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Israel vor Neuwahlen : der Friedensprozeß auf dem Prüfstand / Winfried Veit. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1999. - 21 S. = 68 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT





[Essentials]

  • Etwa fünf bis sechs Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten und ein gutes Dutzend Parteien werden sich am 17. Mai bzw. 1. Juni um das Erbe Netanjahus streiten, der aufgrund dieser Zersplitterung durchaus Aussichten auf eine Wiederwahl hat.

  • Netanjahus Regierungsbilanz ist negativ. Er hinterläßt eine gespaltene Gesellschaft, in der die Eigeninteressen der ethnischen und religiösen Gruppen die zionistische Staatsidee unterhöhlen, eine beschädigte politische Kultur, eine angeschlagene Wirtschaft, in der sich die sozialen Gegensätze verschärfen, und schließlich einen Grad an außenpolitischer Isolierung, wie ihn Israel seit langem nicht mehr erlebt hat.

  • Für die zentralen Probleme bedeutet die faktische Lähmung des Landes während des Wahlkampfes nichts Gutes: der Friedensprozeß schließt neben dem Palästinenser-Problem die schwierige Libanon-Frage und das Verhältnis zu Syrien ein. Hier droht jetzt ein völliger Stillstand mit fatalen Folgen, denn die Unzufriedenheit der Palästinenser mit der (Nicht-)Umsetzung des Wye-Abkommens führte schon vor Weihnachten zu blutigen Unruhen in der Westbank. Entschieden werden muß auch der Rückzug der Armee aus der Sicherheitszone im Süd-Libanon.

  • Die gespannten Beziehungen zwischen dem religiösen und dem säkularen Bevölkerungsteil gelten bei der Mehrheit der Israelis als größte Gefährdung für die Zukunft ihres Staates. Hier stehen heikle Entscheidungen an wie das Konversionsgesetz und die Befreiung der orthodoxen Theologiestudenten vom Militärdienst.

  • Schließlich führt die Verschlechterung der Wirtschaftslage mit niedrigen Wachstumsraten, hoher Arbeitslosigkeit und steigender Inflation zu wachsendem Unmut bei Gewerkschaften wie Wirtschaftsverbänden. In der sozialen Frage könnte der eigentliche Sprengstoff für die israelische Gesellschaft liegen.

  • Die Wahlkampfstrategie der beiden wichtigsten Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt, Regierungschef Netanjahu und Avoda-Vorsitzender Barak, ist ähnlich: eine Personalisierung des Wahlkampfs, bei der der Kandidat wichtiger ist als Parteiprogramme; eine gewisse Distanzierung des Kandidaten von seiner Partei, da er über die Parteigrenzen hinweg Stimmen sammeln muß; ein Wettbewerb um die Mitte, gleichzeitig aber auch um die verschiedenen Interessengruppen wie sephardische und religiöse Juden, (russische) Neueinwanderer, arabische Minderheit usw., der eine weitere Verwässerung des Programms zur Folge hat.

  • Die Wirtschaftsbilanz hebt hervor ein Privatisierungsprogramm mit dem Verkauf von Staatsunternehmen im Wert von über zwei Milliarden DM allein 1998, die Liberalisierung von Märkten und Devisen, den Kampf gegen die Staatsverschuldung und eine Erhöhung der Devisenreserven sowie eine vorübergehend sehr niedrige, im Jahresdurchschnitt 1998 mit ca. acht Prozent für israelische Verhältnisse passable Inflationsrate.

  • Auf der Negativseite steht ein Wirtschaftswachstum von lediglich 1,9 Prozent, nach schon mageren 2,4 Prozent in 1997; 1996 waren es noch 4,7 Prozent. Das bedeutet bei einem Bevölkerungswachstum von 2,3 Prozent einen Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens um 0,4 Prozent, allerdings liegt dieses mit ca. 17.000 Dollar im Jahr über dem des EU-Mitglieds Spanien. Die Arbeitslosigkeit erhöhte sich 1998 auf 8,7 Prozent, nach 7,7 bzw. 6,7 Prozent in den Vorjahren.

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Nach mehr als zweieinhalb Jahren im Amt mußte Israels Ministerpräsident Netanjahu das Handtuch werfen und sich vorgezogenen Neuwahlen stellen. Seine fragile Koalition aus sechs Parteien war heillos zerstritten über den Friedensprozeß mit den Palästinensern, führende Köpfe seiner Likud-Partei haben sich gegen ihn gestellt, und die oppositionelle Arbeitspartei verweigerte ihm den letzten Rettungsanker, eine große Koalition.

Netanjahu hinterläßt einen für die Kürze seiner Amtszeit beträchtlichen Scherbenhaufen: eine gespaltene Gesellschaft, in der die Eigeninteressen der diversen ethnischen und religiösen Gruppen die einst wirkungsmächtige zionistische Staatsidee unterhöhlen, eine beschädigte politische Kultur, in der Postengeschacher und Kulissenschieberei einen selbst für israelische Verhältnisse unrühmlichen Höhepunkt erreichten, eine angeschlagene Wirtschaft, in der sich die sozialen Gegensätze verschärfen, und schließlich einen Grad an außenpolitischer Isolierung, wie ihn Israel seit langem nicht mehr erlebt hat. Wenn auch manches davon in der strukturellen Entwicklung der israelischen Gesellschaft in den letzten beiden Jahrzehnten angelegt war, so hat die Regierung Netanjahu doch in vieler Hinsicht diese Prozesse gleichsam im Zeitraffer verschärft.

Ein solchermaßen verunsichertes und an seiner Identität zweifelndes Land steht jetzt vor der Entscheidung, wie es weiter gehen soll. Die großen Themen und die zu lösenden Probleme liegen auf der Hand: der Friedensprozeß, der für die meisten Israelis untrennbar mit dem Begriff Sicherheit verbunden ist und der neben dem Palästinenser-Problem die nicht minder schwierige Libanon-Frage und das Verhältnis zu Syrien einschließt, die gespannten Beziehungen zwischen dem religiösen und dem säkularen Bevölkerungsteil, die der Mehrheit der Israelis als größte Gefährdung für die Zukunft ihres Staates gelten, und die immer stärker zutage tretende soziale Frage, in der weitsichtige Denker den eigentlichen Sprengstoff für die israelische Gesellschaft sehen.

Die sich am 17. Mai und 1. Juni 1999 (2. Wahlgang) zur Wahl stellenden Akteure beziehen zwar mehr oder minder deutlich Stellung zu diesen Problemen und haben auch den einen oder anderen Lösungsvorschlag zu machen. Doch bezeichnenderweise resultieren ihre Stärke und ihre Attraktivität beim Wahlvolk in den meisten Fällen eher auf ihrer persönlichen Biographie als auf klaren politischen Aussagen, was natürlich mit dem merkwürdigen System der Direktwahl des Ministerpräsidenten zu tun hat. Wer in einem Feld von möglicherweise vier bis fünf Kandidaten über die Parteigrenzen hinaus die Mehrheit erringen will, der wird naturgemäß möglichst wenig Angriffsflächen bieten wollen. So wird der Kampf um die ominöse Mitte, die man bei der Zersplitterung der israelischen Gesellschaft nur noch schwer erkennen kann, zum Markenzeichen eines Wahlkampfes, der – ganz nach amerikanischem und neuerdings auch britischem oder deutschem Vorbild – zunehmend auf Medienwirksamkeit und weniger auf inhaltliche Aussagen setzt.

Amerikaner und Europäer beeinflussen aber nicht nur – auch in Form von Beratern – den Wahlkampf, ihnen kommt auch eine bedeutsame Rolle beim weiteren Fortgang des Friedensprozesses zu. Wie das Kaninchen auf die Schlange starrt man nämlich im Nahen Osten auf den 4. Mai 1999, wenn die Fünfjahresfrist des Oslo-Abkommens abläuft und die Palästinenser voraussichtlich einen unabhängigen Staat ausrufen werden. Um ein für diesen Fall durchaus nicht auszuschließendes „worst-case-scenario" zu verhindern, sind die Vermittlungsmacht USA und der Zahlmeister Europa aufgerufen, vorausschauende Einflußnahme zu betreiben.

