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Zwischen Wohlfahrtstaat und Modernisierung

Barak übernimmt von seinem Vorgänger Netanjahu ein zwiespältiges wirtschaftspolitisches Erbe, das auf den ersten Blick ein Hindernis bei der Umsetzung seines Reformprogramms darstellt, auf den zweiten Blick jedoch eine relativ gesunde Grundlage dafür bietet. Belastend wirken sich das geringe Wirtschaftswachstum von ca. zwei Prozent und der damit verbundene Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens aus sowie die für dieses Jahr auf etwa neun Prozent geschätzte Arbeitslosigkeit. Andererseits hat es die Netanjahu-Regierung geschafft, die in Israel traditionell hohe Inflation auf voraussichtlich vier Prozent in diesem Jahr zu senken, die Staatsverschuldung und das Außenwirtschaftsdefizit drastisch zu reduzieren und ein ambitiöses Privatisierungsprogramm in Angriff zu nehmen. Dazu kommen um das Mehrfache gestiegene Devisenreserven und eine fast vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Diese Veränderungen können in einem Land nicht hoch genug eingeschätzt werden, dessen Gründungsmythos der kollektive Aufbau ist und das heute noch unter starren bürokratischen Strukturen und einer Staatsquote von 54 Prozent leidet. Natürlich hat dieser Wandel nicht erst mit Netanjahu begonnen, und er ist auch längst noch nicht abgeschlossen. Dennoch ist Israel heute – trotz aller noch bestehenden Defizite – bereits über das Stadium eines emerging market hinausgewachsen und verfügt über einen boomenden High-Tech-Sektor, der zunehmend die Aufmerksamkeit internationaler Investoren auf sich lenkt. Dazu kommt ein selbst im Weltmaßstab ungewöhnlich hoher Bildungsgrad der Bevölkerung, der in einem Anteil von über zehn Prozent des Bruttosozialprodukts für Bildungsausgaben zum Ausdruck kommt (Durchschnitt der westlichen Länder: 6,2 Prozent).

Barak erbt damit eine Wirtschaft, die sich zwar in einer Rezession, gleichzeitig aber auch auf dem Weg der Gesundung befindet. Das Dilemma ist damit vorprogrammiert: Soll vorrangig die Modernisierung der Wirtschaft fortgeführt werden oder droht ein Rückfall in wohlfahrtsstaatliches Denken nach altem Muster? Die Bataillone auf beiden Seiten haben sich schon formiert, und pikanterweise sind im eigenen Lager die beiden Spitzenleute neben Barak die Hauptkontrahenten: auf der einen Seite Jossi Beilin, früher schon einmal Wirtschafts- und stellvertretender Finanzminister. Er tritt für ein modernes sozialdemokratisches Reformprogramm unter Beibehaltung einer strikten Haushaltsdisziplin, einer umfassenden Steuerreform und weitgehender Privatisierungen ein, weil seiner Meinung nach nur so langfristig eine gesunde Grundlage für die auch von ihm als notwendig erachteten sozialpolitischen Maßnahmen gegeben sein wird. Auf der anderen Seite der neue Star der Awoda, Schlomo Ben-Ami, der im Wahlkampf die „soziale Seite" der Kampagne vertrat und für ein eher klassisches sozialdemokratisches Konzept steht, in dem der Staat die tragende Rolle spielt.

Wie im realen Leben, so haben auch in dieser Auseinandersetzung beide Seiten gute Argumente für sich. Dem neuen Ministerpräsidenten fällt die schwierige Aufgabe der Entscheidung zu. Einerseits ist Israel immer noch von den alten Strukturen und Denkmustern seiner sozialistisch-bürokratischen Gründerzeit durchsetzt, die ein ernsthaftes Hindernis für eine im Weltmaßstab wettbewerbsfähige Wirtschaft darstellen. Andererseits hat sich das Land mittlerweile zu einer Konsumgesellschaft mit den höchsten Einkommensunterschieden der westlichen Industrieländer nach den USA entwickelt, mit den daraus resultierenden Gefahren für Demokratie und sozialen Frieden. Und dann muß Barak sich auch noch mit den extremen Polen dieser beiden Positionen auseinandersetzen: dem knallharten monetaristischen Zentralbank-Präsidenten Jakob Frenkel auf der einen Seite, der mit seiner Hochzinspolitik Arbeitgeber wie Gewerkschaften zur Verzweiflung treibt, und auf der anderen Seite die Ansprüche der diversen Koalitionspartner auf einen angemessenen (besser gesagt: unangemessenen) Anteil am Haushaltskuchen für ihre jeweilige Klientel.

Wie immer der neue Regierungschef sich entscheidet: die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen sind für die Zukunft Israels mindestens so entscheidend wie die friedenspolitischen. Daß beide zusammenhängen, liegt auf der Hand: ein Land im permanenten Belagerungszustand, wie es bis vor nicht allzu langer Zeit der Fall war, mit entsprechend hohen Verteidigungsausgaben (ein Viertel des Bruttosozialprodukts in den achtziger Jahren, heute noch zehn Prozent), wird eher einem staats- und autarkieorientierten Modell folgen als ein Land, das im Frieden mit seinen Nachbarn und in gesicherten Verhältnissen lebt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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