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Asian Model versus American Model?

Dreißig Jahre lang haben sich mehrere Generationen wissenschaftlicher Asienspezialisten darum bemüht, ein überzeugendes Erklärungsmodell für die großen, in der Geschichte der Weltwirtschaft bisher beeindruckendsten Erfolgsgeschichten zu erstellen, leider ohne ein allgemein anerkanntes Ergebnis. Zwischen den Fronten der verschiedenen Schulen herrschte Stillstand. Zumeist kritisierten die Vertreter der drei großen Richtungen - Institutionalisten ("Governance and policies matter!"), Neoklassiker ("Prices and the(!) market matter!"), Kulturalisten ("History and culture matter!") - die rivalisierenden theoretischen Darlegungen als "Theorien mit geringer Erklärungskraft", wenn nicht gar als völlig irreführend. Unumstritten hinsichtlich dessen, was wesentlich für das Thema sei, waren nur zwei Tatbestände: extrem hohe Spar- und Investitionsraten sowie außerordentlich hohe Exportquoten (Exportwert im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt). Das aber war in der Tat zu wenig, um ein Erklärungsmuster zu entwerfen, das als conventional wisdom allgemein akzeptiert werden konnte.

Ähnliches scheint jetzt für die Erklärungsnot in der Krise zu gelten. Auch hinsichtlich der grundlegenden Ursachen für das tatsächliche oder vermeintliche "Ende des Wunders" gibt es keine gängige Weisheit. Im Nachhinein - und nur post eventum, das muß betont werden - heißt es, hohe Sparraten seien eben keine Garantie für entsprechend hohe Investitionsraten, jedenfalls dann nicht, wenn der unübersehbare Schutt des investment waste ausgeräumt wird. Hinter der Fassade hoher industrieller Dynamik habe sich ein "Golfkurs-Kapitalismus" bzw. "Paria-Kapitalismus" breitgemacht.

Andere Kritiker konnten der Versuchung nicht widerstehen, den nordost- und südostasiatischen Volkswirtschaften Amerika als unbedingt nachahmenswertes Modell anzudienen. Motto: "Asia Needs a New Model!" (Asian Wall Street Journal, 9. Dezember1997): "The 'Asian model' is itself the problem... The new model needs financiers who know a good business from a bad one and who are not corporate or political cashiers. It requires officials to formulate the rules but stay out of the game. And it needs political leaders to explain what went wrong, why the new model is better and to trust their countrymen to get on with it. If the new model looks Western that's because it is. It also works and it's the only one model which does."

Glücklich ist, wer über die Begabung eines selektiven Gedächtnisses verfügt. Es ist sicherlich richtig, daß man in Südostasien und anderen Teilen des Kontinents nach neuen Entwicklungswegen suchen muß, aber ob es dazu der amerikanischen Wirtschaftsweise und -organisation bedarf, erscheint nicht nur dem Autor zweifelhaft. Hat Amerika den Börsen-Crash von 1987 niemals erlebt? Oder hat sich das berüchtigte savings and loan debacle, das den amerikanischen Steuerzahler weit über 100 Milliarden Dollar kostete, niemals wirklich ereignet? Wo waren da die gepriesenen amerikanischen Institutionen, die sich ach so positiv von der crony economy auf der anderen Seite des Pazifiks abheben? Ferner drängt sich die Frage auf, wie überlegen denn die Finanzinstitute des "Westernmodel" tatsächlich waren, als es in Ostasien darauf ankam, "to know a good business from a bad one".

Es läßt sich zudem vermuten, daß solche und vergleichbare Pseudo-Predigten nicht nur aus dem Bedürfnis heraus verfaßt worden sind, die politisch-wirtschaftlichen Führungen in den asiatischen Krisenländern (Japan selbstverständlich eingeschlossen) zu ermahnen, von ihrem falschen Tun abzulassen, sondern sie sollen offensichtlich auch alle diejenigen "Häretiker" - im Westen wie in Asien - belehren, die offen zu behaupten wagen, neben dem theoretischen wie praktischen neoliberalen Kapitalismusmodell können auch andere Varianten, so z.B. eine soziale Marktwirtschaft ("spirit of Rhine valley capitalism"), gleichberechtigter Teil der globalen Realität sein. Nach den Überzeugungen dieser Anhänger der "politischen Ökonomie" wird die Zukunft der Welt trotz aller tatsächlichen oder vermeintlichen Globalisierungstendenzen auch weiterhin von einem "zwar interdependenten, aber nicht konvergierenden globalen System" bestimmt werden. Daran werden auch, so die politisch-ökonomischen Kritiker des "Marktfundamentalismus", die Krisendiktate des IWF und des US-Finanzministeriums nur kurzfristig etwas ändern können. "It is totally unrealistic to expect the fundamental and rapid transformation of patterns of economic and political interaction that are rooted in the values and practices of Asian societies."