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Das politische System: Balkanisierung à la Israel

Im Mai 1996, als der Nobody Benjamin Netanjahu praktisch aus dem Stand den erfahrenen Staatsmann und angesehenen Friedensnobelpreisträger Shimon Peres - wenn auch nur knapp – besiegte, wurde der Ministerpräsident zum ersten Mal in der Geschichte Israels in Direktwahlen bestimmt. Mit diesem in der Welt einmaligen Wahlverfahren – einer nicht ganz gelungenen Mischung zwischen amerikanischem Präsidial- und klassischem parlamentarischen System – haben sich die Koordinaten der israelischen Politik erheblich verändert. Von seinen Erfindern war es als Heilmittel gegen die zunehmende Zersplitterung der israelischen Parteienlandschaft gedacht, doch das genaue Gegenteil ist eingetreten: die Wähler nutzten die Möglichkeit des Stimmensplitting, um bei der Wahl des Ministerpräsidenten ihrer generellen politischen Orientierung Ausdruck zu verleihen. Bei der Wahl zum Parlament, der Knesset, konnten sie sodann ruhigen Gewissens ihren engeren Interessen frönen mit dem Ergebnis, daß vor allem sogenannte single issue-Parteien zulegten und heute zwölf Parteien in der Knesset vertreten sind.

Dieser Trend hat sich bei den Kommunalwahlen vom 10. November 1998 in geradezu dramatischer Weise bestätigt. Auch dort galt es, in Direktwahl den Bürgermeister und mit der Zweitstimme das Kommunalparlament zu bestimmen. Das Ergebnis war vor allem ein Schock für die beiden großen Parteien, den konservativen Likud und die sozialdemokratische Arbeitspartei (Avoda), die im Landesdurchschnitt etwa 30 Prozent ihrer Mandate verloren. Die großen Gewinner waren „single issue"-Parteien: die religiöse Shas-Partei, die vor allem von Israelis nordafrikanischer Abstammung gewählt wird; Yisrael Ba`aliya, die Interessenvertretung der Einwanderer aus der früheren Sowjetunion; die Grünen, die erstmals in die Stadtparlamente der Großstädte Tel Aviv und Haifa einzogen. Daneben legte auch die linksliberale Meretz zu und vor allem eine Gruppierung, die als Mischung zwischen „single issue" und neuer Zentrumspartei von vielen umworben wird: die vom Sohn des ermordeten Ministerpräsidenten Rabin, Yuval, gegründete Friedensbewegung Dor Shalom.

Wie ein böses Omen liegt das Ergebnis der Kommunalwahl über dem bevorstehenden nationalen Wahlgang am 17. Mai, der aufgrund des Selbstauflösungsbeschlusses der Knesset im Dezember notwendig wurde, nachdem Netanjahu seine Mehrheit im Parlament verloren hatte. Knesset-Präsident Dan Tichon folgerte aus den Kommunalwahlen, daß „mit dem Direktwahlsystem sich eine Balkanisierung der israelischen Politik vollzieht. Eine daraus folgende Koalition aus einem Dutzend oder mehr Parteien wäre ein sicheres Rezept für chaotische Zustände."

Ein Blick auf die Verhältnisse in den großen Städten scheint diese Einschätzung zu bestätigen: In Tel Aviv gewann der als Unabhängiger angetretene, aber der Avoda angehörende Ron Huldai, der erst in letzter Minute von seiner Partei unterstützt worden war, mit 50,3 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang das Bürgermeisteramt. Seine Liste erhielt aber nur fünf von 31 Sitzen im Stadtrat, ist damit aber gleichwohl stärkste Fraktion. Die restlichen 26 Mandate verteilen sich auf nicht weniger als zwölf Parteien und Listen. In Jerusalem verteidigte Bürgermeister Olmert (Likud) mit 61,2 Prozent problemlos sein Amt, während seine Liste lediglich 6,6 Prozent erhielt. Die 31 Stadtratsmandate verteilen sich auf zehn Parteien, die stärkste Fraktion ist eine ultra-orthodoxe Listenverbindung mit sieben Sitzen. Ein Spezifikum Jerusalems ist, daß die Orthodoxen jetzt mit 15 fast die Hälfte der Stadträte stellen (bisher ein Drittel). Der Grund: Die Wahlbeteiligung bei den Religiösen lag bei 90 Prozent, bei den Säkularen hingegen bei weniger als 40 Prozent. Eine ähnliche Zersplitterung ist auch in den übrigen Großstädten wie Haifa (Bürgermeister Amnon Mitzna) und Beersheva (Bürgermeister Yacov Terner), aber auch in vielen kleineren Gemeinden festzustellen.

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Die Akteure: Der Kandidat ist die Botschaft

Die daraus folgenden Konsequenzen für die Strategie der Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt sind klar, und Regierungschef Netanjahu sowie sein bisheriger Hauptkontrahent, der Avoda-Vorsitzende Ehud Barak, haben dies auch schon im Vorfeld der Kommunalwahlen beherzigt. Dies bedeutet:

  • eine Personalisierung des Wahlkampfs mit der Folge, daß der Kandidat und die auf seine Person bezogenen Aussagen wichtiger sind als Parteiprogramme;

  • eine gewisse Distanzierung des Kandidaten von seiner Partei, da er weit über die Parteigrenzen hinweg Stimmen sammeln muß;

  • ein Wettbewerb um die Mitte, wobei im israelischen Kontext fraglich ist, ob hier wirklich die Wahlen gewonnen werden;

  • im Gegensatz dazu aber auch das Werben um die verschiedenen Interessengruppen wie sephardische und religiöse Juden, (russische) Neueinwanderer, arabische Minderheit usw., das eine weitere Verwässerung des Programms zur Folge hat.

Vorbilder für einen solchen in erster Linie persönlichkeits- und medienbezogenen Wahlkampf liefern vor allem die USA. Netanjahu hat bereits 1996 den Wahlkampf nach amerikanischem Muster geführt, und auch diesmal spielt sein amerikanischer Berater Arthur Finkelstein eine Rolle. Oppositionsführer Barak hat für die kommenden Wahlen ebenfalls ein amerikanisches Team unter Leitung des Clinton-Beraters James Carville engagiert. Darüber hinaus hat sich die Führungsspitze der Avoda auch intensiv in England und Deutschland umgesehen, da die Mischung aus persönlichem Charisma und sozialdemokratischer Botschaft bei Blair und Schröder gewinnträchtig erscheint.

Das aus dieser Konstellation resultierende Spannungsverhältnis zwischen Kandidaten- und Parteiinteressen macht sich am stärksten bei der sozialdemokratischen Avoda bemerkbar und dies praktisch seit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Ehud Barak im Juni 1997. Dem ehemaligen Generalstabschef und kurzzeitigen Außenminister im Kabinett Peres werfen viele in den eigenen Reihen vor, noch immer zu sehr als Militär und zu wenig als Politiker zu handeln. Von einsamen Entschlüssen und der Vernachlässigung der Partei ist die Rede, aber auch von Führungsschwäche und Konzeptionslosigkeit. Doch abgesehen von dem Dauerkonflikt mit seinem Vorgänger Shimon Peres, der seine Ablösung nach der Wahlniederlage im Mai 1996 noch immer nicht verwunden hat, und einer anhaltenden Heckenschützentätigkeit durch einige sich zurückgesetzt fühlende Abgeordnete, liegt dieses Spannungsverhältnis weniger in der Person Baraks begründet als vielmehr in einem strukturellen Interessengegensatz aufgrund des Direktwahlsystems.

