulpflicht noch getan hatte. Er wurde deswegen im März 1998 vom türkischen Generalstab in einer Erklärung unmißverständlich zur Ordnung gerufen, in der es hieß: „… niemand, egal in welcher Position oder Funktion, kann in der

Verfolgung seiner eigenen Interessen oder Bestrebungen eine Haltung an den Tag legen oder Vorschläge und Kommentare verbreiten, die die Entschiedenheit der türkischen Streitkräfte entmutigen, durcheinanderbringen, schwächen oder überdecken, gegen separatistische oder fundamentalistische Aktivitäten zu kämpfen, die gegen die Sicherheit des Landes gerichtet sind."

In der folgenden Zeit kam es zu einer rigorosen Durchsetzung der „Kleiderordnung" an zahlreichen Hochschulen, was zum Ausschluß von „verschleierten" Studentinnen und von Studenten mit religiöser Barttracht von den Prüfungen führte. Der Streit um das „Kopftuchverbot" flammt seitdem an den Hochschulen des Landes immer wieder auf und hat auch schon zur Suspendierung von Dekanen einzelner Fakultäten geführt, die sich den Anordnungen des Obersten Hochschulrates nicht fügen wollten. Die MHP hat sich im Wahlkampf für eine Aufhebung der umstrittenen Anordnung stark gemacht, konnte dies aber in der Regierung bisher gegen den Widerstand der strikt kemalistischen DSP nicht durchsetzen.

Doch auch der staatliche Kampf gegen den organisierten politischen Islam ließ nicht nach. So wurde der Oberbürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, einer der populärsten Vertreter der „jungen Garde" in der Tugendpartei, zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, weil er im November 1997 in einer Rede in der südosttürkischen Stadt Siirt seine Zuhörer durch ein Zitat des geistigen Vaters des republikanischen Nationalismus, Ziya Gökalp, angeblich zur religiös begründeten Zwietracht in der Gesellschaft angestachelt haben sollte. Gewollte Nebenwirkung der Verurteilung ist der lebenslange Ausschluß Erdogans von allen politischen Ämtern. Als seine Berufung gegen das Urteil zurückgewiesen wurde, mußte er folglich sein Istanbuler Amt abgeben.

Obwohl die Tudendpartei unter ihrem farblosen Vorsitzenden und langjährigen Weggefährten Erbakans, Recai Kutan, sich redlich mühte, jeden Anschein religiösen Fundamentalismus zu vermeiden, eröffnete der Generalstaatsanwalt beim Kassationsgericht Anfang April 1999 auch gegen sie ein Verbotsverfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht. Er begründete dies sowohl mit Verstößen gegen die säkularistische Ordnung der Republik als auch mit dem Vorwurf, die Tugendpartei sei die Fortführung einer verbotenen Partei, der Wohlfahrtspartei, was nach türkischem Recht nicht zulässig ist. Er erneuerte und verschärfte seinen Verbotsantrag nach den Wahlen vom April 1999 aus Anlaß der „Kavakçi-Affäre", indem er nunmehr auch ein Politikverbot für alle Abgeordneten der FP forderte: Als in der Eröffnungssitzung des neuen Parlamentes Anfang Mai 1998 eine der drei gewählten weiblichen Abgeordneten der FP, Merve Kavakçi, mit einem Kopftuch bekleidet den Plenarsaal betrat, kam es zu Tumulten seitens der DSP-Abgeordneten, und die Abgeordnete wurde daran gehindert, ihren parlamentarischen Eid zu leisten. Ihr wurde später aus formalen Gründen die türkische Staatsbürgerschaft aberkannt.

Diese und andere Vorfälle, wie der fehlgeschlagene Versuch, den religiös orientierten Unternehmerverband MÜSIAD zu verbieten, zeigen den ungebrochenen Willen der Militärführung und anderer Vertreter der kemalistischen Staatselite, den politischen Islam aus dem öffentlichen Leben der Türkei zu verbannen. Dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Das Militär kann jene Entwicklungen nicht zurückdrehen, die es nach dem Putsch vom 12. September 1980 selbst mit in Gang gesetzt und unter der Regierung von Turgut Özal in den 80er Jahren zumindest stillschweigend hingenommen hat. Es ist naiv zu glauben, Religion lasse sich als gesellschaftlicher Kitt instrumentalisieren, ohne daß es zur parteipolitischen Nutzung kommt.

