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Türkei : wirtschaftliche Perspektiven nach dem Erdbeben / Rainer Hermann. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1999. - 17 S. = 68 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT






[Essentials]

  • Das Erdbeben vom 17. August vertieft 1999 die Rezession. Der Wiederaufbau wird aber bereits im Jahr 2000 zu einem Wachstum von vier bis sechs Prozent führen. Das ist das Doppelte dessen, was vor dem Erdbeben prognostiziert worden war.

  • Die Türkei wird die wirtschaftlichen Folgen des Erdbebens innerhalb weniger Monate überwinden. Dazu tragen das Beistandsabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds bei, dessen Unterzeichnung noch im Herbst 1999 erwartet wird, sowie die dynamische Privatwirtschaft und die umfangreichen ausländischen Wiederaufbauhilfen.

  • Nicht abzuschätzen sind die langfristigen politischen Wirkungen des Erdbebens. Erstmals sind von einer Naturkatastrophe Personen der Ober- und der Mittelschicht betroffen. Nicht auszuschließen sind daher politische Konsequenzen. Sollte sich der Staat auf seine Kernaufgaben zurückziehen, würde die Wirtschaft zusätzliche Dynamik gewinnen. Das Versagen des Staates bei des Katastrophenhilfe hat sein Ansehen schwer geschädigt und parallel das Vertrauen, das die Bevölkerung privaten Unternehmen entgegenbringt, erhöht.

  • Als erste Regierung der neunziger Jahre hat das seit Mai 1999 amtierende Kabinett Ecevit Strukturreformen verabschiedet. Innerhalb weniger Wochen hat es eine umfassende Bankenreform durch das Parlament gebracht mit einer Verfassungsänderung, die internationale Schiedsgerichtsbarkeit ermöglicht, und die hoch defizitären staatlichen Sozialversicherungen neu geordnet. Als nächste Reformen stehen die Beschleunigung der Privatisierung an und der Abbau der Agrarsubventionen.

  • Die Verabschiedung der Reformen waren für den IWF das Signal, die Verhandlungen mit der Türkei wieder aufzunehmen. Nach dem Abschluß eines Abkommens werden ausländische institutionelle Investoren türkische Staatsanleihen kaufen. Lassen die Strukturreformen vom Jahr 2000 Inflation und Zinsen sinken, werden ausländische Anleger auch an der Börse Istanbul einsteigen. Die Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Daten könnte eine Hausse auslösen wie zuletzt in Griechenland. Die Türkei hat gute Chancen, der interessanteste Emerging Market der Region zu werden.

  • Voraussetzung dazu ist die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, die mit den Strukturreformen in Angriff genommen worden ist. Der Staatshaushalt 1999 hatte noch ein Defizit von 11,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes vorgesehen. Aufgrund des Erdbebens wird der Fehlbetrag voraussichtlich auf vorübergehend 15 Prozent steigen.

  • Neben den Portfolioinvestitionen könnten mittelfristig die ausländischen Direktinvestitionen anziehen. In den vergangenen Jahren sind sie deutlich unter den Erwartungen geblieben, vor allem aufgrund der politischen Instabilität, der hohen Inflation, der Rechtsunsicherheit und schwerfälligen Bürokratie. Die Lohnkosten in den Betrieben ausländischer Investoren liegen teilweise erheblich über denen der Reformländern Osteuropas.

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Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Perspektiven


Günstige mittelfristige Perspektiven

Das Erdbeben vom 17. August wirft das Schwellenland Türkei nicht auf die Stufe eines Entwicklungslandes zurück, auch wird es die Perspektiven seiner Volkswirtschaft nicht nachhaltig beeinträchtigen. Bereits in wenigen Monaten werden die Erdbebenschäden behoben sein, und die Wirtschaft wird auf einen Wachstumspfad zurückkehren. Dabei werden die Chancen günstig wie lange nicht sein, daß die Türkei als letztes der großen Länder am nördlichen Mittelmeer den Abstand zu anderen Mittelmeeranrainern verkürzt. Die Türkei wird dennoch auf absehbare Zeit nicht zu dem Pro-Kopf-Einkommen der anderen Länder entlang derselben Breitengrade aufschließen.

In den neunziger Jahren hatten Portugal und zuletzt Griechenland Strukturreformen durchgeführt und danach ihre gesamtwirtschaftlichen Daten erheblich verbessert. Ihre Anstrengungen wurden belohnt mit einem Aufschwung in der realen Wirtschaft und einer Hausse an den Börsen. Die Börse Athen ist im Kurs-Gewinn-Verhältnis heute dreimal so teuer wie die unterbewertete Börse Istanbul.

Der Kategorie der Emerging Markets gehören Portugal und Griechenland nicht mehr an, und in Ägypten, dem einzigen ernst zu nehmenden „aufstrebenden Markt" in der arabischen Welt, verläuft die Entwicklung eher enttäuschend. Die Türkei wäre damit der einzige Emerging Market in der Region – nach den Desinvestitionen, die 1998 in allen Emerging Markets erfolgt waren, möglicherweise einer der interessantesten aufstrebenden Märkte überhaupt. Die wenigen ausländischen Investoren in der Türkei haben nach dem Erdbeben nicht wie die einheimischen Anleger ihre Mittel aus Panik abgezogen. Sie demonstrierten damit Vertrauen in die Zukunft des Landes.

Gerechtfertigt wird das Vertrauen durch die Strukturreformen, die die Regierung Ecevit im Sommer 1999 durch das Parlament gebracht hat. Sie korrigieren alte wirtschaftspolitische Fehler. Noch im Herbst wird der Internationale Währungsfonds der Türkei einen Beistandskredit gewähren, möglich sind drei Milliarden Dollar. Das werden ausländische Investoren als ein Signal aufnehmen und in der Türkei mehr Mittel plazieren. Zunächst werden sie erstmals in größerem Umfang hochverzinsliche Staatsanleihen in Türkischer Lira kaufen, was zum Rückgang des Zinsniveaus beiträgt. Von einem Einstieg in den Anleihemarkt haben sie bisher die internationalen Rating-Agenturen abgehalten. Deren Bewertungen entsprechen nicht unbedingt dem tatsächlichen Länderrisiko. Denn die Türkei hat stets ihre nationalen und internationalen Verbindlichkeiten pünktlich bedient.

Geht als Folge der Strukturreformen die Inflation zurück und sinken die Zinsen weiter, werden ausländische Anleger zusätzlich Portfolioinvestitionen an der Börse tätigen. Sinkende Zinsen werden zudem mehr inländische Anleger an die Börse locken, so daß sich die Nachfrageseite weiter verbreitert. Auf der Angebotsseite verlängert die Privatisierung, die nach einem vorübergehenden Stocken voraussichtlich Anfang 2000 wieder an Fahrt gewinnt, den Kurszettel. Mit der Tiefe könnte der Markt reifen. Ein wachsender Markt wird die inländischen Anleger dazu bringen, die Börse als langfristige „win-win-Situation" zu verstehen und die noch vorherrschende Casino-Mentalität abzustreifen, welche die Börse lediglich als kurzfristiges Nullsummenspiel begreift.

Interessant könnten ferner Wiederaufbau-Anleihen werden. Die Türkei wird voraussichtlich solche in Europa begeben. Sie hätten den Vorteil, daß die ausländischen Geldgeber auf die Errichtung erdbebensicherer Gebäude drängen.