Wie auch immer man zu den seit mehr als zehn Jahren anhaltenden Diskussionen um die Existenz eines "spirit of Asian capitalism" steht und für wie sinnvoll bzw. unsinnig man solche Diskussionen auch hält, zum Problem der "Unfallträchtigkeit" dynamischer Volkswirtschaften sei noch einmal Paul Krugman zitiert: "Nor is strong long-term economic performance any guarantee against such crises. As the list suggests, the United States was not only subject to panics, but unusually crisis-prone compared with other advanced countries, during the very years that it was establishing its economic and technological dominance." (http://web.mit.edu/krugman/www/suisse.html)

Vergessen wir zudem nicht: Das östliche Asien stellt heute - Krise hin oder her - die dritte Schlüsselregion der globalen Wirtschaftslandschaft dar. Gleichgültig ob es nun ein "asiatisches Modell" gegeben hat oder nicht (einige Ausführungen zu dieser Frage folgen weiter unten), dreißig Jahre dynamischer regionaler Entwicklungsleistung und den rasanten Aufstieg Japans zur weltweit zweitgrößten Wirtschaftsmacht mit der Stegreiflosung, das asiatische Modell sei das eigentliche Problem, apodiktisch aus der Welt zu reden, verdient Punkte für großen Einfallsreichtum, aber leider nicht für überlegenen Realitätssinn.

Die eigentliche Frage lautet: Hat das asiatische Modell (oder die Modelle) angesichts der sich nachhaltig ändernden globalen Bedingungen und der neuen Entwicklungsanforderungen an die einzelnen Wirtschaftsgesellschaften eine Zukunft, oder hat es sich aufgrund seiner Erfolge selbst zum Abschied verurteilt? Anders gefragt: Benötigen die nordost- und südostasiatischen Länder neue politisch-wirtschaftliche Organisationsweisen und ein verändertes Handlungsbewußtsein, um ihren Entwicklungsweg ebenso erfolgreich wie in der Vergangenheit fortsetzen bzw. wieder aufnehmen zu können? Vieles spricht dafür, daß ein solcher Ordnungswandel zu einer der unerläßlichen Voraussetzungen geworden ist, um den Durchbruch vom bisherigen catch-up development zum sogenannten frontier growth, d.h. zu einem vorrangig effizienzgetragenen Wachstum an der Spitze des weltwirtschaftlichen Geschehens, dauerhaft zu bewerkstelligen. Kein Geringerer als Malaysias kürzlich amtsenthobener Vize-Premier und Finanzminister Anwar Ibrahim hat dieses Dilemma anschaulich hervorgehoben: "Asian economic growth is dependent as well, on the ability of the continent to keep pace with the global shift to a new economic structure powered by brains rather than brawn... Thus, the role of education and human resources development will be crucial as Asia strives to develop an indigenous scientific and technological culture, as will the rearrangement of current societal configurations modelled on the hierarchical nature of the industrial age. Asia needs to undergo a paradigm shift." (The Asian Renaissance, Singapore, Kuala Lumpur, 1996, S.130-131)

Der Autor hat diesen Sachverhalt mit Blick auf Japan unter einer anderen Perspektive behandelt, wobei zu vermerken ist, daß die nachfolgenden Anmerkungen wegen der gesamtregionalen Dominanz des Landes auch für die anderen emerging countries Nordost- und Südostasiens Gültigkeit beanspruchen können: "Nihongata keiei, the ‘Japan mode of economic management’, evolved in the course of Japan's spectacular economic recovery period of the 1950s and 1960s. Gradually, the system was perfectly adapted to the requirements of rapid economic catch-up development. Highly superior adjustment to the then existing U.S.-guided global economic environment was the ‘big key’ to success. But, by now, the stage of catch-up development belongs to the past. Moreover, the global and regional environment has witnessed essential changes demanding new ways and strategies. This means, among others, that Nihongata keiei is no longer as perfectly suited to the rhythm of global economic shifts as in previous times... Paradigm lost! Paradise lost?"