Und diese ist in der Türkei nicht nur auf die Tugendpartei beschränkt. Wie die jüngste Praxis der MHP, aber auch jene der ANAP oder Tansu Çillers wiederholte Anleihen bei der religiösen Symbolik zeigen, ist das gesamte traditionelle bürgerliche Lager der rechten Mitte nicht frei von religiösen Einflüssen. Das prominenteste Beispiel hierfür bietet gegenwärtig die islamistische Gemeinschaft von Fethullah Gülen, der auf der Grundlage religiöser Führerschaft über ein riesiges Imperium von privaten Schulen, Schüler- und Studentenwohnheimen, Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen sowie anderen Wirtschaftsunternehmen gebietet. Wegen des von ihm nach außen vertretenen staatstreuen, moderaten Islam genießt er die Sympathien fast aller politischen Kreise des Landes, einschließlich des überzeugten Kemalisten Ecevit. Lediglich die Militärführung begegnet den Futhullahcis mit äußerstem Mißtrauen, wird Gülen und seinen Anhängern doch auch nachgesagt, sie verfolgten eine besonders infame Strategie der langfristigen Unterwanderung des Staates durch äußere Anpassung und strikte Verheimlichung der eigentlichen Ziele der Bewegung, die letztlich auf die islamistische Umwandlung der Republik Türkei hinausliefen. Bis jetzt ist es Gülen jedoch gelungen, sich und sein Imperium der staatlichen Verfolgung der islamistischen Umtriebe weitgehend zu entziehen.

Auch für die Tugendpartei und ihre graue Eminenz Erbakan haben sich die politischen Überlebenschancen in den letzten Wochen etwas gebessert. Um die Zustimmung der FP zu den Verfassungsänderungen zu erhalten, die für die Einführung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit bei Privatisierungen notwendig waren, stimmten Ecevit und seine DSP im Gegenzug dafür Änderungen des Parteiengesetzes zu, die ein Verbot der Tugendpartei erschweren und gleichzeitig Erbakan die Möglichkeit geben, als „Unabhängiger" in die Politik zurückkehren zu können. Es bleibt abzuwarten, wie die Militärführung auf diese Entwicklung reagiert. Allerdings haben auch der Einfluß und das Ansehen des Generalstabs in der Öffentlichkeit durch das schlechte Bild gelitten, das das Militär in der jüngsten Erdbebenkatastrophe abgab.

Letztlich haben auch die Wahlen vom 18. April gezeigt, daß staatliche Repression in Form juristischer und anderer Verwaltungsmaßnahmen nicht der geeignete Weg ist, mit dem politischen Islam in der Türkei fertig zu werden. Zwar verlor die Tugendpartei im Vergleich zum Ergebnis ihrer Vorläuferin RP vom Dezember 1995 etwa sechs Prozentpunkte in der Wählergunst, wurde aber gleichwohl drittstärkste Partei, mit deutlichem Abstand vor den Vertretern der bürgerlichen rechten Mitte. Zudem schnitten die Islamisten bei den gleichzeitig stattfindenden landesweiten Kommunalwahlen deutlich besser ab und konnten zum Beispiel die Oberbürgermeisterposten in Istanbul und Ankara erfolgreich verteidigen, obwohl nach dem Politikverbot von Tayyip Erdogan in Istanbul ein wesentlich unbekannterer Kandidat antrat. Der politische Einfluß der Islamisten wird nur dann entscheidend zu schwächen sein, wenn die nicht-religiösen Parteien den Wählern das bessere Programm, die besseren Politiker und, vor allem, eine bessere Politik anbieten als die Tugendpartei. Das blamable Auftreten der etablierten politischen Klasse und der staatlichen Repräsentanten während der Erdbebenkatastrophe hat jedoch erneut gezeigt, wie wenig die Vertreter des Systems die Zeichen der Zeit begriffen haben.