Wirtschaftliche Folgen des Erdbebens

Die wirtschaftlichen Schäden des Erdbebens werden schneller behoben sein als die politischen. Negativ wirkt sich auf die Wirtschaft das psychische Leid aus, das aus den 15.000 Toten und 30.000 Vermißten spricht. Die materiellen Schäden sind indessen geringer als es die hohen Opferzahlen vermuten lassen. Positiv wird sein, daß das Erdbeben den Abschluß eines Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds beschleunigt. Zudem steigt die Akzeptanz privater Unternehmen weiter an, auch als Betreiber von Infrastrukturprojekten. Zu dieser höheren Akzeptanz tragen drei Faktoren bei: die geringe Präsenz des Staates bei der Bewältigung der Katastrophe, die Nachlässigkeit der staatlichen Behörden bei der Überwachung der Bauvorschriften sowie die Effizienz der privaten Hilfe.

Gesamtwirtschaftlich wird sich die Rezession, die Mitte 1998 eingesetzt hat, zunächst verschärfen. Das Bruttoinlandsprodukt hatte über das gesamte Jahr 1998 aufgrund eines guten ersten Halbjahres noch mit einem realen Zuwachs von 2,9 Prozent abgeschlossen. Nach dem Erdbeben haben Analysten die ursprünglichen Wachstumsprognosen für 1999 von Null Prozent auf ein Minus zwischen ein und drei Prozent nach unten korrigiert; vor allem erwarten sie einen erheblichen Rückgang des privaten Konsums. Für das Jahr 2000 haben sie als Folge des Wiederaufbaus ihre Prognosen auf Werte zwischen vier und sechs Prozent verdoppelt; getragen werde das Wachstum von den Investitionen.

Das Erdbeben wird die eingeleitete Konsolidierung der öffentlichen Finanzen vorübergehend aussetzen. Aufgrund der „höheren Gewalt" und der bereits verabschiedeten Reformgesetze will der Internationale Währungsfonds der Türkei den in Aussicht gestellten Beistandskredit nicht vorenthalten. Die Inflation wird von Ende 1998 bis Ende 1999 nicht auf unter 50 Prozent fallen, sondern gegen 70 Prozent steigen, bevor sie Ende 2000 auf unter 40 Prozent sinkt. 1999 erhöht sich das Defizit der öffentlichen Hand von prognostizierten 12 bis 13 Prozent am Bruttoinlandsprodukt auf bis zu 15 Prozent. Im kommenden Jahr könnte es auf einen Wert um zehn Prozent zurückgehen.

Geringer als zunächst angenommen sind die wirtschaftlichen Schäden. Die Schätzungen reichen von fünf bis sieben Milliarden Dollar (Zentralbank) über zehn Milliarden Dollar (Vereinte Nationen) bis hin zu 20 Milliarden Dollar (Industriellenverband Tüsiad). Die meisten Zahlen gehen inzwischen von nicht mehr als 10 Milliarden Dollar aus; sie enthalten die tatsächlich anfallenden Kosten des Wiederaufbaus, geringere Steuereinnahmen und geringere Einnahmen aus dem Tourismus. Das Bruttosozialprodukt, das nur die registrierte Wirtschaft erfaßt, hatte 1998 bei 209 Milliarden Dollar gelegen. Als Soforthilfe haben der Internationale Währungsfonds 325 Millionen Dollar bereitgestellt und die Weltbank 220 Millionen Dollar.

Die Schätzung von Tüsiad enthält eine Reihe von Positionen, die sich nicht unmittelbar als ausgabenwirksame Kosten des Wiederaufbaus niederschlagen. Die Schadensumme von 20 Milliarden Dollar setzt sich zusammen aus: 10 Millionen Quadratmeter zerstörte Wohnfläche (fünf bis sechs Milliarden Dollar einschließlich des zerstörten Hausrats), 200 beschädigte Produktionsanlagen und 1000 dem Erdboden gleichgemachte Geschäfte (vier Milliarden Dollar), Schäden in der Infrastruktur (ein bis zwei Milliarden Dollar), ein Produktionsausfall (100 bis 200 Millionen Dollar pro Tag), private Hilfslieferungen und private Spenden (mindestens zwei Milliarden Dollar), eine Verschlechterung der Handelsbilanz (1,5 Milliarden Dollar) sowie ein vorübergehender Anstieg der Zinsen, der den Staatshaushalt belastet.


Die Finanzierung des Wiederaufbaus

Am geringsten sind die materiellen Schäden in der Industrie. Ihre Bauten sind überwiegend erdbebensicher errichtet worden. In der Region Izmit wurde die Produktion in vielen Betrieben innerhalb einer Woche nach dem Erdbeben wieder aufgenommen. Der Produktionsausfall der hoch industrialisierten Provinz Izmit, die fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der Türkei beisteuert, hält sich damit in Grenzen. Die aufgetretenen Schäden werden überwiegend von Versicherungen übernommen. Auch die staatliche Raffinerie Tüpras, bei der die größten Schäden aufgetreten sind, war gegen Erdbeben versichert. Die gesamte Anlage war gebaut, um einem Erdbeben der Stärke 9,0 standzuhalten. Eins der zehn Öldepots stürzte jedoch ein und fing Feuer. Zuletzt standen sieben Depots mit einem Durchmesser bis 42 Meter in Flammen. Die Reparaturen sollen Ende 1999 abgeschlossen sein.

Staatliche Mittel und internationale Hilfe werden in die Instandsetzung der Infrastruktur fließen. Der größte Bedarf besteht mit 100 Millionen Dollar bei den Wasser- und Abwassersystemen entlang der Erdbebenfalte. Erneuert werden müssen ferner Transformatorenstationen und eine Reihe von Telefonzentralen. Zerborstene Straßen wurden in den ersten Tagen nach dem Erdbeben provisorisch wiederhergerichtet.

Das Erdbeben hat 600.000 Menschen obdachlos gemacht. Da ein Teil in ihre Herkunftsorte in Anatolien zurückgewandert ist, müssen möglicherweise nicht mehr als 20.000 neue Wohnungen gebaut werden. Die Kosten dafür werden vier Milliarden Dollar nicht überschreiten. Die zerstörten Wohnungen waren überwiegend in privater Hand und nicht gegen Erdbebenschäden versichert. Die Besitzer haben den Neubau damit selbst zu finanzieren. Der Staat könnte einspringen, indem er bei Beziehern niedriger Einkommen, nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten, Kreditgarantien für den Wohnungsbau übernimmt. Sollten nicht gleich dauerhafte Lösungen gefunden werden, ist zu befürchten, daß die Betroffenen – wie in den letzten Erdbebenorten Dinar und Adana – noch nach Jahren in einem Provisorium leben.

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Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung


Sprunghafte neunziger Jahre

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der neunziger Jahre ist unstet. Auf die Jahre mit hohen Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent folgten kurze, aber tiefe Rezessionen, die nicht länger als ein Jahr dauerten. Das Wachstum wurde von der dynamischen Privatwirtschaft und dem privaten Konsum getragen, externe und hausgemachte Gründe haben die Rezessionen ausgelöst.

