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Politische Perspektiven

Die offene politische Führungsfrage und der Autoritätsverlust der Präsidialstruktur haben dazu beigetragen, daß die noch weiterhin aktiv gebliebenen Wirtschaftseliten sich politisch umorientieren oder aber ihre Unterstützung für Parteien und potentielle Kandidaten diversifizieren. Allem Anschein nach haben politische Gruppen der demokratischen Rechten und der früheren "Partei der Macht" (Gaidar, Kirienko, Tschernomyrdin), aber auch der Gouverneur von Krasnojarsk, General Alexander Lebed, an Unterstützung verloren. Gewinner der politischen Umorientierung von Teilen der Wirtschaftselite ist zweifellos der Moskauer Oberbürgermeister Jurij Luschkow und dessen politische Bewegung "Otetschestwo". Luschkow gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaft oder für das Amt des Ministerpräsidenten im Bündnis mit Primakow (sollte dieser für das Präsidentenamt kandidieren). Aber die Unterstützung für Luschkow erfolgt halbherzig. Obwohl Luschkow über langjährige und gute Beziehungen zu allen Wirtschaftsgruppen, mit Ausnahme von Boris Abramowitsch Beresowskij und dessen Verbündeten, verfügt, fürchtet sich die alte Machtelite davor, sich dem "Modell Moskau" unterzuordnen. Sie würde ihre Autonomie einbüßen.

In der Beziehung zur Moskauer Wirtschaftselite dominiert die Stadtverwaltung oder besser, das "persönliche Regime" des Bürgermeisters. Zudem ist der Moskauer Machtapparat von der finanziellen Unterstützung der übrigen Elitegruppen weniger abhängig. Die Stadt verfügt über eigene wirtschaftliche Ressourcen und Machtgruppen (AFC Systema, Moskauer Bank usw.). Im Unterschied zu den auf nationaler Ebene autonom operierenden FIGs standen diese immer unter politischer Kontrolle der Stadtverwaltung.

Wenige Monate vor den Wahlen zur Staatsduma und ein Jahr vor den nächsten Präsidentschaftswahlen zeichnet sich daher in der korporatistischen Herrschaftsstruktur ein fundamentaler Wandel ab.

Die Dominanz der Finanzgruppen ist rückläufig. Die bisherige politische Elite ist durch die sozialen wie wirtschaftliche Verwerfungen, die der Reformprozeß bisher auslöste, aber auch durch persönliches Versagen diskreditiert. Bereits seit der Ernennung Primakows deuteten sich auch innerhalb der politischen Eliten ein Richtungswechsel und Austausch an. Andere Gruppen der administrativen Elite, die bislang dem Transformationsprozeß fern standen und dem ungehemmten Wirken marktwirtschaftlicher Kräfte wenig abgewinnen konnten, etwa Gruppen aus dem Bereich der inneren Sicherheit, haben zweifellos an Relevanz gewonnen. Diese Tendenz hat sich über die aufeinander folgenden Ministerpräsidenten S. Stepaschin bis W. Putin fortgesetzt. Damit ist nicht gesagt, daß die demokratische Entwicklung ausgesetzt und die marktwirtschaftlichen Reformen rückgängig gemacht werden sollen. Aber eine neue Synthese der Macht oder eine neue soziale Basis der korporatistischen Herrschaft entsteht, die eindeutig auf Unterordnung der wirtschaftlichen Machtelite unter den Staat zielt.

Die verbliebenen wirtschaftlichen Machtgruppen aus den Energie- und Rohstoffsektoren, aber auch die genesende heimische Industrie, die von der Entwertung des Rubels profitierte, unterstützen zweifellos eine solche Entwicklung.

Aber noch von einer weiteren, bislang die nationale Politik kaum tangierenden Kraft ist hier die Rede. Nicht zufällig, sondern systematisch suchte der aussichtsreiche Kandidat für ein hohes Regierungsamt, Jurij Luschkow, die Verbindung zu den Regionen. Sicherlich wollte er den Malus überwinden, der jedem Moskowiter aus Sicht der Regionen anhängt. Aber dahinter steht mehr. Die Allianz zwischen Otetschestwa und der regionalen Vereinigung "Wsja Rossia, Gesamtrussland", hinter der auch Kapitalgruppen aus den Öl- und Gassektoren stehen, eröffnet Möglichkeiten für eine machtvollen Wahlorganisation und Kampagne, die unabhängig von der alten Machtelite ist. Trotz aller Widersprüche zwischen den Interessen der Moskauer Führung und den der Gouverneure in den Regionen, verfolgen die regionalen Eliten ähnliche wirtschaftspolitische Programme und teilen die politischen Grundauffassung der zentristischen Machtelite, wie sie sich um Luschkow versammelt.

Es gilt, den Staat mit mehr Kompetenzen auszustatten, die Wiederbelebung und Modernisierung des heimischen Wirtschaftspotentials einzuleiten, Investitionen in die produktive Wirtschaft zu fördern, die kommunale Infrastruktur zu verbessern und die Kontrolle über den politischen Entscheidungsprozeß nicht den Konzernen oder externen Mächten zu überlassen. In den wirt-schaftspolitischen Fragen besteht hier weitgehende Übereinstimmung. Daß die Stärkung der politischen Autorität auch nicht immer mit der Entfaltung demokratischer Entwicklungen einher gehen muß, scheint angesichts der Praxis, wie sich um Gouverneure in den Regionen politische Maschinen entwickelt haben, wie wenig Rechte und Kontrollmöglichkeiten die regionalen Parlamente über die Exekutive haben, kein Streitpunkt. Im Gegenteil. parlamentarische Kontrollen der autoritär regionalen Regime sind kaum ausgebildet.

Kommt es bis zum nächsten Jahr zum Machtwechsel in der Politik, so wird mit dem Austausch der politischen Führungseliten auch eine Neufassung der korporatistischen Herrschaftsformel erfolgen. Die kurze Phase der oligarchischen, von der Politik losgelösten Herrschaft wird dann endgültig ausklingen und die Politik wieder zu dominanten Faktor werden. Dabei muß das Projekt der Demokratie nicht auf der Strecke bleiben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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