Daraus ergeben sich fast folgerichtig zwei Machtzentren innerhalb der Partei: das eine gruppiert sich um Barak, der über einen eigenen Wahlkampfstab außerhalb der Parteigremien sowie eine eigene Bürgerbewegung („Für Barak als Ministerpräsident") verfügt und der die Partei am liebsten innerhalb einer breiten Allianz verschiedener Gruppen („Ein Israel") in den Wahlkampf führen möchte. Für letzteres hat er bisher aber nur eine vage Zusage der kleinen Gesher-Partei des Anfang 1998 zurückgetretenen Außenministers David Levy. Das andere Lager zentriert sich um den von Barak handverlesenen Generalsekretär Ra`anan Cohen, der um eine Erneuerung der Partei kämpft, die mit etwa 40 Millionen DM verschuldet ist, in den letzten zwei Jahren die Hälfte ihrer Angestellten entlassen mußte und bei deren überalterter Mitgliedschaft sich Resignation breitmacht. Die Interessenkonflikte ergeben sich dabei wie von selbst: Barak präsentiert ein eher populistisches Wahlprogramm nach dem Vorbild von Tony Blair, Cohen will das programmatische Profil der Partei schärfen; Barak strebt eine breite Bürgerallianz unter seiner Führung an, Cohen betreibt vorrangig die organisatorische Konsolidierung der Partei. Und schließlich: Barak sammelt vor allem in den USA Geld für seine Wahlkampagne, während der Generalsekretär nicht weiß, wie er die Partei über die Runden bringen soll.

Die Probleme der Avoda beleuchten am ausgeprägtesten die Verschiebung des politischen Koordinatensystems aufgrund der Direktwahl des Ministerpräsidenten. In unterschiedlichen Abstufungen gilt dies jedoch auch für die anderen politischen Gruppierungen und deren Kandidaten.

Im konservativen Likud, der stärksten Regierungspartei, verlaufen die Konfliktlinien zwischen dem Partei- und Regierungschef Benjamin Netanjahu und dem von ihm dominierten Parteiapparat einerseits, sowie den vom Meister des Ränkespiels zunehmend zur Seite geschobenen „Baronen" der Partei andererseits. Zwei von ihnen, aus feinstem „Likud-Adel" stammend, nämlich der frühere Finanzminister Dan Meridor und der ehemalige Wissenschaftsminister Benny Begin, haben im Unfrieden das Kabinett verlassen und sind unmittelbar nach dem Selbstauflösungsbeschluß der Knesset aus dem Likud ausgetreten. Beide könnten Netanjahu in die Zange nehmen und ihm entscheidende Stimmen rauben: Meridor von der rechtsliberalen Mitte her, Begin vom äußersten rechten Rand. Beide reklamieren das wahre Erbe des Likud für sich, das Netanjahu ihrer Meinung nach durch sein opportunistisches, am bloßen Machterhalt orientiertes Verhalten verraten hat. Sie machen damit das Dilemma der etablierten Rechten in Israel nach fünfzig Jahren staatlicher Existenz deutlich: soll man weiterhin am Anspruch auf „Eretz Israel", dem Land bis zum Jordan (und für manche darüberhinaus), festhalten oder dem von der Linken und der Mitte seit langem akzeptierten Prinzip „Land für Frieden" folgen ?

Netanjahu hat beides versucht und es sich damit letztlich mit allen verdorben; das Ergebnis dieses nicht machbaren Spagats sind die Neuwahlen am 17. Mai. Bezeichnenderweise steht nur bei diesen drei aus dem Likud kommenden Kandidaten der Friedensprozeß im Vordergrund des Wahlkampfs. Dabei bewegt sich nur noch ein Kandidat auf einer unbeugsamen ideologischen Grundlage: Benny Begin, der Sohn des früheren Ministerpräsidenten Menachem Begin. Ihm, dem rechten hardliner, zollen sogar seine Gegner von der Linken Respekt, weil er als ehrliche Haut und als prinzipientreuer, nicht an der Macht klebender Politiker gilt – eine rare Erscheinung in der von Rankünen geprägten israelischen Parteienlandschaft. Von ihm weiß man als einzigem Kandidaten ganz sicher, wofür er steht und daß er auch dabei bleiben wird: kein Land an die palästinensischen „Terroristen", keine Kompromisse, Sicherheit über alles. Damit wird Begin laut Meinungsumfragen kaum zehn Prozent der Stimmen erhalten, und in der zweiten Runde wird sein Anhang - die harte Rechte und die Siedler – zähneknirschend für Netanjahu als das in ihren Augen kleinere Übel stimmen.

Mit Dan Meridor, dessen Vater ebenfalls ein prominenter Likud-Politiker war, betreten wir das undefinierte Gelände der politischen Mitte, auf dem sich die meisten Kandidaten tummeln. Niemand weiß genau, wo dieses Gelände beginnt und wo es endet; um so leichter fällt es, sich als Kandidat der Mitte zu präsentieren, denn dies kann alles bedeuten und verpflichtet zu nichts. Auch Meridor steht weniger für ein Programm als gleichzeitig für und gegen eine Person: der honorige, aufgeklärte Gentleman Meridor, fest in der Rechten verwurzelt und doch aufgeschlossen gegenüber den Neuerungen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, gegen den zeitlosen TV-Manipulator und Machtstrategen Netanjahu. Noch stärker wird das Feindbild Netanjahu zum bisher einzigen Programmpunkt bei dem in den Meinungsumfragen populärsten israelischen Politiker, der eigentlich noch gar keiner ist: Amnon Lipkin-Schachak, gerade erst aus der Armee ausgeschiedener Generalstabschef, hat den „Hunger nach einer neuen Führung" zum vorläufig wichtigsten Programmpunkt erhoben und bezeichnete Netanjahu in seiner ersten Pressekonferenz als „Gefahr für Israel". Im übrigen predigt er die Einheit der Nation und hat für alle Probleme eine unverbindliche Antwort parat. Dabei vertritt er – ähnlich wie Meridor – gegenüber dem Oslo-Abkommen eine Haltung des „ja, aber", wobei das „aber" offen bleibt. Zu seinem Stab gehören viele Ex-Militärs und u.a. auch Uri Savir, der Direktor des Peres Peace Center und Avi Pelossof, der Schwiegersohn von Lea Rabin.

Schachak wie Meridor und Begin haben gegenüber Barak und Netanjahu den Vorteil, daß sie sich nicht mit etablierten (oder auch erstarrten) Parteistrukturen herumschlagen müssen. Gleiches gilt für einen weiteren Haupt- oder Zweitkandidaten, den ebenfalls aus dem Likud kommenden früheren Bürgermeister von Tel Aviv, Ronni Milo. Dieser verfügt zwar bereits über eine im Herbst 1998 gegründete Partei namens Atid (Zukunft), doch besteht diese hauptsächlich auf dem Papier und hat nach Meinung kritischer Beobachter ihre Zukunft schon hinter sich. Milos Markenzeichen ist seine kompromißlose Haltung gegenüber dem wachsenden Einfluß der religiösen Kräfte, was ihn bei der säkularisierten Intelligenz populär macht. Doch hat diese Schicht nicht sehr viele Wählerstimmen zu vergeben, und sie hat auch nicht vergessen, daß Tel Aviv in der Amtszeit Milos nach einem Kommentar der linksliberalen Tageszeitung Ha`aretz in punkto Verschmutzung und Verkehrschaos auf das Niveau einer beliebigen nahöstlichen Metropole abgesunken ist.

Die Themen Zentrumspartei(en) und Kandidat(en) der Mitte beherrschen die Vorwahldiskussion in Israel, weil man damit rechnet, daß die beiden großen Parteien in jedem Fall Federn lassen werden. Die veröffentlichte Meinung erhofft sich offensichtlich von einer großen Zentrumspartei mit einem attraktiven Kandidaten eine ausgleichende und stabilisierende Wirkung auf das politische System und damit auf den Staat gegenüber den zentrifugalen Kräften der hauptsächlich religiösen und ethnischen Gruppierungen. Ob dies der Fall sein wird, ist zweifelhaft. Der Avoda-Vorsitzende Barak, der zunächst ebenfalls den Kampf um die Mitte zur wahlstrategischen Entscheidung erklärt hatte, sieht mittlerweile unter dem Einfluß des klugen Professors und Abgeordneten Shlomo Ben-Ami das wichtigste Ziel im Schmieden einer Allianz aus zumindest Teilen dieser Gruppierungen unter dem Banner einer erneuerten Sozialdemokratie nach westeuropäischem Vorbild.