1991 hatte der Golfkrieg das Bruttosozialprodukt um nur 0,3 Prozent steigen lassen. Im Rezessionsjahr 1994 ging es dann real um 6,1 Prozent zurück. Ausgelöst wurde die schärfste Krise seit Ausrufung der Republik durch den Versuch der damaligen Ministerpräsidentin Ciller, die hohen Zinsen zu senken, ohne zuvor die öffentlichen Finanzen konsolidiert zu haben. Frei werdende Gelder wurden nicht mehr in Staatsanleihen angelegt, Mittel wurden auch aus der spekulativ überhöhten Börse abgezogen, Sachinvestitionen waren aufgrund der hohen Zinsen weiter unattraktiv. Andererseits hatte die Handelsbilanz 1993 mit einem Defizit in Rekordhöhe abgeschlossen, und die Türkische Lira war, um „Hot Money" anzuziehen, über Jahre aufgewertet worden. Anfang 1994 drängten alle liquiden Mittel auf den Devisenmarkt, um einer wahrscheinlicher werdenden Abwertung zuvorzukommen. Ein rasanter Kursverfall der Türkischen Lira war die Folge, so daß die Regierung die Jahresrendite für Staatsanleihen auf zeitweise über 400 Prozent hochsetzen mußte. Das am 5. April 1994 verkündete Austeritätsprogramm verschärfte die Rezession, doch die öffentlichen Finanzen sanierte es nicht.

Eine Mischung aus externen und internen Faktoren haben die Rezession ausgelöst, die Mitte 1998 einsetzte. Die Abwertung des Rubel hatte in Rußland den Import türkischer Waren so stark verteuert, daß dort die meisten Abnehmer die Artikel in die Türkei zurückschickten. Die private Wirtschaft der Türkei kokettiert gerne damit, sich – wie in Italien – vom Staat abgekoppelt zu haben. Das trifft aber nur bedingt zu: Sie ist weiter eine Gefangene des hohen Zinsniveaus. 1998 haben die 500 größten Industrieunternehmen der Türkei 88 Prozent ihres Gewinnes aus betriebsfremden Aktivitäten erwirtschaftet, überwiegend aus den Zinseinnahmen von Staatsanleihen. Da die Unternehmen über Jahre in Anleihen und nicht in Anlagen investiert haben, büßten sie an Wettbewerbsfähigkeit ein. Die 30 bis 40 Prozent hohen Renditen sind eine nur schlecht kaschierte Subvention. Verschärft wurde die Krise durch den später zurückgenommenen Versuch der Regierung, die nicht registrierte Wirtschaft durch eine befristete Steueramnestie zu erfassen. Seit der Ankündigung der Maßnahme im September 1998 halten viele ihr Geld zurück. Sie wollen ihre Mittel nicht dem Zugriff des Fiskus aussetzen, fürchten andererseits Zwangsmaßnahmen gegen ihre nicht registrierten Gelder.


Notwendige Strukturreformen

So bleibt der Anteil der Steuern am Bruttosozialprodukt niedrig. 1998 lag die Steuerquote bei lediglich 17 Prozent, bezogen auf die gesamte Wirtschaftsleistung unter zehn Prozent. Andererseits läßt die Struktur der öffentlichen Ausgaben kaum mehr Investitionen in das Humankapital, die Infrastruktur und die öffentliche Verwaltung zu. 1997 waren 8,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Zinszahlungen geflossen, 0,8 Prozent in Staatsbetriebe zur Deckung ihrer Defizite, weitere 3,0 Prozent in die Finanzierung des Fehlbetrags der staatlichen Sozialversicherungen und 2,2 Prozent in ausgabenwirksame Agrarsubventionen. Dadurch hatte sich die Nettoneuverschuldung der öffentlichen Hand von 1995 bis 1997 auf 11,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verdoppelt. Für 1999 hatten Analysten vor dem Erdbeben einen Wert von 12 bis 13 Prozent prognostiziert.

Der Schuldendienst nimmt wie eine Lawine zu. Im Haushalt 1999 sind 72 Prozent der Einnahmen für Zinszahlungen vorgesehen, 1998 waren erst 52 Prozent der Einnahmen für Zinsen verwendet worden. Der Etatposten Zinsen ist von 1985 bis 1998 von neun auf 40 Prozent aller Ausgaben geklettert. Für 1999 setzte die Regierung einen Rückgang auf 38 Prozent an, doch bereits in den ersten fünf Monaten war der Anteil weiter auf 43 Prozent geklettert. Für diese Zinslawine sind drei Faktoren verantwortlich: Die hohen realen Zinssätze von 30 bis 40 Prozent; die kurzen Laufzeiten, die das Schatzamt zeitweise gezwungen haben, die gesamte Inlandsverschuldung von 20 Prozent am Bruttoinlandsprodukt innerhalb eines Jahres zweimal zu revolvieren; und eine Anzahl von schwarzen Löchern im Budget, die den Kreditbedarf des Staats weiter erhöhen.

Die Regierung hat erkannt, daß die Staatskarosse ohne Strukturreformen innerhalb weniger Jahre an die Wand fahren würde. Über Jahrzehnte haben falsche wirtschaftspolitische Entscheidungen den Finanzbedarf des Staats ansteigen lassen; bei einer unveränderten Fortsetzung des Kurses wäre er in drei bis vier Jahren nicht mehr aufzubringen gewesen. Als erste Regierung der neunziger Jahre hatte das im Mai 1999 gebildete Kabinett Ecevit die Einsicht und die parlamentarische Mehrheit, wirtschaftliche Strukturreformen durchzusetzen. Die wichtigsten Reformen waren die Novellierung des Bankengesetzes, eine Verfassungsänderung zur Einführung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und eine umfassende Neuordnung der staatlichen Sozialversicherungen. Auf der Reformagenda bleiben die Beschleunigung der Privatisierung und ein Abbau der hohen Agrarsubventionen.

Die am 18. Juni verabschiedete Bankreform tritt am 1. Januar 2000 in Kraft. Sie führt erstmals eine unabhängige Bankaufsicht ein und macht die Kernprinzipien des Basler Komitees für Bankenaufsicht verbindlich, etwa bei der Rücklagenbildung und der Rechnungslegung. Die Aufsichtsbehörde kann künftig Fusionen von Banken anordnen, die in finanziellen Schwierigkeiten sind. Die Novelle beschränkt erstmals die Kreditvergabe an Unternehmen, die zur selben Unternehmensgruppe wie die Bank gehören. Die Bankreform schränkt indessen die Garantie des Staates nicht ein, für 100 Prozent der privaten Einlagen im Falle der Zahlungsunfähigkeit einer Bank aufzukommen. Diese Garantie hat zu einem erheblichen Abfluß von Einlagen geführt, weg von den großen, seriösen Banken und hin zu eher gefährdeten kleinen Finanzinstitute, die sehr hohe Einlagenzinsen anbieten.

Ungewiß ist, ob die Regierung tatsächlich zu einer unabhängigen Bankaufsicht bereit ist. Bisher hatte diese Aufsicht beim Schatzamt gelegen, das sich damit in einem Interessenkonflikt befand. Denn das Schatzamt emittiert die Staatsanleihen; gekauft werden sie überwiegend von den Banken, die sich dazu die Mittel zu einem nicht geringen Teil im Ausland beschaffen, wo sie Fremdwährungskredite aufnehmen. Damit entsteht bei den Banken die Gefahr, zu hohe Positionen an Verbindlichkeiten in Fremdwährungen zu halten. Gegen diese „Overexposure" ist das Schatzamt aus eigenem Interesse allerdings nie eingeschritten.

Ein Durchbruch in der Verbesserung der Investitionsbedingungen war die Verfassungsänderung, mit der am 13. August die internationale Schiedsgerichtsbarkeit eingeführt wurde. Gleichzeitig wurde die Mitsprache des Staatsrats, welcher der Privatisierung wenig gewogen ist, bei der Vergabe von Infrastrukturprojekten an private ausländische Unternehmen erheblich eingeschränkt. Die Diskussion über diese Punkte hatte über ein Jahrzehnt gedauert und war auf weite Strecken emotional geführt worden.