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Die Notwendigkeit eines neuen „Gesellschaftsvertrages"

Der Ausweg aus dem gegenwärtigen politischen Dilemma der Türkei kann allerdings nicht in der Rückkehr zum „ursprünglichen Kemalismus" liegen. Wie alle staatsfixierten und latent autoritären Entwicklungskonzepte wird auch der Kemalismus dysfunktional, wenn die gesellschaftliche Modernisierung einen Grad erreicht hat, bei dem die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr bereit ist zu folgen, sondern zunehmend beansprucht, selbst Herr ihres Geschicks zu sein. Die Türkei steht heute an diesem Punkt.

Dem steht auch nicht entgegen, daß das Militär trotz der Schatten, die jetzt auf seine Reputation gefallen sind, wohl immer noch jene Institution mit dem höchsten öffentlichen Ansehen ist. Doch ist dieser Umstand eher ein Ausdruck für das allgemeine Gefühl von Unsicherheit, das in weiten Kreisen der Bevölkerung vorherrscht, weil ihm, vom Islamismus einmal abgesehen, keine vertrauenswürdigen Perspektiven für die Zukunft angeboten werden. In dieser Situation wird die starke Institution Militär als ein nützlicher Anker empfunden, doch sollte das nicht als blindes Vertrauen in die Richtigkeit der von der Militärführung eingeschlagenen politischen Linie angesehen werden. Die Generale sind 1983 schon einmal belehrt worden, daß das Volk es vorzieht, seine Entscheidungen selbst zu treffen.

Die Aufgabe der politischen Kräfte der Türkei liegt heute in der Entwicklung einer neuen gesellschaftlich-politischen Synthese, die auf den Errungenschaften der letzten 75 Jahre aufbaut, sie aber zugleich überwindet. Das Leitmotiv dieser Synthese kann nicht „Laizismus" oder „Nationalismus" sein, aber auch nicht „Islamisierung"; es kann nur „liberale Demokratie" heißen. Nur der überzeugende Nachweis, daß die Werte der liberalen Demokratie besser geeignet sind, die konkreten Fortschritte der bisherigen Modernisierungspolitik zu bewahren und auszubauen, kann der andauernden Verfestigung latent autoritärer und staatsfixierter Strukturen und Wertesysteme entgegenwirken, mögen sie nun im Gewand des traditionellen Kemalismus oder des traditionellen Islam angeboten werden. Dafür ist es aber notwendig, daß die demokratischen Politiker der Türkei nicht nur die institutionellen Regelmechanismen einer demokratischen Gesellschaft verinnerlichen, sondern in weitaus größerem Maße durch ihre Politik zeigen, daß sie auch und vor allem das Wertesystem der liberalen Demokratie durchsetzen wollen.

Gegenwärtig sind die Aussichten für einen neuen „Gesellschaftsvertrag" auf der Grundlage der liberalen Demokratie in der Türkei jedoch nicht günstig. Die große Mehrheit der herrschenden Elite tendiert eher zur Sicherung des überkommenen Systems, allenfalls zu marginalen Veränderungen im demokratischen Sinn.

Das zeigt einmal, die Systemdiskussion, die im Zusammenhang mit den im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen entstanden ist. Hier geht es ausschließlich um institutionelle Fragen, nämlich um eine eventuelle größere Systemstabilität durch den Übergang zu einer Präsidialdemokratie. Die enge Verknüpfung dieses Themas mit der Frage, ob es ratsam oder gar notwendig sei, dem amtierenden Präsidenten Süleyman Demirel eine – eigentlich ausgeschlossene – zweite Amtsperiode zu ermöglichen, indem eine entsprechende Verfassungsänderung vorgenommen wird, zeigt jedoch, daß es hier weniger um eine Systemreform, sondern vielmehr um die Bewahrung politischer Machtpositionen geht. Es ist damit zu rechnen, daß diese Diskussion in den kommenden Monaten völlig in den Strudel machttaktischer und parteipolitischer Grabenkämpfe um die Nachfolge Demirels gezogen wird, gibt es doch neben dem Amtsinhaber noch eine Reihe anderer Politiker, die es in das höchste Staatsamt drängt. Die Bewältigung dieses Problems wird zu einer ernsten Herausforderung für den Zusammenhalt von Ecevits Koalitionsregierung.