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Die Themen: Frieden, Einheit, Gerechtigkeit – und viele Partikularinteressen

Auch wenn der Wahlkampf vorwiegend um die Persönlichkeit der Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt zentriert – und damit entsprechend „schmutzig" - sein wird, so liegen doch vor dem zukünftigen Regierungschef drängende Probleme, die sich in einer fünf Monate dauernden Kampagne nur schwer ausklammern lassen. Außerdem darf nicht vergessen werden, daß gleichzeitig die Knesset gewählt wird; und die kleineren Parteien werden nicht zögern, ihre eigene Agenda aufzustellen und die Kandidaten damit unter Zugzwang zu setzen.

Vor allem drei Themenbereiche stehen auf der Tagesordnung, und für alle drei bedeutet die faktische Lähmung, in die das Land während der Dauer des Wahlkampfes versinken wird, nichts Gutes:

Am bedrohlichsten, weil kurzfristig sich auswirkend, ist dies für den Friedensprozeß mit den Palästinensern. Ging dieser in der Amtszeit Netanjahus schon im Stile der Echternacher Springprozession vor sich, so droht jetzt ein völliger Stillstand mit fatalen Folgen, denn die Unzufriedenheit der Palästinenser mit der (Nicht-)Umsetzung des Wye-Abkommens führte schon vor Weihnachten zu blutigen Unruhen in der Westbank, die an die Anfänge der „Intifada" vor elf Jahren erinnerten. Eine Entscheidung steht auch über den Rückzug der Armee aus der Sicherheitszone im Süd-Libanon an, wo die Israelis den Kampf gegen die Guerillas der islamistischen Hizbollah nicht gewinnen können.

Ein Dauerbrenner ist auch das gespannte Verhältnis zwischen Säkularen und Orthodoxen, das immer mehr zu gewalttätigen Konfrontationen führt. Auch hier stehen heikle Entscheidungen an wie das Konversionsgesetz und die Befreiung der orthodoxen Theologiestudenten vom Militärdienst. Heikel sind diese Probleme vor allem deshalb, weil am Tag nach der Wahl jeder gewählte Regierungschef zumindest Teile der Religiösen als Mehrheitsbeschaffer braucht, falls man sich nicht zu einer großen Koalition entschließt. Doch selbst eine solche wird im zukünftigen Parlament wahrscheinlich keine Mehrheit haben – wegen der Zersplitterung des Parteiensystems.

Schließlich führt die im letzten Jahr fortgesetzte Verschlechterung der Wirtschaftslage mit niedrigen Wachstumsraten, hoher Arbeitslosigkeit und steigender Inflation zu wachsendem Unmut bei Gewerkschaften wie Wirtschaftsverbänden.

Wie werden die Kandidaten und Parteien auf diese drei nationalen Probleme eingehen, sofern sich dies den ersten Äußerungen und den vorliegenden Parteiprogrammen entnehmen läßt ?

Einen Vorgeschmack auf seine Wahlkampfführung lieferte Ministerpräsident Netanjahu mit einer polemischen Rede vor dem Zentralkomitee des Likud am 28. Dezember, kurz nach dem Knesset-Beschluß über die Abhaltung von Neuwahlen. Sein Credo: Die Palästinenser wollen nicht nur einen eigenen Staat auf dem Gebiet der Westbank und des Gaza-Streifens, der die Sicherheit Israels bedrohen würde – sie werden sogar die Grenzen von 1947 in Frage stellen und nicht nur Ansprüche auf Jerusalem, sondern auch auf Städte innerhalb Israels wie Haifa erheben, wenn man ihnen nicht entschieden entgegentritt. Der Palästinenser-Präsident Arafat wünscht und fördert den Sieg der Linken in Israel, weil er damit diesem Ziel nahekommen würde. Gemeint ist jeder, der links von Netanjahu steht, einschließlich des geborenen Likudnik Meridor. Sie alle sind die Kandidaten Arafats, so lautet die Botschaft, und wer den Untergang Israels verhindern will, dem bleibt keine andere Alternative als Netanjahu. Kein Wort darüber, daß er noch wenige Wochen zuvor Arafat die Hand geschüttelt und ein Abkommen mit ihm unterzeichnet hatte, nicht die leiseste Erwähnung, daß er sich in den Verträgen von Hebron und Wye als erster Regierungschef der Rechten zur Aufgabe von „heiligem Land" verpflichtete – in den Augen Begins ein Verrat an den Prinzipien des Likud, der seine Gegenkandidatur bewirkte. Netanjahu bat nebenbei auch noch um eine neue Amtszeit, um das begonnene Wirtschaftssanierungsprogramm zu Ende führen und einen neuen Aufschwung bewirken zu können.

Für die Mehrzahl der israelischen Medien ist damit klar, daß sich von jetzt an wieder der alte agressive, die Gesellschaft polarisierende Netanjahu mit viel Geschick und rhetorischer Gewandtheit in Szene setzen wird. Die Zeiten des Kreide fressenden Wolfes, des Pragmatikers, der um des Machterhalts willen schon mal Prinzipien opfert, sind – vorübergehend – vorbei. Für den Friedensprozeß, die Einheit der Nation und den Ausgleich der sozialen Interessen ist da nicht mehr viel Platz. Und wer die bei den meisten Israelis über ideologische und soziale Grenzen hinweg tiefsitzenden Ängste und das verständliche Bedürfnis nach Sicherheit kennt, weiß, daß mit solchen Argumenten durchaus Wahlen gewonnen werden können, vor allem dann, wenn – wie vor dem letzten Wahlgang – Terroranschläge das Klima weiter anheizen.

„Der Feind steht links" – dieses Totschlagargument zeigt erste Wirkungen. So lehnte es der von vielen umworbene Ex-Generalstabschef Lipkin-Schachak ab, als Nummer zwei in der Avoda hinter Barak anzutreten, weil ihm die Partei zu links ist. Und das Kandidaten-Gedränge in der Mitte erklärt sich auch mit der Furcht, als Linker abgestempelt zu werden. Diese Furcht hat durchaus reale Gründe, die von Netanjahu geschickt ausgenützt werden. Links bedeutete im israelischen Kontext jahrzehntelang die Herrschaft unantastbarer Machtapparate, die – von einer kleinen Elite gesteuert – den Neuankömmlingen vor allem aus den nordafrikanischen Ländern den Weg nach oben versperrten. Diese orientalischen Juden machten erstmals 1977 – und zwar am 17. Mai! - ihrem Unmut durch ein massives Votum für die Rechte Luft, bewirkten damit den Sturz der Linken und erweisen sich seitdem als zuverlässige Stütze des Likud. Man muß soweit in die Geschichte zurückgehen, um zu verstehen, worum 1999 gerungen wird. Zwei Ereignisse des Jahres 1998 machen dies deutlich: Als der Avoda-Vorsitzende Barak in einer vorwiegend von orientalischen Juden bewohnten „Entwicklungsstadt" im Süden sich für das Verhalten der herrschenden Linken in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung entschuldigte, stieß dies auf Zustimmung, aber auch Kritik unter anderem von seinem Vorgänger Peres, der keinen Grund zur Entschuldigung sah, hätten doch alle Einwanderer – auch die aus europäischen Ländern – gleichermaßen unter den schlechten Startbedingungen des jungen Staates gelitten. Und als wenig später der prominente Avoda-Abgeordnete Orr in einem Zeitungsinterview seine orientalischen Landsleute mehr oder weniger selbst für ihr Schicksal verantwortlich machte, wurde er umgehend von allen Parteiämtern suspendiert.