Mit der Verfassungsänderung hofft die Regierung, die ausländischen Investoren anzuziehen, die sie für die anstehenden Infrastrukturprojekte benötigt. Sie sollen diese Projekte auf der Basis des BOT-Modells in Angriff nehmen: das Vorhaben also selbst bauen, eine vereinbarte Zeit betreiben und gegebenenfalls später an den Staat abtreten. Insgesamt liegt das Volumen der anstehenden Investitionen bei 50 Milliarden Dollar. Bis 2002 sind allein in den Bau neuer Kraftwerke Investitionen von 30 Milliarden Dollar erforderlich. Die Nachfrage nach Elektrizität wächst jedes Jahr um 12 Prozent. Der Staat kann auch andere Infrastrukturprojekte nicht finanzieren, beispielsweise Autobahnen, große Brücken und Eisenbahnen.

Die am 27. August 1999 beschlossene Reform der drei staatlichen Sozialversicherungen wird die öffentlichen Finanzen erheblich entlasten. Eine 1992 erfolgte Novellierung hatte die Zahl der Prämientage so weit reduziert, daß das Pensionsalter auf 43 Jahre für Männer und 38 Jahre für Frauen gesenkt worden war. Die damalige Änderung hatte zur Folge, daß die Budgets der Sozialversicherungen, die 1992 noch ausgeglichen waren, 1999 ein Defizit von 3,6 Prozent am Bruttoinlandsprodukt auswiesen. Ohne eine Änderung wäre der Fehlbetrag bis zum Jahr 2010 auf einen Fehlbetrag von 7,4 Prozent des BIP angestiegen. Dennoch reichen die ausbezahlten Renten kaum zur Zahlung der Miete, lediglich 1,7 Beitragszahler kommen für einen Rentner auf. Die Reform hat das Pensionsalter mit einer Übergangsperiode von zehn Jahren auf 60 und 58 Jahre angehoben.


Bedarf an weiteren Reformen

Der Reformprozeß ist mit diesen drei großen Vorhaben nicht abgeschlossen. Zusätzlicher Handlungsbedarf besteht bei der Privatisierung und in der Landwirtschaftspolitik.

Die Privatisierung verläuft in der Türkei langsamer als in vergleichbaren Ländern, seit Beginn der Diskussion 1986 sind kaum Staatsbetriebe in nennenswertem Maß verkauft worden. Noch immer produzieren Staatsbetriebe Traktoren oder stellen Unterwäsche für die Armee her, die diese aber nicht abnimmt. Noch immer streiten sich die Politiker um die Besetzung der Aufsichtsratsposten und die Vergabe von Arbeitsplätzen in den Staatsbetrieben an Gefolgsleute. Ein politischer Wille, sich von den zahlreichen Staatsbetrieben zu lösen, ist erst seit 1997 erkennbar. Ausgeschlossen blieben stets die staatlichen Banken. Bereits 1998 haben die Wirtschafts- und Regierungskrisen den Elan aber wieder gebremst, das Erdbeben hat die Privatisierung abermals zurückgeworfen.

Außer bei der Raffinerie Tüpras sind durch das Erdbeben keine Anlagen beschädigt worden, die zur Privatisierung anstehen. Die für das zweite Halbjahr 1999 vorgesehenen großen Privatisierungen – in ihnen sollten 1,5 bis zwei Milliarden Dollar eingenommen werden – wurden auf das erste Quartal 2000 verschoben. Ausgeschrieben werden sollen dann die Privatisierungen von Turkish Airlines (30 Prozent als Börsengang oder Blockverkauf), des Benzinverteilers Petrol Ofisi (20 Prozent Börsengang oder 51 Blockverkauf) sowie der petrochemischen Werke Petkim (Börsengang und Verkauf einzelner Anlagen). Danach will der Staat 49 Prozent an der Türk Telekom abgeben (29 Prozent an einen strategischen Partner und 15 Prozent Börsengang). Vorläufig aufgeschoben ist der Verkauf von Tüpras an einen strategischen Partner.

Die türkische Landwirtschaft beschäftigt 45 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung und 80 Prozent aller beschäftigten Frauen. Zum Bruttoinlandsprodukt trägt sie aber lediglich 16 Prozent bei. Für 1996 hat die Weltbank einen Anteil der direkten und indirekten Subventionen für die Landwirtschaft von 7,7 Prozent des BIP errechnet, aufgrund neuer Subventionen ist er seither mutmaßlich weiter gestiegen. Über die Hälfte der 13,8 Milliarden Dollar, die die Weltbank als Agrartransfers angibt, sind fiskalische Transfers, etwa garantierte Abnahmepreise, zinsgünstige Kredite oder Subventionen für Düngemittel. Hinzu kommen Transfers, die die Konsumenten über erhöhte Preise zu erbringen haben, welche häufig erheblich über dem Niveau des Weltmarkts liegen.

Während sich von 1986/88 bis 1995/96 in den Ländern der OECD die Agrarsubventionen von 2,5 Prozent des BIP auf 1,4 Prozent nahezu halbiert, verdreifachten sie sich in der Türkei von 2,5 auf 7,7 Prozent. Die Weltbank kritisiert, daß das praktizierte System der Preisstützung fiskalisch teuer und wirtschaftlich ineffizient ist, Verschwendung und Mißbrauch begünstigt, aber nicht zur Bekämpfung der ländlichen Armut beiträgt und nicht zur Förderung der regionalen Entwicklung. Viele der verwendeten Instrumente seien Hürden auf dem Weg zu einer Integration mit der Europäischen Union und könnten von den Bestimmungen der Welthandelsorganisation WTO herausgefordert werden.

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Besonderheiten der türkischen Wirtschaft


Die hohe Inflation

Seit 1970 hat die Türkei zweistellige Inflationsraten, seit 1988 schwanken sie zwischen 60 und 125 Prozent. Drei wirtschaftliche Faktoren und ein politischer Grund verursachen diese anhaltend hohe Inflation: An erster Stelle steht der hohe Finanzbedarf des Staates, der zu einem Crowding out auf dem Kreditmarkt führt und die Druckerpresse schneller laufen läßt. Begünstigt wird die hohe Inflation ferner durch die nach wie vor geringe Wettbewerbsintensität, die ein Überwälzen der gestiegenen Kosten auf die Abnehmer erleichtert, sowie durch den geringen Integrationsgrad der türkischen Wirtschaft, der sich in einem erheblichen Preisgefälle zwischen den verschiedenen Regionen niederschlägt.

Zu diesen wirtschaftlichen Faktoren kommt ein geringer politischer Wille hinzu, die Inflation wirksam zu bekämpfen. Denn viele profitieren von den Ursachen der Inflation mehr als sie durch die Inflation verlieren. Nutzen ziehen sie aus der hohen Staatsverschuldung mit den hochverzinslichen Staatsanleihen und aus der Inflation, die als Markteintrittsbarriere für ausländische Unternehmen fungiert. Negativ wirkt sich indessen die Verkürzung der Planungs- und Entscheidungshorizonte auf langfristige Investitionen aus.


Die Rolle des Staates und des Militärs

Der türkische Staat war aus dem Unabhängigkeitskrieg entstanden, bevor es eine türkische Nation gegeben hat. Um diese Nation zu formen, führten die Gründer der Republik eine Reihe hastiger Reformen durch und schufen Tabus, die bis heute bestehen, beispielsweise die Verketzerung der Religion, das Leugnen von Minderheiten und das Bestreiten von Klassen. Bis heute ist der Staat dominant und der Gesellschaft übergeordnet. Noch immer versucht der Staat, die Entwicklung der Gesellschaft so weit wie möglich zu bestimmen.