Ein zweites Indiz für die Neigung der politischen Führung, am überkommenen System festzuhalten, ist das jüngst verabschiedete Amnestiegesetz und die vorangegangene Diskussion. Das Gesetz begünstigt „normale" Straftäter und benachteiligt Gesinnungsstraftäter. Zwar ist vorgesehen, daß auch sogenannte politische Straftäter in den Genuß des Straferlasses oder einer Strafminderung kommen sollen, doch ist nicht daran gedacht, jene Strafvorschriften zu ändern, die diese Leute überhaupt ins Gefängnis gebracht haben. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist also davon auszugehen, daß Personen wie der frühere Vorsitzende des Menschenrechtsvereins, Akin Birdal, demnächst wieder vor den Schranken des Gerichts stehen, weil sie ihre politische Überzeugung öffentlich zum Ausdruck bringen. Eine so gestaltete Amnestie für politische Straftaten bleibt demokratische Augenwischerei und hat mit einer Liberalisierung des Systems nichts zu tun.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der politischen Grundhaltung der die Koalition tragenden Parteien ist nicht damit zu rechnen, daß in der Türkei in absehbarer Zeit ein frischer politischer Wind wehen wird. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Staat und seinen Repräsentanten wird andauern. Mittelfristig wird entscheidend sein, ob aus der jüngeren Generation heraus, die zunehmend an die Hebel der Macht in Staat und Gesellschaft kommt, neue Impulse zu erwarten sind. In zehn Jahren wird die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung von den Erfahrungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels geprägt sein, der gegen Mitte der 80er Jahre einsetzte und immer noch anhält. Die große Frage ist, ob diese von der zunehmenden Globalisierung geprägte Generation daran festhält, das Land mit den europäischen nationalstaatlichen Rezepten des 19. Jahrhunderts in das 21. zu führen.

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Außenpolitik: Das Image der selbstbewußten Regionalmacht

Das Ende des Ost-West-Konflikts hat auch zu erheblichen Veränderungen im außen- und sicherheitspolitischen Umfeld der Türkei geführt. Als Folge davon haben sich die Bindungen des Landes zu seinen europäischen Partnern und Verbündeten gelockert. Gleichzeitig wuchs das türkische Selbstbewußtsein in den Beziehungen zu den Nachbarländern in der Region. Die traditionelle außenpolitische Passivität und Zurückhaltung, die vor allem aus Atatürks Leitspruch „Friede zu Hause, Friede in der Welt" resultierte, weicht zunehmend einem selbstbewußten Auftreten, das auch die Bereitschaft zu wohlkalkulierten Konflikten mit Nachbarländern einschließt, wenn dies für die Durchsetzung der nationalen Interessen für sinnvoll erachtet wird.

Diese Interessen sind hauptsächlich das Resultat einer multidimensionalen Risiko- und Bedrohungswahrnehmung, die die traditionelle Perspektive des Ost-West-Antagonismus abgelöst hat. Einige wichtige Elemente dieser neuen türkischen Risikowahrnehmung sind die zunehmende Internationalisierung der Kurdenfrage, die Angst, von der entstehenden neuen europäischen Politik- und Sicherheitsordnung ausgeschlossen zu werden, sowie die Befürchtung einer weitgehenden Beschneidung des türkischen Einflusses in Zentralasien, insbesondere in der energiereichen Region um das Kaspische Meer. Darüber hinaus wird das türkische Bedrohungsgefühl immer wieder von der Vorstellung gespeist, daß fremde Mächte, vor allem europäische Staaten, ein Komplott zur Destabilisierung und territorialen Desintegration der Türkei schmieden, um sich eines als lästig und gefährlich empfundenen Konkurrenten im Kampf um regionalen Einfluß zu entledigen.