Beides zeigt, wie weit die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, denn Barak kann keine Mehrheit erhalten, wenn es ihm nicht gelingt, neue Wählerschichten über die kleiner werdende traditionelle linke Klientel hinaus zu gewinnen. Sein Versuch, in die Domäne des Likud einzubrechen, könnte durch ein Bündnis mit „Gesher" indirekt gelingen, denn diese Partei (bisher fünf Abgeordnete) wird überwiegend von orientalischen Juden gewählt. Ansonsten aber wird er von den meisten seiner Parteifreunde als vergeblich angesehen; zu tief sitzen die Ressentiments der Betroffenen, und genau darauf setzt Netanjahu mit seiner Polemik gegen alles Linke. Dem hält der neue programmatische Kopf der Avoda, der Orientale Shlomo Ben-Ami, sein Konzept von einem Sozialpakt über ethnische und religiöse Abgrenzungen hinweg entgegen, der wirtschafts- und sozialpolitische Fragen in den Vordergrund rückt. Nur indem die Linke, so sein Argument, sich der Nöte der unteren sozialen Schichten angesichts der schlechten Wirtschaftslage annimmt, könne deren Mißtrauen gegen das herkömmliche Linksestablishment abgebaut und gleichzeitig ihre Abneigung oder auch Gleichgültigkeit gegenüber dem Friedensprozeß überwunden werden – auch, indem man den Zusammenhang zwischen Frieden und wirtschaftlicher Entwicklung deutlich macht. Mit diesem Konzept wären vielleicht auch die Einwanderer aus der früheren Sowjetunion zu gewinnen, die etwa 15 Prozent der Wählerschaft ausmachen und die aus ihrer Abneigung gegen alles Sozialistische und ihrem Mißtrauen gegenüber „den Arabern" keinen Hehl machen. Auch die arabische Minderheit (ca. 20 Prozent) könnte sich von einem solchen Konzept einer modernen israelischen Sozialdemokratie angesprochen fühlen, stünden damit doch die gleichen Nöte und Bedürfnisse wie die der anderen Gruppen in der israelischen Gesellschaft im Vordergrund und nicht ihre Ausnahmestellung als unsichere Kantonisten im Rahmen des allumfassenden Sicherheitsdenkens.

Der Erfolg dieses Programms, mit dem Barak in den Wahlkampf ziehen will – sofern er sich nicht von Netanjahu die ewige Sicherheitsdebatte aufdrängen läßt - , hängt in erster Linie vom Abschneiden der „single issue"-Parteien ab. Diese haben den Vorteil, mit einem simplen Konzept antreten zu können: die lupenreine Vertretung egoistischer Interessen. Dies gilt für Shas, eine Mischung aus Religion und ethnischer (nordafrikanischer) Herkunft, die in erster Linie am Ausbau ihres autonomen Bildungs- und Sozialsystems interessiert ist. Ihr werden Gewinne über die zehn Sitze hinaus vorhergesagt, die sie gegenwärtig in der (120 Sitze umfassenden) Knesset innehat. Auch die Partei der russischsprachigen Einwanderer, Yisrael Ba`aliya, (bisher sieben Abgeordnete) wird voraussichtlich zulegen, auch wenn sie zerstritten ist und ihr Konkurrenz von einer Likud-nahen Liste droht; sie kämpft vor allem für Wohnungen und Arbeitsplätze für ihre Klientel. Die Vereinte Thora Liste (Vier Sitze) vertritt die Interessen der ultra-orthodoxen aschkenasischen (europäischen) Juden und könnte wegen deren wachsenden Zahl und hohen Mobilisierung ebenfalls zugewinnen. Sie tritt für die strikte Einhaltung der religiösen Vorschriften im öffentlichen Leben und die Ausbreitung der Thora-Schulen, einschließlich deren Unterstützung durch den Staat, ein. Eine feste Bank für partikulare Interessen ist auch die arabische Minderheit, für die mehrere Parteien antreten (zusammen neun Parlamentarier); für sie steht der Kampf um Gleichberechtigung und den Frieden mit ihren palästinensischen Brüdern im Vordergrund. Zwei „single issue"-Parteien dürften hingegen verlieren: Die national-religiöse Mafdal ist gespalten und in letzter Zeit immer mehr zur bloßen Interessenvertretung der Siedler in der Westbank geschrumpft (drei Prozent der Bevölkerung); der „Dritte Weg" verficht als einzigen Programmpunkt die Nichtrückgabe der Golan-Höhen an Syrien und steht vor der Auflösung. Die bei den Kommunalwahlen so erfolgreichen Grünen und Dor Shalom werden wohl Listenverbindungen mit anderen Parteien eingehen.

Dieses im letzten Jahrzehnt sich anscheinend unaufhaltsam ausbreitende Geflecht von Partikularinteressen macht das Dilemma der großen Parteien angesichts der Direktwahl des Ministerpräsidenten deutlich: Versucht man, mit einer agressiven Politik in die Domäne der kleinen Parteien einzudringen, drohen diese mit Stimmenentzug bzw. der Unterstützung des Gegenkandidaten. Auf diese Weise ist am Jahresende 1998 zum wiederholten Mal ein Gesetzentwurf zur Einführung einer Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament gescheitert (bisher 1,5 Prozent). Vor allem die Avoda sprach sich auf Druck der arabischen Parteien dagegen aus, weil Barak befürchtete, damit sicher geglaubte Stimmen aus dem arabischen Lager zu verlieren. Leichter hat es da die einzige verbliebene „nationale" Partei ohne eigenen Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt, die linksliberale Meretz (neun Sitze). Doch ihr deutliches Profil als säkulare, liberal-aufklärerische Partei und Ansammlung von Individualisten, beschränkt ihr Wählerpotential auf einen relativ kleinen, dafür aber zuverlässigen Stamm.

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Die Bilanz Netanjahus: gespaltene Nation, außenpolitische Isolierung

Etwa fünf bis sechs Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten und ein gutes Dutzend Parteien werden sich um das Erbe Netanjahus streiten, der aufgrund dieser Zersplitterung durchaus Aussichten auf eine Wiederwahl hat. Dies bezeichnet geradezu symbolhaft den Zustand von Staat und Gesellschaft nach zweieinhalb Jahren seiner Amtszeit. Daß er am Ende des Jubiläumsjahres 1998 seine Mehrheit in der Knesset verlor, lag vordergründig daran, daß ihm die extreme Rechte in seinen eigenen Reihen das Vertrauen entzog, weil ihr seine Kompromißbereitschaft gegenüber den Palästinensern zu weit ging. Faktisch hatte es sich der Regierungschef jedoch mit nahezu allen verdorben: In seinem Kabinett hatte er im November bei der Abstimmung über das Wye-Abkommen keine Mehrheit, und im Parlament retteten ihn Oppositionsstimmen vor einer Niederlage. Dieselbe Opposition verweigerte ihm jedoch in der Folge ein „Sicherheitsnetz", weil sie seinen Versprechungen nicht mehr traute. Daß dies berechtigt war, bewies Netanjahu schon kurz darauf, als er die Einhaltung des Wye-Abkommens stornierte und zusätzliche Bedingungen an die Palästinenser stellte, um doch noch seinen rechten Flügel zufriedenzustellen. Dazu war es jedoch zu spät, und die Situation am Vorabend des Neuwahlbeschlusses der Knesset war die Kulmination einer Vielzahl ähnlicher Szenen in den vorangegangenen Jahren, eine schlechte Komödie, die drastisch und vor aller Augen den Verfall der politischen Kultur in Israel demonstrierte: ein durch die Wandelgänge des Parlaments hetzender Ministerpräsident auf der Suche nach jedem greifbaren Abgeordneten, hier Ministerposten anbietend, dort Haushaltsgeschenke verteilend - der Überlebenskünstler am Ende seines Lateins. Schon sechs Monate zuvor hatte die linksliberale Tageszeitung Ha`aretz geurteilt: „Der wirklich riesige Schaden, den Bibi (Spitzname Netanjahus) im Land angerichtet hat, ist nicht das unwürdige Gezerre um den weiteren Truppenrückzug (aus der Westbank), sondern das Absenken der politischen Kultur auf Gossenniveau. Er hat es geschafft, jeden konstituierenden Pfeiler des demokratischen Systems zu delegitimieren und zu diskreditieren, von der Justiz und dem Parlament bis zum Militär und den Medien."