Reformer wie die Ministerpräsidenten Adnan Menderes und Turgut Özal haben in den fünfziger und den achtziger Jahren die Marktwirtschaft eingeführt. Das etatistische Denken in den Köpfen der bürokratischen und politischen Elite Ankaras haben sie aber nicht beseitigt. Diese versucht noch immer, ihre Macht zu stabilisieren und die Gesellschaft an sich zu binden, indem sie einzelnen Zugang zu staatlichen Ressourcen verschaffen. Der Transformationsmechanismus erfolgt über die Parteien. Sie sind nur zu einem sehr geringen Teil von Ideen und Programmen geleitet, zu einem ungleich größeren Teil verdanken sie ihre Existenz dem Aufbau von Klientelbeziehungen.

Im Austausch für politische Unterstützung verschaffen Politiker einer einflußreichen Klientel Zugang zu staatlichen Ressourcen. Ganze Regionen können sie an sich binden, indem sie die staatlichen Aufkaufpreis für bestimmte Agrarprodukte hoch ansetzen. Sie können einzelne Personen begünstigen, die über eigene Klientelnetze verfügen. Begünstigungen können in Ausschreibungen erfolgen oder über Insiderwissen, die zum rechtzeitigen Kauf einer Immobilie oder von Devisen führen, bevor sich deren Wert nach einer administrativen Entscheidung verändert. Begünstigte können materielle Vorteile erhalten wie einen von einer staatlichen Bank ausgezahlten zinsgünstigen Kredit, den jene – nicht selten – abzuschreiben hat. Mit diesen Eingriffen setzten Politiker und Bürokraten den Sanktionsmechanismus des Markts außer Kraft.

Zur staatlichen Elite gehört auch das Militär. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Generäle ihre politische Macht ausgebaut und zusätzlich einen militärisch-industriellen Komplex geschaffen. Oyak, der 1961 gegründete Pensionsfonds der Offiziere, ist zu einem der größten Mischkonzerne der Türkei aufgestiegen. Seine Beteiligungen an 25 Unternehmen reichen von der Automobilindustrie über den Bau und Nahrungsmittelbranche bis hin zu Finanzdienstleistungen. Ferner unterhält die „Stiftung zur Stärkung der Streitkräfte" (TSKGV) Beteiligungen an 13 Unternehmen, die meist Branchenführer sind. Eines ist Aselsan, ein Hersteller von Kommunikationselektronik. Er reiht sich in die hoch spezialisierte Verteidigungsindustrie ein, die in einem Gürtel um Ankara entsteht. Der Generalstab hat angekündigt, in den kommenden 25 Jahren für die Modernisierung und den Ausbau der Streitkräfte 150 Milliarden Dollar auszugeben. Der Anteil des Imports an den Ausgaben für militärische Ausrüstungen soll von zuletzt 79 Prozent auf 57 Prozent bereits im Jahr 2000 gesenkt werden und auf 40 Prozent bis 2020.

Die Militärs sind immer stärker in der Wirtschaft präsent, verfügen jedoch über kein wirtschaftspolitisches Programm. Wiederholt haben sie in die politischen Geschicke der Türkei eingegriffen, zuletzt am 28. Februar 1997. Der Diskussion über wirtschaftliche Strukturreformen haben sie jedoch keine Impulse gegeben. Erstmals haben sie 1998 Wirtschaftsverbände eingeladen, um deren Ansichten über Wege aus der Krise zu hören. Den drei direkten Interventionen der Militärs 1960, 1971 und 1980 war jeweils eine Wirtschaftskrise und ein Austeritätsprogramm vorausgegangen, das mit dem Internationalen Währungsfonds ausgearbeitet worden war. Aufgrund der politischen Krisen hatten sie aber nicht umgesetzt werden können, das war jeweils erst unter den Militärregierungen möglich.


Ungleiche Einkommensverteilung

Das Pro-Kopf-Einkommen der Türkei, das auf der Basis der registrierten Wirtschaft errechnet wird, ist 1998 um 5 Prozent auf 3.224 Dollar gestiegen. Seit 1980 hat es sich verdreifacht, noch immer erreicht es aber lediglich ein Drittel des EU-Durchschnitts. Die Zahl von 3.224 Dollar täuscht über die großen Disparitäten in der personalen und regionalen Einkommensverteilung hinweg. Die Weltbank reiht die Türkei unter den 17 Ländern mit der ungleichsten Einkommensverteilung ein. In der Türkei liegt das Pro-Kopf-Einkommen des reichsten Fünftels der Bevölkerung 11,2mal über dem des ärmsten, in Deutschland hingegen nur 5,7mal. Zudem liegt die Wirtschaftskraft der Türkei im Westen des Landes. Auf die zehn reichsten der 80 Provinzen entfallen 59 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, auf die zehn ärmsten, alle in Ostanatolien, zusammen ein Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen in Izmit, der mit 7 782 Dollar reichsten Provinz, übertrifft das der ärmsten, Agri, um mehr als das Zehnfache.

In den traditionell ländlichen Gebieten Anatoliens hat eine Industrialisierung eingesetzt. Das Attribut „anatolische Löwen", das die türkischen Medien für einige aufstrebende Provinzen geprägt haben, weckt indessen zu hohe Erwartungen. In Zentral- und Ostanatolien gehören in diese Gruppe Gaziantep, Kahramanmaras, Corum und Kayseri, im Westen Anatoliens Denizli und Konya. Die industrielle Entwicklung in diesen Provinzen ist seit 1980 nicht rascher verlaufen als in den wirtschaftlich weiter entwickelten Regionen der Türkei. Der Abstand vergrößerte sich lediglich nicht weiter. Das hat bereits genügt, um die Abwanderung aus diesen Provinzen zu stoppen.

Das wirtschaftliche Umfeld für Unternehmen ist nicht ermunternd: Die Inflation ist anhaltend hoch, und die realen Kreditzinsen liegen deutlich über 50 Prozent; es gibt keinen Anleihenmarkt für private Unternehmen, und die schwachen, häufig zweimal im Jahr wechselnden Regierungen bremsen die private Dynamik weiter. So ist es fast ein Wunder, daß die türkische Privatwirtschaft noch am Leben ist.


Türkische Unternehmer

Das wirtschaftsfeindliche Umfeld hat in der Türkei einen neuen Typ von Unternehmer geschaffen, der gegen die wirtschaftliche und politische Instabilität immun geworden ist. Er pilgert nicht mehr an die inzwischen leeren Subventionströpfe Ankaras, sondern geht seine eigenen Wege, drängt auch im Ausland auf neue Märkte. Während deutsche Unternehmer eher nach den Risiken eines Vorhabens fragen, erkunden sich die türkischen Kollegen nach den Chancen.

Zwei Faktoren begünstigen die Dynamik: die nicht registrierte Wirtschaft, die eine Hälfte zur Wirtschaftsleistung beisteuert, und die Steuermoral. In der islamischen Welt bestimmt seit je der Reiche über die Höhe seiner Abgaben an die Bedürftigen; nicht wenige Unternehmen sehen den Staat als Bedürftigen von heute und legen ihre Steuern selbst fest. Mit den hinterzogenen Steuern finanzieren sie soziale Einrichtungen, die ungleich effizienter arbeiten als die des Staates, und akkumulieren so das Kapital für ihre Investitionen, das sie sonst weder auf dem Finanz- noch auf dem Kapitalmarkt aufnehmen können. Das Geld, das sie hinterziehen, fließt nicht außer Landes, sondern wird in der Türkei investiert.