Vor diesem Hintergrund von realen internationalen Veränderungen und gewandelten Risiko- und Bedrohungswahrnehmungen vollzieht sich ein allmählicher Wandel der türkischen Außenpolitik in zweifacher Hinsicht. Zum einen sucht die türkische Führung nach einem neuen Gleichgewicht zwischen kooperativen Engagements in alten und neuen multinationalen Bezugsrahmen und der mehr oder weniger selbständigen Verfolgung nationaler Interessen auf der Grundlage einer deutlich gewachsenen und noch zunehmenden Militärmacht. Zum anderen wächst in der türkischen politischen Führung die Suche nach neuen außenpolitischen Horizonten jenseits der traditionellen Westbindung und Europaorientierung. Die Türkei will ihre alten Beziehungen zu den westlichen Verbündeten nicht kappen, aber neu definieren und gleichzeitig eine neue bedeutende Rolle im eurasischen Kontext spielen. In den Worten von Außenminister Cem: „Die heutige Türkei strebt danach, der führende wirtschaftliche und politische Akteur in Eurasien zu werden." Sie kommt in dieser Hinsicht amerikanischen geostrategischen Interessen sehr entgegen.

Bisher hat sich in der Türkei aber noch keine neue, von einem nationalen Konsens getragene außen- und sicherheitspolitische Gesamtstrategie herausgebildet, die eine mittelfristig verläßliche Positionierung des Landes in der neuen internationalen Ordnung erlauben würde. Dafür sind die in der nationalen außenpolitischen Debatte über die Rolle und Stellung der Türkei in der Welt nach dem Kalten Krieg von verschiedenen Kräften vertretenen Standpunkte noch zu unklar und auch zu divergierend.

Die Fortsetzung der klassischen Westorientierung als Leitbild der türkischen Außenpolitik wird vor allem vom Militär und der Masse der wirtschaftlichen Führungskräfte der türkischen Großindustrie propagiert. Zu ihnen gesellen sich die traditionellen „Westernisierer" des politischen Zentrums, die man hauptsächlich in den Reihen der CHP, der DYP und der ANAP finden kann sowie bei der Mehrheit der Medienkolumnisten. Diese Kräfte sind allerdings geteilter Meinung darüber, ob die Türkei ein genuines Recht auf den EU-Beitritt hat, das ihr von der Union vorenthalten wird, oder ob es vielmehr darauf ankommt, daß die Türkei durch konkrete politische Anstrengungen den Nachweis erbringt, daß sie die für eine EU-Mitgliedschaft unabdingbar notwendigen Vorbedingungen erfüllen kann und will. Während Militärs und Politiker eher zur ersten Ansicht tendieren, weisen besonders die Wirtschaftsvertreter auf die notwendigen Eigenanstrengungen und Reformen hin. Einig sind sich alle Vertreter der Westorientierung jedoch darin, daß es zu dieser Politik keine tragfähige Alternative gibt. Die Erweiterung des außenpolitischen Horizontes kann allenfalls eine wünschenswerte Ergänzung, aber keine grundsätzliche Alternative sein: Eurasien ist kein Ersatz für Europa.

In diesem Punkt vertreten die traditionellen und die „neuen" Nationalisten eine abweichende Haltung. Sie finden sich vorwiegend in der MHP und in großen Teilen der DSP-Führung sowie bei einer Minderheit der öffentlichen Meinungsführer. Doch selbst in der DYP und der ANAP lassen sich nationalistische Gruppierungen ausmachen. Die Vertreter dieses Standpunkts sind sich darin einig, daß sich die türkische Außenpolitik zuvörderst an den nationalen Interessen des Landes zu orientieren habe, wie sie in der Position einer künftigen Regionalmacht zum Ausdruck kommen. Gute Beziehungen zu Europa und dem Westen werden nicht als ein a priori türkischer Außenpolitik betrachtet, sondern als Instrument zur Verbesserung des internationalen Status der Türkei. In dieser Perspektive sind der Ausbau der Beziehungen mit Israel oder die Sicherung des türkischen Einflusses in der kaspischen Energiekonkurrenz von gleichrangiger Bedeutung wie der Beitritt zur EU. Die EU-Mitgliedschaft ist nur dann akzeptabel, wenn sie nicht an die Aufgabe essentieller nationaler Interessen geknüpft und nicht mit dem Verlust oder einer einschneidenden Beschränkung der politischen Handlungsfreiheit des Landes verbunden ist. Unter den „Nationalisten" betont die DSP eher ganz allgemein das Ziel der Regionalmacht, während die MHP besonderen Wert auf die Stärkung der Beziehungen zu den zentralasiatischen Turkrepubliken legt und dabei längerfristig auch die Bildung eines Commonwealth der Turkstaaten unter Führung Ankaras im Auge hat.

