FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:



Israel im Nahen Osten - Szenarien und Optionen

Die enge Verbindung zwischen Friedensprozeß und wirtschaftlicher Entwicklung wird sichtbar an der verbissen geführten Debatte darüber, ob die israelische Rezession hauptsächlich von der Stagnation im Friedensprozeß verursacht wurde oder nicht. Hier stehen sich zwei Denkschulen gegenüber: Die eine umfaßt das rechte politische Lager und die meisten angesehenen Wirtschaftswissenschaftler. Diese verweisen auf den geringen Grad der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und auf die Tatsache, daß allein 1997 bereits 3,7 Milliarden US-Dollar ausländischer Investitionen ins Land flossen – mehr als in den drei Jahren der Rabin-Regierung zusammen.

Die zweite Schule setzt sich aus den Linken und den meisten Wirtschaftsführern zusammen. Sie argumentieren, daß die hohe Zahl von Auslandsinvestitionen auf langfristig geplante Anlagen aus der Rabin-Zeit zurückgeht, und daß sie 1998 erheblich zurückgegangen sind. In Wirtschaftskreisen erhofft man sich von einer Wiederbelebung des Friedensprozesses neue Exportchancen und eine stärkere Öffnung der Wirtschaft.

Die Wahrheit dürfte auch hier in der Mitte liegen. Richtig ist zweifellos, daß es zu den Ländern des Nahen Ostens nicht nur wenig Wirtschaftsbeziehungen gibt, sondern daß auch die Potentiale dafür wegen der Nachfragestruktur dieser Länder gering sind. Richtig ist aber auch, daß der 1993 gestartete Friedensprozeß neue Märkte vor allem in Asien (China, Indien usw.) geöffnet hat, die Israel bis dahin verschlossen waren und die große, wenn auch durch die Asienkrise des letzten Jahres gedämpfte Potentiale in sich bergen. Letztlich scheint der wichtigste Faktor im psychologischen Bereich zu liegen: Investoren scheuen unklare, instabile Verhältnisse, auch wenn diese eher potentiell als real sind. Ein durch Friedensverträge abgesichertes und stabiles Israel würde sicherlich verstärkt ausländische Investitionen anziehen, auch wenn die Verflechtung innerhalb der Region gering bleibt.

Für die zukünftige Rolle Israels im Nahen Osten nach dem Regierungswechsel gibt es verschiedene Optionen und Szenarien, die neben der politischen Entwicklung im Land selbst und in der Region auch von den wirtschaftlichen, militärischen, demographischen und anderen Grundlagen abhängen. Ein Vergleich im internationalen und regionalen Rahmen erscheint für eine solche Beurteilung deshalb nützlich. Im internationalen Rahmen stellt sich Israel als kleines Land von der Größe und der Einwohnerzahl des deutschen Bundeslandes Hessen dar, mit einem allerdings nur halb so großen Bruttosozialprodukt. Sein politisches Gewicht ist aber aufgrund der Geschichte und der Bedeutung der jüdischen Diaspora, vor allem in den USA, ungleich höher.

Nicht zuletzt beruht dieses Gewicht aber auch auf Israels Rolle als regionale Vormacht im Nahen Osten. Das Land ist nicht nur stärkste Wirtschafts- und Militärmacht in der Region, es ist auch die einzige wirkliche Demokratie mit einem funktionierenden Rechtssystem und freier Presse.


Bruttoinlandsprodukt
Pro Einwohner und in Mrd. US-Dollar 1997

Militärausgaben
(in % des BSP)

Einwohner (Mio.)

Israel

92,8

15.900

11,143

11,5%

6,0

Ägypten

71,2

1.180

2,743

4,3%

65,0

Syrien

17,1

1.150

2,217

6,3%

15,5

Libanon

13,9

3.350

0,676

4,5%

4,1

Jordanien

7,0

1,570

0,496

6,4%

4,5

Vergleich:

Deutschland

2319,5

28.260




Diese Zahlen, wie auch die Struktur der israelischen Wirtschaft mit einem effizienten Bankensystem und einem wachsenden Anteil an Zukunftsindustrien und Dienstleistungen, machen deutlich, daß Israel durchaus verschiedene Optionen hinsichtlich seiner Zukunftsgestaltung hat – Optionen, die den unterentwickelten Nachbarländern nicht zur Verfügung stehen. Ergänzt werden diese durch außen- und sicherheitspolitische Aspekte, die für die Mehrheit der Israelis angesichts der immer noch nicht völlig gesicherten Existenz ihres Staates nach wie vor an erster Stelle stehen.