In der Tat haben in der Amtszeit Netanjahus zentrale Institutionen des Staates, die das Rückgrat der zionistischen Staatsideologie bilden, Schaden gelitten: Die Armeeführung wurde erstmals in der israelischen Geschichte bei wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen nicht oder nur am Rande einbezogen; die Sicherheitsdienste, wie der Auslandsdienst Mossad und der Inlandsdienst Shin Bet, erlitten durch unsinnige und außenpolitisch schädliche Aktionen einen Glaubwürdigkeitsverlust; mit manipulativen Eingriffen und fragwürdigen Personalentscheidungen wurde die Unabhängigkeit der Justiz unterhöhlt, mit drastischen Umbesetzungen im staatlichen Rundfunk und Fernsehen versucht, ein regierungshöriges Sprachrohr zu schaffen. Über allem aber steht ein selbst für israelische Verhältnisse unwürdiges Geschacher um Posten und Haushaltsmittel, ein System von Gratifikation und Entzug, in dem Loyalität und Überzeugung keine Rolle mehr spielen sondern nur noch der handgreifliche Vorteil. Mit diesem System hat sich Netanjahu von Krise zu Krise gerettet und damit lange Zeit nicht nur Erfolg gehabt, sondern als Überlebensstratege sogar heimliche Bewunderer in der kritischen Presse gefunden.

Damit ist es – vorläufig – vorbei, doch der angerichtete Schaden ist beträchtlich: Das Vertrauen der Bevölkerung in das politische und parlamentarische System des Landes ist gestört, und dies gilt vor allem für die Jugend, eine schwere Hypothek für die Zukunft. Nach einer umfassenden und in der Öffentlichkeit breit diskutierten Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juni 1998 genießen Parteien, Parlament und Medien kaum noch Ansehen bei den Jugendlichen bis 25 Jahren. Vertrauen wird nur noch den altzionistischen Staatspfeilern Armee, Polizei und Justiz entgegengebracht, die aber gerade als Symbole der linken, aschkenasischen Herrschaft dem ständigen Druck des Netanjahu-Systems und seiner orientalischen Basis ausgesetzt sind. Hinzu kommt der anscheinend unaufhaltsam wachsende Einfluß der religiösen Parteien, die mit ihrem Eiferertum immer mehr in das tägliche Leben der Bürger einzugreifen versuchen und deren Steuerlast durch stets zunehmende Subventionen für ihre Klientel erhöhen. Netanjahu ist beileibe nicht der erste Regierungschef, der diese und weitere Partikularinteressen bedient hat, aber die Art und Weise, wie dies in den letzen zweieinhalb Jahren geschehen ist, hat die schleichende Segmentierung der israelischen Gesellschaft in eine Vielzahl religiöser, ethnischer und sozialer Interessengruppen beschleunigt.

Letztere drohen sich jetzt auch in Gestalt einer „Arbeiterpartei" in das politische Spiel einzumischen. Initiator ist der Vorsitzende des kränkelnden Gewerkschaftsverbandes Histadrut, Amir Peretz, der seit Jahren für die Avoda in der Knesset sitzt. Ebenso wie andere mehr oder weniger prominente Abgeordnete der Partei, die schon Richtung Zentrum abgesprungen sind oder damit liebäugeln, scheint auch er von dem allgemeinen Verfall der politischen Moral angesteckt worden zu sein und droht öffentlich mit einer neuen Parteigründung als Interessenvertretung „der Arbeiter", ohne etwa sein Abgeordnetenmandat aufzugeben. Peretz, der im Juni 1998 mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt wurde, kämpft mit spektakulären Aktionen – darunter zwei „Generalstreiks" 1998 – darum, der Histadrut neue Schlagkraft zu verleihen, die sie nach der Kahlschlagsanierung seines Vorgängers Ramon weitgehend verloren hatte. Ob dies gelingen wird, ist zweifelhaft: Mit nur noch einem Drittel der ursprünglichen Mitgliedschaft (650 000) und der Mitarbeiter (1200) sowie einer fast hoffnungslos hohen Verschuldung ist der Weg zu einer modernen Gewerkschaft noch weit. Eine solche hätte aber angesichts der sich entfaltenden Industriegesellschaft mit hohen Zuwachsraten im High-tech-Bereich einerseits, dem drohenden Zerfall der demokratischen Kultur andererseits eine wichtige Funktion. Und schließlich bietet die wirtschafts- und sozialpolitische Bilanz der Regierung Netanjahu durchaus Anlaß für eine stringentere Durchsetzung der Interessen sozial benachteiligter Schichten. In den Worten des liberalen Jerusalem Report ist diese Regierung nicht nur „die ordnungspolitisch am weitesten rechts stehende in der israelischen Geschichte", sondern nach dem Abgang von Thatcher und Reagan „auch in der heutigen westlichen Welt". Ins Positive gewendet liest sich das in der konservativen Jerusalem Post: „Netanjahu ist der bei weitem am besten ökonomisch gebildete und marktwirtschaftlich orientierte Ministerpräsident Israels".

Das Ergebnis dieses Kurses erfreut bisher nur den Internationalen Währungsfonds, vor allem in Gestalt seines für Israel zuständigen Vizepräsidenten Stanley Fisher: Ein stramm durchgeführtes Privatisierungsprogramm mit dem Verkauf von Staatsunternehmen im Wert von über zwei Milliarden DM allein 1998, die Liberalisierung von Märkten und Devisen, der Kampf gegen die Staatsverschuldung und eine Erhöhung der Devisenreserven, eine vorübergehend sehr niedrige, im Jahresdurchschnitt 1998 mit ca. acht Prozent für israelische Verhältnisse passable Inflationsrate. Auf der Negativseite steht ein Wirtschaftswachstum von lediglich 1,9 Prozent, nach schon mageren 2,4 Prozent in 1997; im Jahr zuvor waren es noch 4,7 Prozent. Das bedeutet bei einem Bevölkerungswachstum von 2,3 Prozent einen Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens um 0,4 Prozent, allerdings liegt dieses mit ca. 17.000 Dollar im Jahr über dem mehrerer EU-Mitgliedsstaaten wie etwa Spanien. Die Arbeitslosigkeit erhöhte sich im vergangenen Jahr auf 8,7 Prozent, nach 7,7 im Jahre 1997 und 6,7 Prozent im Jahr zuvor. Nimmt man die wachsende Kluft zwischen arm und reich hinzu, so weisen die Sozialdaten seit dem Amtsantritt von Netanjahu Mitte 1996 stetig abwärts.

Diese Talfahrt hat einerseits mit dem stagnierenden Friedensprozeß zu tun, was zu einem beträchtlichen Rückgang von Auslandsinvestitionen (um fast die Hälfte) und Tourismus (um zehn Prozent) sowie zu verringerten Exportmöglichkeiten, vor allem in die Nahost-Region, führte. Andererseits beruht sie auf dem im Grunde notwendigen Gesundungskonzept für die nach wie vor überregulierte und bürokratisierte israelische Wirtschaft, für das vor allem zwei Namen stehen: Yaakov Ne`eman, Finanzminister bis Mitte Dezember 1998, und Yaakov Frenkel, Präsident der Zentralbank. Mit diesen beiden Namen ist untrennbar die einzige klar erkennbare Linie in der Politik Netanjahus verbunden, und diese Verbindung wurde mit Beginn des Wahlkampfes gekappt. Der unabhängige Rechtsanwalt Ne´eman reichte seinen Rücktritt ein, weil er voraussah, daß von nun an die „election economics" anstelle seines Sparkurses treten würden. Daß der von ihm vorgelegte Haushalt für das Jahr 1999 keine Mehrheit fand und das Land ohne gesetzlich abgesichertes Budget in das neue Haushaltsjahr ging, ist eine klare Bestätigung dafür. So bleibt der Zentralbank-Präsident Frenkel die letzte Bastion des monetären Denkens, der bisher gegen alle Widerstände mit hohen Zinsen den Kampf gegen die Inflation führt. Doch scheinen seine Tage gezählt zu sein. Nicht ganz zufällig schlug in der Vorwahlatmosphäre eine parteiübergreifende Kommission vor, ihm in Zukunft einen Gouverneursrat zur Seite zu stellen, dessen Mitglieder vom Parlament bestimmt werden sollen. Von seinem Regierungschef hat Frenkel wohl keine Unterstützung mehr zu erwarten; dieser hatte zuvor schon die von ihm lange Zeit gestützte Hochzinspolitik der Zentralbank angegriffen – schließlich sind Wahlen zu gewinnen, da darf auch das letzte Quentchen Überzeugung geopfert werden.