Die Steuermoral ist lediglich ein Punkt, in dem sich die „Mentalität" in der Türkei von der in Mitteleuropa unterscheidet – wenn auch dort eine Annäherung an die Verhältnisse der Türkei unübersehbar ist. Ein weiterer Punkt ist der kurzfristige Horizont vieler türkischer Unternehmen. Er trifft um so mehr zu, je kleiner sie sind. Ihnen ist nicht an einer langfristig gesicherten Position im Markt gelegen, sondern an raschen Gewinnen, selbst wenn sie dem langfristigen Interesse der Firma entgegenstehen. Zum einen ist das private Unternehmertum der Türkei noch jung. In den großen Holdings regiert noch die zweite Generation, und die dritte sitzt in den Startlöchern. Zum anderen läßt die hohe Inflation langfristige Planungshorizonte kaum zu.

Die großen Holdings treten immer mehr Entscheidungen an professionelle Manager ab. Auch in ihnen bleiben die Familien präsent, in den kleineren Unternehmen sogar dominant. Der Rückzug in die Familie ist eine Folge der Rechtsunsicherheit, die das Osmanische Reich über Jahrhunderte geprägt hatte. Vertrauen bestand nur innerhalb der Familie; um in unsicheren Zeiten zu überleben, mußte sie materiell so gut wie möglich ausgestattet sein. Dabei haben selbst frühere Generationen der Gründerfamilien ihre Ausbildung nicht selten im Ausland erfahren. Für sie trifft noch zu, was der frühere deutsche Botschafter in Ankara, Sonnenhol, gesagt hat: „Der Türke ist gebildet wie der Europäer, er redet wie ein Europäer, er argumentiert wie ein Europäer, aber er entscheidet orientalisch." Für die jüngere Generation dagegen, die stark amerikanisiert ist, gilt dies nicht mehr.

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Chancen und Probleme ausländischer Unternehmen


Die Zollunion mit der EU

Am 1. Januar 1996 ist die Türkei, wie es der Assoziationsvertrag von 1963 vorsah, der Zollunion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten. In den ersten drei Jahren nahm der türkische Import aus den EU-Staaten um 43 Prozent auf 24,1 Milliarden Dollar zu, der Anteil der EU an gesamten Einfuhr stieg von 47 auf 53 Prozent. Andererseits stieg der türkische Export in die EU-Staaten von 1996 bis 1998 um lediglich 22 Prozent auf 13,5 Milliarden Dollar. Parallel ging der Anteil der EU-Staaten an der türkischen Ausfuhr leicht von 51 auf 50 Prozent zurück. Der gesamte türkische Export entspricht 24 Prozent am Bruttoinlandsprodukt, der Import sogar 30 Prozent. Die noch vor zwei Jahrzehnten abgeschottete Türkei ist heute zu einem hohen Grad in die Weltwirtschaft integriert.

Im Zusammenhang mit der Zollunion hat die Türkei ihre Wirtschaftsgesetzgebung derjenigen in den EU-Staaten weiter angepaßt, vor allem mit der Einführung des Wettbewerbsrechts und dem Schutz geistigen Eigentums. Harmonisiert wurden auch die Zollgesetze. Die Umsetzung dieser Gesetze ist aber noch nicht immer befriedigend. Seit dem Inkrafttreten der Zollunion sind zudem in der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung keine Fortschritte erzielt worden. Von der Erfüllung des zweiten Kopenhagener Kriteriums und der Maastricht-Kriterien ist die Türkei noch weit entfernt. Größere Unstimmigkeiten zwischen Brüssel und Ankara bestehen in der Herstellung einer größeren Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen, dem Abbau der hohen türkischen Agrarsubventionen und der Einbeziehung der Dienstleistungen in die Zollunion. Brüssel will letztere aufgrund der damit verbundenen Freizügigkeit von Arbeitnehmern zum jetzigen Zeitpunkt nicht gewähren.


Besonderheiten im Außenhandel

Nachdem die Zollunion die Zollschranken beseitigt hat, errichtet Ankara neue nicht-tarifäre Handelshemmnisse, um den Import zu drosseln. Bevor etwa ein Elektro- oder elektronisches Gerät importiert werden darf, muß die Normenbehörde TSE das Gerät zertifiziert haben. Die TSE räumt selbst ein, das aufwendige Verfahren erfülle allein den politischen Auftrag, den Import zu reduzieren. Ein anderes Beispiel: Vor dem Import eines Arzneimittels hat ein Beamter des Gesundheitsministeriums zu prüfen, ob die Produktionsanlage den türkischen Vorschriften entspricht. Die Zahl der für diese Prüfung abgestellten Beamten ist aber zu klein, um dieser Aufgabe nachkommen zu können.

Eine weitere Besonderheit des türkischen Handels besteht darin, daß türkische Unternehmen ihren Import und ihren Export nicht selten über ihre Konten in der Schweiz abwickeln, bedingt auch in Großbritannien, seit der Einführung der Quellensteuer unter Bundesfinanzminister Stoltenberg jedoch nicht in Deutschland. Dieses Verfahren minimiert die anfallenden Bankgebühren; die Devisen fließen bei diesen Unternehmen nicht mehr in die Türkei und auch nicht aus der Türkei ab. Aufgrund der hohen Zinsen können wenige türkische Unternehmen Kredite aufnehmen. Um trotzdem einen finanziellen Spielraum zu haben, dehnen sie den in der Praxis üblichen Lieferantenkredit von 60 auf 180 Tage aus und überwälzen damit ihre Probleme auf ihre Lieferanten.


Ausländische Direktinvestitionen

Die Zollunion hat nicht den erhofften Zustrom ausländischer Investitionen ausgelöst. Ihr Niveau ist enttäuschend niedrig. Von 1980 bis 1998 haben ausländische Unternehmen in der Türkei lediglich 23,5 Milliarden Dollar investiert, das ist die Hälfte der ausländischen Direktinvestitionen eines Jahres in der Volksrepublik China. Seit der Zollunion sind die ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei sogar wieder rückläufig und liegen 1998 bei nur noch 573 Millionen Dollar. Unternehmen, die bereits seit langem in der Türkei sind, erweitern und modernisieren weiter ihre Anlagen; neue Investoren kommen jedoch kaum hinzu. Die Portfolioinvestitionen hatten demgegenüber im Rekordjahr 1997 rund 1,6 Milliarden Dollar erreicht.

Der Verband der ausländischen Investoren, Yased, hält ausländische Direktinvestitionen von vier bis fünf Milliarden Dollar pro Jahr für möglich. Als wichtigste Hindernisse zählt er die politische Instabilität und die hohe Inflation auf, danach die Rechtsunsicherheit, die schwerfällige Bürokratie, die nach wie vor vorhandene Korruption sowie die geringe Markttransparenz und der unzureichende Schutz des geistigen Eigentums. Einen weiterer Grund, das Fehlen einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit bei Konfliktfällen, hat der Gesetzgeber im August 1999 mit einer Verfassungsänderung beseitigt.

Die hohe Inflation verlangt Preisanpassungen, die häufig monatlich erfolgt. Die ausländischen – wie fast alle türkischen – Unternehmen kalkulieren und rechnen auf der Basis von Devisen. Daher ist für sie entscheidend, daß die Preisanhebungen nicht von der Abwertung der Türkischen Lira im selben Zeitraum übertroffen wird.