Warum das bisherige entwicklungsleitende Paradigma für das gesamte östliche Asien verloren scheint, soll weiter unten skizziert werden. Hier soll nur eine persönliche Bewertung des Autors vorzutragen, was er für die eigentliche Ursachenfolge der Krise hält. Bereits 1996 wurde die Befürchtung geäußert, es könnte in der Region in den wichtigen industriellen Schlüsselbranchen zu einem systematischen Überkapazitätenaufbau kommen. 1997 erwies sich, daß es nicht mehr um bloße Vermutungen ging. Überkapazitäten waren traurige Realität. Sie hatten Tendenzen zum Verdrängungswettbewerb ausgelöst, die unter anderem klare Preisverfallserscheinungen und entsprechende Einkommenseinbußen der Produzenten zur Folge hatten. Die kritische Bedeutung dieses Sachverhaltes ist in Südostasien und auch in China zur Diskussion gestellt worden.

Anfänglich erzeugte die These vom möglichen Kausalzusammenhang zwischen der Entstehung industrieller Überkapazitäten und der folgenden Finanzkrise zumeist nur ein skeptisches Echo, aber seit Ende 1998 scheint sich auch in dieser Frage ein Beurteilungswandel abzuzeichnen, wie so häufig nicht aufgrund neuer theoretischer Erkenntnisse, sondern wohl eher als Ergebnis der weniger günstigen Prognosen für das mittelfristige konjunkturelle Klima der westlichen Volkswirtschaften und des Entschlusses einiger westlicher Konzerne, an mehreren Standorten die Produktion elektronischer Bausteine einzustellen.

Zwei Ursachen lassen sich im Nachhinein dafür ausmachen, daß die Region von dieser Entwicklung zutiefst überrascht wurde. Zum einen hatte die ungeheure Wucht der intraregionalen "Investitionsoffensiven" seit 1987-88 (Verlagerung ganzer Branchenproduktionen von Nordostasien nach Südostasien und China) zu einem bis dahin nicht gekannten Tempo der Kapazitätserweiterung geführt. Zum anderen hatte zu Beginn dieses Entwicklungsprozesses niemand mit dem historisch nahezu einmaligen Entwicklungsaufschwung des großen chinesischen Küstengürtels gerechnet, nicht einmal rechnen können. Insgesamt gingen damit vor allem in Südostasien rund zehn Jahre an wertvoller struktureller Anpassungszeit verloren. Das ist der Preis, der für die hohe Dynamik gezahlt wurde.

Die Ergebnisse sind bekannt. Der Zufluß ausländischer Direktinvestitionen verlangsamte sich. Die Exporterlöse wuchsen nicht wie erwartet oder mit Blick auf die Schuldendienstverpflichtungen geplant, und die Investoren in den einzelnen Ländern, die das "Ende der Fahnenstange" im industriellen Bereich erkannten, lenkten ihr Kapital - zum großen Teil Kreditkapital - in andere Bereiche, die sich - im Nachhinein - als unzureichend produktiv erweisen sollten. Das alles spielte sich in einem Zeitraum von weniger als vier Jahren ab. Das gesamte östliche Asien wurde gleichsam ein Opfer seiner gewaltigen Erfolge. Gerade wegen des extrem hohen Tempos der Vorgänge kam es zu den späteren Entgleisungen. Die Zeit war zu kurz, um wirkungsvoll gegensteuern zu können.

Auch hier war in erster Linie die Logik der Situation maßgeblich. Die oft genannten Phänomene der persönlichen Gier, Spekulationssucht und Verblendung taten ihr übriges, aber sie waren nicht ausschlaggebend. Um es zu wiederholen: Letztlich waren es der wegen der historisch unvergleichlichen Dynamik von niemandem frühzeitig erkannte Aufbau industrieller Überkapazitäten in der gesamten Großregion sowie der Mangel an entwicklungspolitisch sinnvollen Investitionsalternativen, die bei gleichzeitig ungebrochenem Zufluß günstigen Kreditkapitals zu der Finanzkrise in der Region und dann in einigen Ländern zur umfassenden Wirtschaftskrise führten. Nachträglich läßt sich jedoch anmerken, daß die zerstörerische Wucht der Krise die Kapazitätsproblematik (zumindest) vorübergehend entspannt hat. Ob es sich bei dieser Sturzwelle von "Marktaustritten" um eine "schöpferische Zerstörung" im Sinne Schumpeters gehandelt hat, bleibt abzuwarten. Unabhängig davon steht zu vermuten, daß sich die Gewichte innerhalb der Gesamtregion aufgrund des "meltdown" in der industriellen Landschaft Südostasiens weiter zugunsten Chinas verschoben haben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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