Der inneren Spaltung der Nation in religiöse, ethnische und soziale Subinteressen entspricht eine tiefgreifende außenpolitische Isolierung. Beides zusammen ergibt eine bedrohliche Situation für die Zukunft Israels und des gesamten Nahen Ostens. Denn nur ein einiges und gefestigtes Land wäre aus einer Position der Stärke heraus in der Lage, die für eine umfassende Friedensregelung notwendigen Kompromisse einzugehen. Und die zunehmende Isolierung verstärkt den in Israel immer schon vorhandenen Trend, sich gegen den Rest der Welt abzukapseln und sich nur noch auf die eigene Stärke zu verlassen. „Ein Platz unter den Nationen" – so der Titel eines früheren Netanjahu-Buches – wäre damit in weite Ferne gerückt, die seit dem Oslo-Abkommen hoffnungsvollen Ansätze eines voll in die internationale Staatengemeinschaft integrierten Landes zerstört. In dieser Hinsicht ist die Bilanz der Amtszeit Netanjahus besonders bedrückend:

  • Mit seiner destruktiven Haltung im Friedensprozeß hat er es geschafft, den Israel-freundlichsten amerikanischen Präsidenten in der Geschichte und das vorwiegend von Israelfreunden dominierte außenpolitische Establishment in den USA zu verprellen. Washington sieht mittlerweile im Palästinenserführer Arafat den zuverlässigeren Partner im Friedensprozeß. Für Israel ist diese Entwicklung besonders bedrohlich, weil Amerika der einzig verläßliche Verbündete etwa im UN-Sicherheitsrat ist und für jährlich drei Milliarden Dollar Militär- und Wirtschaftshilfe leistet.

  • Eine tiefe Kluft tut sich auch zum amerikanischen Judentum auf, vor allem wegen des wachsenden Einflusses der Ultra-Orthodoxen auf die Gesetzgebung. Größter Stein des Anstoßes ist das zur Verabschiedung vorliegende Konversionsgesetz, mit dem es nur noch orthodoxen Rabbinern erlaubt sein soll, Übertritte zum Judentum vorzunehmen; die große Mehrzahl der sechs Millionen amerikanischen Juden gehört aber den konservativen und Reformströmungen des Judentums an. Für Israel sind die einflußreiche jüdische Lobby in den USA und ihre finanzielle Unterstützung unverzichtbar.

  • Auch mit den Europäern hat es sich Netanjahu weitgehend verdorben, weil er diese lediglich als Zahlmeister für die palästinensische Verwaltung akzeptiert, ihnen aber keine Mitsprache bei den Friedensverhandlungen einräumen will.

  • Besonders verheerend sind die Auswirkungen seiner Politik auf Israels Lage im Nahen Osten. Ägypten und Jordanien, die als einzige arabische Länder einen Friedensvertrag mit dem jüdischen Staat abgeschlossen haben, sehen sich ins Abseits gestellt und mit massivem innenpolitischem Widerstand gegen ihre Friedenspolitik konfrontiert. Andere arabische Staaten mit halb-diplomatischen Beziehungen haben diese überwiegend eingefroren.

  • Einziger Lichtblick in diesem düsteren Szenario ist die faktische Allianz mit der Türkei, die auf dem simplen Credo beruht: „die Feinde meines Feindes sind meine Freunde". Gemeint ist damit in erster Linie Syrien, zum Teil auch der Iran.

Eine solche Bilanz ist selbst für Anhänger der politischen Linie Netanjahus zu mager. Der konservative Sicherheitsexperte Gerald Steinberg von der religiösen Bar-Ilan-Universität brachte seine Enttäuschung auf den Punkt: „Man kann erwarten, daß Netanjahu in seiner Wiederwahl-Kampagne die Sprüche wiederholen wird, die 1996 erfolgreich waren, einschließlich der Attacken auf das linke Establishment und auf die Fehlschläge des Oslo-Prozesses. Diesmal jedoch werden solche Sprüche nicht ausreichen. Netanjahu hatte fast drei Jahre Zeit, um Alternativen zu entwickeln, und viele Israelis, die ihn beim letzten Mal unterstützten, werden daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß er versagt hat."

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Der Friedensprozeß: Schicksalsmonat Mai

Netanjahu war 1996 angetreten, um das in seinen Augen schädliche, aber nun einmal vorhandene und international gültige Interims-Abkommen von 1994 zu „korrigieren". Dieses läuft am 4. Mai 1999 aus, und alles, was Netanjahu erreicht hat, ist ironischerweise die Tatsache, daß an diesem Tag möglicherweise ein unabhängiger Palästinenserstaat ausgerufen wird. Der aber ist für ihn und die israelische Rechte eine Art Ausgeburt der Hölle, weil damit in ihren Augen die Existenz Israels gefährdet wäre. Da die Regierung Netanjahu an diesem Tag noch im Amt sein wird, könnte unmittelbar vor den Wahlen eine gefährliche Zuspitzung der Lage eintreten. Aus Kreisen der amtierenden Regierung wird hinter vorgehaltener Hand für einen solchen Fall mit der Annexion weiter Teile der Westbank gedroht. Dies könnte zu einem gewaltsamen Konflikt mit den Palästinensern, einer internationalen Krise und wiederum zum Sieg der Friedensgegner bei den Wahlen führen. Was dies für Israel und die Region bedeuten würde, läßt sich leicht ausmalen: eine Phase der Instabilität, eine Atmospäre des Mißtrauens und vielleicht sogar offener Krieg wäre die Folge.

Noch ist es nicht so weit, doch die Lähmung der israelischen Politik durch den fast fünfmonatigen Wahlkampf und die von Netanjahu verfügte Aussetzung des Wye-Abkommens verheißen nichts Gutes. Dabei schien gerade dieses Abkommen – am 23. Oktober 1998 im Wye-Tagungszentrum nahe Washington von Netanjahu und Arafat im Beisein von US-Präsident Clinton unterzeichnet – neuen Schwung in den seit fast zwei Jahren stagnierenden Friedensprozeß zu bringen. Denn mit seiner Unterschrift besiegelte Netanjahu in den Augen rechter wie linker Kommentatoren damit die endgültige Abkehr vom alten Likud-Dogma, wonach kein Quadratmeter des historischen „Eretz Israel" (Land Israel) aufgegeben werden dürfe. Kernpunkt des Abkommens ist der weitere Rückzug der Israelis aus 13 Prozent der Westbank, womit etwa 40 Prozent unter palästinensische Kontrolle fallen würden, davon 18 Prozent mit völliger Zuständigkeit für zivile und Sicherheitsangelegenheiten (A-Zone), der Rest nur unter ziviler Kontrolle (B-Zone). In diesen Gebieten leben fast 90 Prozent der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank. Israel behielte nach dem Wye-Abkommen vorläufig – bis zu einer endgültigen Friedensregelung – 60 Prozent des Territoriums unter seiner Verwaltung (C-Zone).

Das Verhalten Netanjahus im Wye-Abkommen macht die ganze Widersprüchlichkeit seiner Politik und das Dilemma der israelischen Rechten deutlich: Einerseits scheint man sich mit der Tatsache abgefunden zu haben, daß der Anspruch auf das ungeteilte „Eretz Israel" nicht aufrechtzuerhalten ist und die in Oslo festgeschriebene Formel „Land für Frieden" die einzige Lösung des Nahost-Konflikts darstellt. Insofern könnte Netanjahu doch noch in die Geschichte eingehen als derjenige israelische Staatsmann, der die Rechte mit dem Friedensprozeß versöhnt hat. Richtig an dieser von manchen wohlmeinenden Kommentatoren vertretenen These ist, daß jede linke Regierung mit ihrer Unterschrift unter ein solches Abkommen mit Massendemonstrationen und gewalttätigen Attacken bedroht worden wäre, während Netanjahu lediglich ein paar rechte Stimmen im Parlament verlor. Andererseits aber wird mit der Aussetzung von Wye, kaum daß die Tinte auf dem Dokument getrocknet war, die alte Linie fortgesetzt, wonach das Oslo-Abkommen und jede Rückgabe von Land eine existentielle Gefährdung für Israel darstellen.