Eine Rechtsunsicherheit besteht weiter, und das in einer Reihe von Gebieten. In den vergangenen Jahren haben Stadtverwaltungen neue Generalbebauungspläne erstellt und dabei argumentiert, dadurch sei der Wert der bebauten und der unbebauten Grundstücke gestiegen. Da die Stadtverwaltung für den Wertzuwachs verantwortlich sei, stünde ihr ein Drittel eines Grundstücks, das den Wertzuwachs erfahren habe, unentgeltlich für öffentliche Zwecke zu. Den betroffenen in- wie ausländischen Unternehmen haben die Stadtverwaltungen in und um Istanbul angeboten, das von den Kommunen beanspruchte Miteigentumsrecht zurückzukaufen. Diese Art versteckter Korruption ist mehrfach dokumentiert. Zivilprozesse dauern lange, da die Gerichte überlastet sind, sie verlaufen grundsätzlich aber fair. Entscheidend ist der Gutachter, den der zuständige Richter bestellt und an dessen Meinung er sich in seinem Urteil hält.

Die türkischen Behörden bestehen darauf, daß ausländische Unternehmen für einen zu entsendenden Mitarbeiter vor dessen Ausreise ein Arbeitsvisum beantragen. Die Ausstellung eines solchen Visums kann sich bis zu sechs Monaten hinziehen. Das ist besonders dann der Fall, wenn der Beruf laut Gesetz nur von türkischen Staatsbürgern ausgeübt werden darf. Diese Liste umfaßt über 50 Berufe. Ausnahmeregelungen sind bei genehmigten ausländischen Investitionen möglich. Lange Verzögerungen traten zuletzt bei Elektroingenieuren auf. Dieses Hinhalten soll zur Einstellung türkischer Mitarbeiter ermuntern, auch wenn diese nicht dieselbe Qualifikation und Eignung haben.

Probleme bereiten häufig die Automobile, welche Mitarbeiter ausländischer Unternehmen vorübergehend zollfrei importieren dürfen. Mehrfach sind zuletzt Verhaftungen erfolgt, weil diese Mitarbeiter die Zollbescheinigungen („blaues Carnet") nicht rechtzeitig wieder um ein Jahr verlängert haben. Dabei liegt ein Verstoß gegen das sehr restriktive türkische Recht vor. Das begründet indessen nicht, daß die Polizisten diese Personen wie Verbrecher behandeln müssen.


Gewerkschaften und Löhne

Gewerkschaften sind in der Türkei aus drei Gründen schwach. Erstens sind die Türken ein Volk von Selbständigen. Von den 25 Millionen Beschäftigten sind nicht mehr als 10 Millionen Lohn- und Gehaltsempfänger, von diesen wiederum sind lediglich eine Million gewerkschaftlich organisiert. Zweitens schränken die Gesetze den Spielraum der Gewerkschaften ein, der Putsch von 1980 hatte gewerkschaftliche Aktivitäten ganz unterbunden. Drittens war der erste Gewerkschaftsdachverband Türk-Is 1952 gegründet worden, als es fast nur staatliche Betriebe gab. Türk-Is stand daher von Beginn unter dem Einfluß der Regierung, bis heute organisiert der Dachverband nahezu ausschließlich Beschäftigte der öffentlichen Hand. Von Türk-Is hat sich 1967 der klassenkämpferische „Bund Revolutionärer Arbeitergewerkschaften" (DISK) abgespalten, der auch eine stark politische Mission verfolgt und überwiegend in privaten Unternehmen vertreten ist.

In den vergangenen Jahren hat die Bereitschaft von DISK zu anhaltenden Streiks nachgelassen. Denn die Unternehmen – insbesondere die ausländischen, in denen die Beschäftigten meist in hohem Maße gewerkschaftlich organisiert sind – waren seit 1995 den Lohnforderungen weitgehend entgegengekommen. Damit eine Gewerkschaft für einen Betrieb tarifberechtigt ist, müssen mindestens 50 Prozent seiner Arbeitnehmer Mitglieder der Gewerkschaft sein.

In den vergangenen Jahren sind die Löhne und Gehälter der Angestellten und Beamten sowie der Arbeiter im öffentlichen Dienst real gesunken, in der Privatwirtschaft sind sie jedoch – mit Unterschieden von Betrieb zu Betrieb – erheblich angestiegen. Die jährlichen Bruttokosten für einen ungelernten Arbeiter liegen bei 14.000 bis 20.000 Dollar. Für die Tschechische Republik, wo die Arbeitsproduktivität nicht ganz das Niveau der Türkei erreicht, werden 12.000 Dollar angegeben. Um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Betriebe in der Türkei aufrechtzuerhalten, investieren die ausländischen Firmen in eine Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die Türkei ist immer weniger ein Land für Lohnveredelung wie es noch in den achtziger Jahren der Fall war. Andererseits hatte der Mindestlohn vor der letzten Anpassung bei lediglich brutto 47,3 Millionen TL gelegen, also bei 205 DM. Er wird jedes Jahr zum 1. August angehoben. Ein Großteil der gewerkschaftlich nicht organisierten einfachen Arbeiter erhält den Mindestlohn.

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Ausgewählte Industrien


Textil und Konfektion

Die drei wichtigsten Industriezweige der Türkei – Textilien und Konfektion, Automobile sowie Tourismus – sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, von der Rezession erfaßt.

Die türkische Textilindustrie hat in den Jahren 1993 bis 1996 ihre Kapazitäten mit Blick auf die Zollunion stark ausgeweitet. Bei der Textilmaschinenmesse in Mailand war sie jeweils der größte Käufer. Einige deutsche Hersteller von Textilmaschinen haben in jenen Jahren vor allem aufgrund der großen Aufträge aus der Türkei überlebt. Die Zollunion hat der Textilindustrie jedoch nicht die erwartete Exportsteigerung in die EU-Staaten gebracht. Nach dem Ausbruch der Krise in Fernost gerieten sogar türkische Hersteller von Fasern und Textilien aus Kunststoffen erheblich unter Druck. Ihre Herstellungskosten lagen lange über den Einfuhrpreisen aus den Abwertungsländern. Um einen weiteren Ausbau der Kapazitäten zu stoppen, hat die Regierung im März 1999 die Subventionierung der Investitionen in Anlagen der Textilindustrie eingestellt. Ein Drittel aller notleidenden Kredite der türkischen Banken kommt gegenwärtig aus den Branchen Textilien und Bekleidung.

Von der Krise sind besonders Unternehmen betroffen worden, die qualitativ anspruchslose Produkte zu niedrigen Preisen herstellen. Sie können mit den Wettbewerbern aus Asien nicht mehr konkurrieren. Gut überstehen aber diejenigen Textilunternehmen die Krise, die rechtzeitig auf Qualitätsprodukte mit hoher Wertschöpfung gesetzt haben. Bei den Konfektionären setzen sich eigene Kreationen und Markennamen durch. Aufgrund dieser Segmente wird sich die Türkei von der Produktion „billiger" Waren absetzen und künftig eher mit Herstellern aus Italien konkurrieren. Halten wird sich die türkische Textil- und Bekleidungsindustrie auch deshalb, weil die Türkei der sechstgrößte Produzent von Baumwolle ist. Mit dem Abschluß des „Südost-Anatolien-Projekts" (GAP) wird sich die Produktion von Baumwolle auf mindestens 1,2 Millionen Tonnen pro Jahr verdoppeln.