Drei Optionen bieten sich der neuen israelischen Führung hinsichtlich ihrer Verortung im Nahen Osten an, der Region, zu der Israel geographisch gehört, mit der es aber politisch, kulturell, mental und ökonomisch bisher nur wenig verbindet. So gehört Israel als einziges UN-Mitglied nicht seiner geographischen Sub-Region an, weil die arabischen Staaten seine Aufnahme boykottiert haben; und in den internationalen Sportwettbewerben zählt Israel zu Europa. Folgende Szenarien sind denkbar:

1. Nach Abschluß einer umfassenden Friedensregelung wird Israel vollwertiges Mitglied der Nahost-Region. Dieses Szenario entspricht der Vision des Friedensnobelpreisträgers Schimon Peres von einem „neuen Nahen Osten", in dem Israel sich erstmals in seiner Geschichte voll und ganz in seiner „Heimatregion" verortet. Doch stößt diese Vision im eigenen Land auf massiven Widerstand: Die Rechten glauben nicht daran, daß die Araber sich jemals mit der Existenz Israels wirklich abfinden werden. Der realpolitische Flügel der Awoda um Barak blickt auf die Fakten und glaubt zu erkennen, daß bestenfalls ein pragmatisches Nebeneinander auf lange Sicht möglich sein wird. Auch auf arabischer Seite ist dies ein ungeliebtes Szenario: Ägypten fürchtet um seine Führungsrolle in der Region, und die meisten arabischen Staaten sehen zur militärischen auch noch die ökonomische Dominanz des Judenstaates kommen. Tel Aviv als Finanz- und High-Tech-Zentrum des Nahen Ostens in der Nachfolge von Beirut – dies ist der Traum des Schimon Peres und der Albtraum der meisten arabischen Führer. Lediglich die wohlhabende Oberschicht der kleinen Golfstaaten genießt schon jetzt den Konsumrausch in den schicken Einkaufszentren von Tel Aviv und Jerusalem und würde sich gerne auf Geschäfte mit den Israelis einlassen;

2. Das Kontrastprogramm dazu ist die Rolle Israels als einer Ordnungsmacht im Nahen Osten, natürlich nach einer umfassenden Friedensregelung unter dem Schutzschirm der USA und im Verbund mit der in den letzten Jahren gewachsenen militärischen Allianz mit der Türkei – auch dies ein Albtraum für die Araber, die trotz der Vermittlungsbemühungen der Clinton-Administration in den letzten Jahren den Amerikanern noch immer unverbrüchliche Israel-Treue und die Neigung zu einer „Pax Americana" auch im Nahen Osten unterstellen.

3. Dazwischen liegt die Einbettung Israels in das „Euro-Mediterrane Partnerschaftsprogramm" (EMP) zwischen der Europäischen Union und zwölf nicht-europäischen Mittelmeeranrainern. Dieses Programm hat in den Jahren der Netanjahu-Eiszeit viele informelle und auch offizielle Begegnungen zum Beispiel zwischen Israelis und Syrern ermöglicht, und es bietet einen ebenso unverbindlichen wie wirksamen Rahmen für eine behutsame Integration Israels in den Nahen Osten. Das über Kooperationsabkommen (bisher mit Israel, Jordanien, Tunesien und den Palästinensern) avisierte Ziel der EU zur Schaffung einer Freihandelszone bis zum Jahr 2010 könnte langfristig den Weg zur Verwirklichung des ersten Szenarios ebnen.

Zwar dominiert im Bewußtsein der israelischen Meinungsträger noch immer die amerikanische Option, doch könnte sich dies nach einer umfassenden Friedensregelung ändern. Dann nämlich würden die sicherheitspolitischen Aspekte, wie die jährliche US-Militärhilfe in Höhe von 1,8 Milliarden Dollar, in den Hintergrund treten und wirtschaftliche Überlegungen den Vorrang erhalten. Dann käme zur Geltung, daß die Hälfte des israelischen Außenhandels mit Europa abgewickelt wird und Israel das einzige nichteuropäische Land ist, das am Forschungs- und Entwicklungsprogramm der EU beteiligt ist. Dann auch würden die Europäer, die bisher von Israel mehr geduldet als gewünscht im Friedensgeschäft mitmischen, andererseits aber von den Arabern als Gegengewicht zu den Amerikanern durchaus geschätzt werden, eine größere Rolle im Nahen Osten spielen können – nach der Kosovo-Krise vielleicht die erste große Herausforderung für den zukünftigen Hohen Repräsentanten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana. Der Regierungswechsel hat noch eine weitere Schiene der Europa-Orientierung geöffnet: das Interesse der führenden Awoda-Politiker wie Barak, Beilin und Ben-Ami an den programmatischen Diskussionen der europäischen Sozialdemokratie als Anregung für die zukünftige Gestaltung der israelischen Gesellschaft.

So könnten sich die drei Optionen der israelischen Politik durchaus zu einem langfristigen Szenario verbinden: von der einseitigen Amerika-Orientierung über die euro-mediterrane Schiene hin zu einer Integration Israels in den Nahen Osten. Dies ist zugegebenermaßen vorerst noch ein Wunschbild, doch der Wahlsieg Baraks könnte den Weg dahin geöffnet haben. Zunächst aber steht eine erfolgreiche vierjährige Legislaturperiode auf der Tagesordnung, und dies ist angesichts der Verhältnisse in Israel und im Nahen Osten keine leichte Aufgabe.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

Previous Page TOC