„Westernisierer" und „Nationalisten" sind sich darin einig, daß die Fortsetzung der türkischen NATO-Mitgliedschaft die beste Garantie für die Sicherheit des Landes bildet. Hierbei spielen besonders enge Beziehungen zu den USA eine hervorgehobene Rolle. Dabei wünscht man sich ein größeres amerikanisches Verständnis für die Schwierigkeiten, mit denen sich die Türkei im Innern und nach außen konfrontiert sieht. Dieses Verständnis sollte sich in einer großzügigeren amerikanischen Unterstützung in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht äußern.

Eine besondere außenpolitische Haltung beziehen die islamistischen Kräfte, die vor allem von der Tugendpartei und ihren Anhängern in der Medienwelt und in Intellektuellenkreisen repräsentiert werden. Sie befürworten eine Konzentration auf die islamischen Staaten, wie sie zum Beispiel in Erbakans „D-8 Politik" zum Ausdruck kam, mit der besondere Beziehungen zu sieben anderen großen islamischen Staaten aufgebaut werden sollten. Längerfristig zielen die Islamisten auf eine deutliche Abwendung der Türkei vom Westen, um sie zu einer der führenden Mächte in der islamischen Welt zu machen. Wie ihre einjährige Regierungspraxis gezeigt hat, sind die Islamisten allerdings durchaus bereit und in der Lage, ihre konkrete Politik an die internationalen Realitäten und an die Interessen der herrschenden Kräfte in der Türkei anzupassen. Daher schließen sie enge Beziehungen zur EU und die Fortsetzung der türkischen NATO-Bindung keineswegs aus, so lange die internationale Lage dies erfordert. Dabei handelt es sich jedoch nur um einen, allerdings langdauernden Kompromiß und nicht um das Aufgeben der politischen Grundorientierung. Eine Diskussion über die Ziele einer islamistischen Außenpolitik könnte allerdings verstärkt in Gang kommen, wenn sich die gegenwärtig erkennbaren Differenzen in der Tugendpartei zwischen den Vertretern der „alten Garde" und den „jungen Reformern" fortsetzen sollten.

Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen politischen Tendenzen und angesichts der konkreten internationalen und inneren Entwicklung bestand die tatsächliche türkische Außenpolitik in den vergangenen Jahren aus einem komplexen Mix von Westorientierung und nationaler Regionalmachtambition. Der Zerfall der Sowjetunion hat dem Land in seiner regionalen Nachbarschaft ohne Zweifel neue Möglichkeiten eröffnet. Diese wurden von der türkischen Außenpolitik auch ergriffen und dazu genutzt, die Türkei als einen wichtigen regionalen Akteur zu etablieren. Gleichzeitig unterlagen die Beziehungen mit den westlichen Partnern einem erheblichen Wandel, der vor allem eine Folge des veränderten Stellenwertes im Kontext der europäischen Entwicklungen war. Hier wurde das Land politisch zunehmend marginalisiert: Die Türkei ist vom Erweiterungsprozeß der EU vorläufig ausgeschlossen und wird in den Diskussionen über die sicherheitspolitische Neuordnung Europas praktisch nicht berücksichtigt. Die Vereinigten Staaten waren nur zum Teil in der Lage und Willens, ein Gegengewicht zu den sich rapide verschlechternden Beziehungen mit den Ländern der EU zu bilden.

Als Konsequenz aus dieser Situation gewinnt das „nationalistische" Element in der türkischen Außenpolitik langsam aber stetig an Gewicht. Dieses Konzept eines im Westen rückgebundenen starken türkischen Nationalismus wird zum Markenzeichen der Außen- und Sicherheitspolitik Ankaras im beginnenden 21. Jahrhundert, falls es nicht im Innern zu einem grundlegenden Wandel in Richtung liberaler Demokratie kommt, der im Äußeren von einer deutlichen Neuorientierung der europäischen Türkeipolitik in Richtung Integration begleitet werden müßte.

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Anhang



Tabelle

Amtliches Endergebnis der Parlamentswahlen vom 18.4.1999 und Sitzverteilung




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