Die aus dieser Widersprüchlichkeit resultierende Spaltung der israelischen Rechten in eine um Begin gruppierte Minderheit unversöhnlicher Friedensgegner auf der einen und eine zögerliche, letztlich aber doch kompromißbereite Mehrheit auf der anderen Seite könnte langfristig das ungewollte historische Verdienst Netanjahus sein – falls die Neuwahlen einen Sieg der Friedenskräfte bewirken oder zu einer großen Koalition führen sollten. Ein solches Ergebnis wäre – nicht zum ersten Mal in der Geschichte – eine ironische Wendung menschlichen Waltens, da es Netanjahu in seiner kurzen Amtszeit immer nur um den Machterhalt und die Bewältigung fast täglicher Krisensituationen ging, eine Zukunftsvision und langfristige Strategie hingegen kaum erkennbar waren.

Diese haben – was den Friedensprozeß betrifft – andere schon längst vorgelegt, zum Beispiel der Architekt des Oslo-Abkommens und frühere Avoda-Minister Yossi Beilin gemeinsam mit dem Arafat-Stellvertreter Abu Mazen. In ihrem schon vor zwei Jahren ausgearbeiteten „blueprint" einer definitiven Regelung des Konflikts zwischen ihren Völkern weisen sie den Weg in eine friedliche Zukunft, an dem – bis auf die harten Friedensgegner auf beiden Seiten – niemand vorbeikommen wird. Wäre der längst außer Kraft gesetzte Fahrplan des Oslo-Abkommens eingehalten worden, was Netanjahus Wahlsieg verhinderte, so hätten die Endstatus-Verhandlungen auf der Grundlage solcher Vorschläge längst abgeschlossen, das Damoklesschwert des 4. Mai mithin entschärft sein können. Daran arbeitet der kreative Denker Beilin schon wieder unermüdlich. In zahllosen Begegnungen mit den Palästinensern, Ägyptens Präsident Mubarak, der Clinton-Administration und den Europäern versucht er, seine Gesprächspartner davon zu überzeugen, daß nur eine Verlängerung des Oslo-Fahrplans bis ins Jahr 2001 eine mögliche Katastrophe verhindern kann. Die Zustimmung der Palästinenser dazu und zum Verzicht auf die Unabhängigkeitserklärung am 4. Mai erhofft er sich durch eine klare Zusage von Seiten Israels, daß am Ende dieser Phase die Anerkennung eines palästinensischen Staates stehen würde. Diese Zusage – so das Kalkül Beilins – läßt sich aber nur durch massiven Druck vor allem der Amerikaner, in geringerem Maße auch der Europäer erreichen, wobei den Deutschen wegen der EU-Ratspräsidentschaft in dieser Zeit eine Schlüsselrolle zufällt. Die Aussichten, dieses Konzept in die Tat umsetzen zu können, sind mit dem beginnenden Wahlkampf natürlich erheblich gesunken, da Netanjahu ja gerade mit einem harten Konfrontationskurs auf den Sieg setzt, mithin noch weniger als sonst geneigt sein wird, irgendwelchen Pressionen nachzugeben.

Auf der anderen Seite ist nach Meinungsumfragen für die große Mehrheit der Israelis klar, daß es irgendwann einen palästinensischen Staat geben wird – und das wissen auch die führenden Politiker aller Parteien. Arafat gebietet schon heute über fast den gesamten Gaza-Streifen und ein Drittel der Westbank mit zusammen über zwei Millionen Einwohnern. Sein Territorium verfügt über verschiedene Attribute eines souveränen Staates: Flagge, Nationalhymne, Ministerien, paramilitärische Polizei, Sicherheitsdienste, Briefmarken (die allerdings außerhalb noch keine Gültigkeit haben) und eine Fluglinie, die seit dem 24. November von einem eigenen internationalen Flughafen abheben darf, eingeschränkt zwar durch israelische Sicherheitskontrollen, aber aufgewertet durch den mit einem Helikopter eingeflogenen amerikanischen Präsidenten. Überhaupt hat der „Staatsbesuch" Clintons im Dezember 1998 aller Welt deutlich gemacht, daß die „Palästinensische Behörde" – so die offizielle israelische Bezeichnung – nur noch einen Schritt von der Eigenstaatlichkeit entfernt ist. Und dazu hat paradoxerweise gerade Netanjahu mit seiner starren Ablehnungspolitik beigetragen, die überall in der Welt, vor allem bei den Amerikanern, den früher von den USA mit einem Einreiseverbot belegten „Terroristen" Arafat geradezu als gemäßigten Staatsmann erscheinen läßt. Und Netanjahu war es auch, der während der Wye-Verhandlungen die Idee zum Besuch Clintons in Gaza hatte, um dort die palästinensische Führung endgültig und vor aller Öffentlichkeit ihrem in der PLO-Charta postulierten Ziel der Zerstörung Israels abschwören zu lassen. Die Palästinenser nahmen diese Vorlage dankbar auf und verwandelten sie in einen klaren Punktsieg. Mit großem orientalischen Pomp wurde die Charta geändert, doch geriet dies nur zur Beigabe für die Feierlichkeiten aus Anlaß des ersten Besuches eines amerikanischen Präsidenten auf palästinensischem Boden. Daß wenige Tage später die gleichen amerikanischen Flaggen, die zu Clintons Begrüßung wehten, von wütenden Palästinensern wegen des Irak-Bombardements verbrannt wurden, wollte so recht keiner zur Kenntnis nehmen – zu schön waren die Bilder der Clinton-Familie einschließlich Tochter und Hund auf palästinensischer Erde, die ungläubigen Imperialisten endlich versöhnt mit dem letzten Heldenkampf der arabischen Nation.

Doch die jüngste Irak-Krise hat schlagartig deutlich gemacht, auf welch dünnem Eis die Amerikaner sich im Nahen Osten nach wie vor bewegen – und mit ihnen die Israelis. Nur kurz nach dem kühlen Empfang Clintons durch die israelische Regierung vor seinem Gaza-Besuch waren sie wieder Waffenbrüder: amerikanische Patriot-Raketenstellungen wurden um israelische Großstädte herum aufgestellt, um mögliche Angriffe der Iraker mit auf Scud-Raketen montierten biologischen Sprengköpfen abzuwehren. Ähnlich war die Situation schon im Februar, als die israelische Bevölkerung sich mit Gasmasken eindeckte und ihre Bunker für einen möglichen Angriff des irakischen Diktators vorbereitete. Der Dauerkonflikt um den Irak zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die Sicherheit Israels nicht nur vom Frieden mit den Palästinensern abhängt, auch wenn dies die Grundlage ist, sondern auch von einer stabilen Nahost-Region insgesamt. Dazu könnte Israel einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn es auch hier den Ideen des Vordenkers Beilin folgen und zu einem Arrangement mit Syrien und Libanon kommen würde. In der israelischen Sicherheitszone im Süd-Libanon sind im vergangenen Jahr wieder 22 israelische Soldaten gefallen, und die Stimmen werden lauter, die einen einseitigen Truppenrückzug fordern. Selbst der nationalistische Außenminister Sharon hat kürzlich den Plan für einen stufenweisen Abzug vorgelegt, und es ist nicht auszuschließen, daß er gemeinsam mit seinem Regierungschef Netanjahu noch während des Wahlkampfes versucht, mit Syrien ins Gespräch zu kommen, um die Libanon-Frage zu lösen. Dies wäre natürlich ein gewaltiger Wahlkampf-Coup – doch wenn es dem Frieden dient, wer wollte sich darüber beschweren ?

Wahrscheinlicher ist aber, daß das innenpolitische Getöse der nächsten Monate alle Initiativen in Richtung Frieden ersticken wird und die gefährliche Stagnation der vergangenen beiden Jahre anhält. Der Vorrat an Vertrauen und gutem Willen ist auf der arabischen Seite weitgehend aufgebraucht, und es bedarf dringend israelischer Vorgaben, um diese Abwärtsspirale aufzuhalten. Ob dies nach dem 17. Mai allerdings der Fall sein wird, steht in den Sternen.


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