Die beiden Industrien werden auf absehbare Zeit die wichtigsten der türkischen Wirtschaft bleiben. Zum Bruttoinlandsprodukt steuern sie acht bis zehn Prozent bei, sie beschäftigen ein Zehntel aller Beschäftigten und ein Fünftel aller in der verarbeitenden Industrie Beschäftigten. Zum registrierten Ex-port haben sie 1998 rund 10,4 Milliarden Dollar beigetragen und damit 40 Prozent. Aus der Türkei kommen elf Prozent des europäischen Imports von Textilien und Bekleidung.


Tourismus

Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Tourismus steht der Textil- und Konfektionsbranche kaum nach. Vom Tourismus hängt direkt oder indirekt jeder achte Arbeitsplatz ab. Die Branche hat 1998 Deviseneinnahmen von 7,2 Milliarden Dollar erzielt, das waren 27 Prozent des gesamten Exports. Der Anteil der Branche am Bruttoinlandsprodukt wird auf vier bis fünf Prozent geschätzt, indirekt sollen es sogar 17 Prozent sein. 1980 hatte die Türkei erst 56.000 Betten, und eine Million Urlauber besuchten das Land, 1998 waren es 830.000 Betten und 9,7 Millionen ausländische Touristen. Seit 1980 hat die Türkei ihren Anteil am Welttourismusmarkt verfünffacht.

In eine Krise ist die Branche 1999 geraten. Statt erwarteter 11 Millionen Urlauber aus dem Ausland kommen nicht mehr als 7 Millionen. Äußerer Anlaß für den Rückgang waren die Auseinandersetzungen nach der Festnahme des PKK-Chefs Öcalan. Die subjektiv sehr unterschiedlich wahrgenommene Sicherheit hat eine Stornierungswelle ausgelöst. Daneben machen der Branche seit Jahren eine Reihe von Entwicklungen zu schaffen. Keinen Einfluß hat sie auf das politische Image, das mit der verschiedenen Auffassung von Minderheitenrechten in der Türkei und in Europa zusammenhängt. Andererseits hat die Goldgräberstimmung, die die Branche in den vergangenen Jahren erfaßte, das Preis-Leistungs-Verhältnis im Vergleich zu den wichtigsten Konkurrenten um das Mittelmeer verschlechtert. Keine Einbußen hatten diejenigen Anbieter, die auf Qualität setzen. Aus ideologischen Gründen verpaßt die Türkei die Chance, vom Religionstourismus des Jahres 2000 zu profitieren.


Kfz-Industrie

Der türkische Markt für Automobile ist attraktiv. Dafür sprechen, daß 1999 die beiden größten ausländischen Investitionen in dieser Branche stattfinden, und daß die Motorisierungsdichte der Türkei weiter gering ist. Der Pkw-Bestand je 1000 Einwohner hat sich von 1985 bis 1998 je 1000 Einwohner zwar vervierfacht. Aber noch immer erreicht diese Relation erst 102. In Deutschland liegt sie indessen bei 556 und selbst in Polen bei 259. Die lokale Pkw-Industrie steckt seit 1994 dennoch in einer tiefen Krise. Wie dramatisch sie ist, zeigt die niedrige Auslastung ihrer Kapazitäten. Im ersten Halbjahr 1999 reichte sie bei den großen Herstellern von neun Prozent (Toyota) bis 37 Prozent (Ford), ein Ausreißer waren die 66 Prozent für Oyak Renault.

Vor dem Erdbeben hatten die Hersteller auf eine Trendwende im dritten Quartal 1999 gehofft. Dafür hatte es zur Jahresmitte zwei Signale gegeben: anziehende Bestellungen bei Ersatzteilen und Automobillager, die sich bei einer wachsenden Nachfrage allmählich leerten. Auf die Erwartungen wirkte sich indessen negativ aus, daß in den vergangenen Jahren viele Neuwagen verkauft worden sind und sich der Ersatzbedarf damit hinausschieben läßt. Auch bei den Nutzfahrzeugen machten sich negative Effekte bemerkbar: Die Krise im Tourismus ließ die Nachfrage nach Bussen zusammenbrechen, und die Rezession dämpfte die Bestellungen neuer Lastkraftwagen erheblich. Jetzt löst das Erdbeben bei langlebigen Konsumgütern, vor allem bei Personenwagen, eine Kaufzurückhaltung aus.

Auch ohne das Erdbeben hätte die Pkw-Industrie mittelfristig ihre Krise nicht überwunden. Dafür sprechen drei Gründe. Erstens lasten auf den Herstellern Überkapazitäten; sie sind eine Folge der Investitionen, die im Zusammenhang mit dem überdurchschnittlichen Wachstum der Nachfrage in den Jahren bis 1993 geschaffen worden waren. Zweitens hat die Zollunion mit der EU, die am 1. Januar 1996 in Kraft trat, die Importe von Automobilen erheblich verbilligt; ihr Anteil am Markt hat sich seit 1995 auf 35 Prozent vervierfacht. Drittens haben die Zulieferer Mitte der neunziger Jahre nicht in dem Maße wie die Automobilhersteller investiert und modernisiert; für die neuen Modelle, die seither über die Lizenzgeber erworben worden sind, bestehen nicht genügend lokale Zulieferer.

Trotz der Krise und des Erdbebens halten Ford und sein türkischer Partner Koc daran fest, gemeinsam das Werk in Izmit zu bauen. Das Volumen ist mit 530 Millionen Dollar die größte ausländische Investition in der Türkei im Jahr 1999.

Die beiden größten Pkw-Hersteller, Tofas-Fiat und Oyak Renault, hatten lange von den hohen Importzöllen profitiert und dabei rechtzeitige Modernisierungsinvestitionen unterlassen. Sie erfolgten erst im Zusammenhang mit der Zollunion. Tofas-Fiat löst seither eine Automobilreihe aus den sechziger und siebziger Jahren ab, für die neuen Modelle gibt es aber nicht genügend geeignete Zulieferer. Andererseits ist die Qualität der Werke Fiat-Werke in Bursa höher als derjenigen in Süditalien. Einige der neuen Modelle, die Fiat (Palo) und Renault (Megane) produzieren, gehen überwiegend in den Export.

Auch die ausländischen Investoren, die wie Toyota, Opel, und Hyundai bisher mit einer geringen Fertigungstiefe lediglich importierte Bausätze montieren, wollen künftig verstärkt nach Europa exportieren. Dort erhoffen sich insbesondere die Investoren aus Fernost, einen neuen Absatzmarkt zu erschließen. Zuvor müssen sie den Anteil der lokal hergestellten Zulieferung auf mindestens 70 Prozent erhöht haben.

Die lokalen Zulieferer haben sich bisher mit einem Produkt meist auf einen Abnehmer und dessen meist veraltetes Modell konzentriert. Selten haben sie eine eigene Entwicklung betrieben, mit ihrer veralteten Technologie werden sie sich nur schwer im Wettbewerb halten können. Die ausländischen Investoren der Branche sind meist exportorientiert. Sie bringen das Know-how in die Türkei und betreiben für ihre Kunden auch eigene Entwicklungen. Wie stark das Wachstumspotential ist, verdeutlicht Bosch. Dessen Werk in Bursa hat in den ersten drei Jahren seit der Zollunion seinen Umsatz verdoppelt, eine weitere Verdopplung wird bis 2001 erwartet. Bosch ist 1999 mit Investitionen von 300 Millionen DM der zweitgrößte Investor in der Türkei.


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