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TEILDOKUMENT:

Teil A:
Strukturmerkmale der Ministerien und ihrer Tätigkeiten –Konsequenzen für die Modernisierungsaufgabe




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Teil A:
Strukturmerkmale der Ministerien und ihrer Tätigkeiten –
Konsequenzen für die Modernisierungsaufgabe

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I. Steigerung der Qualität der Ministeriumsleistungen – Eine schwierige Aufgabe




1. Modernisierung der Ministerien – ein Modethema?

Staatliche Bürokratien werden in vielen ihrer Merkmale und Aufgaben als ziemlich einförmige, unkreative Organisationen dargestellt oder erlebt:

  • Handeln nach strengen Regeln und Formvorschriften,
  • Unselbständigkeit und wenig autonome Entscheidungsspielräume,
  • Weisungsgebundenheit und Schwerfälligkeit,
  • umständlich und aufwendig,

das sind die Schlagworte, die man in der Diskussion immer wieder hört. Dieses Bild überbetont einige Aspekte und gibt gerade die Realität der Ministerien nicht befriedigend wieder. Dennoch treffen die Schlagworte natürlich Schwächen, deren Ursachen z. T. auf der Hand liegen. In jedem Fall gilt jedoch: Bundesministerien sind anders als die übrigen Verwaltungen. Sie arbeiten nur begrenzt an wiederkehrenden Routinearbeiten. Ministerien bereiten Politik vor, sind Zuarbeiter für Minister und Parlament. Sie liefern ständig Grundlageninformationen für die politischen Diskussionen und nehmen teil an Fachdiskussionen der Verbände, der Wissenschaft oder der Medien. Sie analysieren und formulieren mehr, als daß sie administrieren und umsetzen. Sie beraten mehr, als daß sie Gesetze anwenden. Sie entscheiden meist Grundsatzfragen und kaum Routineaufgaben. Oft wird ihnen sogar vorgehalten, sie machten zu viel eigene Politik. Manipulierte Politiker würden dann organisationschauvinistische Ziele auch gegen demokratisch legitimierte Gremien verfolgen.

Wie alle großen Organisationen müssen auch Ministerien ständig modernisiert werden, weil sich ihre Aufgaben wandeln und ihre Arbeits- und Informationsgrundlagen ändern. Im privaten Sektor zwingt der Wettbewerb Unternehmen ständig zu Rationalisierungen. Demgegenüber müssen Modernisierungen öffentlicher Verwaltungen stärker aus „innerem Antrieb" erfolgen. Bei gegebener natürlicher Trägheit hinken sie deshalb ständig den Modernisierungserfolgen des privaten Sektors hinterher. Es wäre allerdings falsch, reine Imitationsstrategien zu verfolgen. Analogien zwischen Rationalisierungserfolgen des privaten Sektors und einer rationelleren öffentlichen Verwaltung reichen nicht aus. Man muß die spezielle Rolle der Ministerien und die besonderen Qualitätsanforderungen im Auge behalten. Das Thema Lean Administration ist nicht unwichtig, die Debatte war bisher jedoch zu einseitig. Modernisierung bedeutet Rationalisierung und bessere Qualität der Leistungen. Diese doppelte Aufgabe steht ständig – allerdings mit unterschiedlicher Dringlichkeit – auf der Tagesordnung.

Die Modernisierungsaufgabe bei Ministerien ist entsprechend ihrer komplexen Arbeitsinhalte ebenfalls komplexer. Gerade wegen der Bedeutung der Ministerien bleibt erschreckend, wie wenig sie sich in ihrer inneren Struktur und Arbeitsweise in den letzten 20 bis 30 Jahren verändert haben. Vergleicht man dagegen Großunternehmen wie Daimler und VW, die alle zwei bis drei Jahre Schlagzeilen aufgrund großer Rationalisierungserfolge oder aufgrund neuer Organisationsformen machen, dann sind Ministerien Orte der Starrheit und Stabilität. Zwar wird ständig über Organisationsreformen diskutiert, die Ergebnisse sind jedoch mager. Man erinnere sich daran, daß seit mehr als 20 Jahren die Abschaffung einer Ebene (Unterabteilungsleiter)

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ohne Ergebnis gefordert wird. Ministerien sind schwerer modernisierbar als Unternehmen. Die Minister werden kaum daran gemessen, ob sie die riesigen Mühen auf sich genommen haben und ihr Ministerium reformierten. Sie bleiben meist nur kurze Zeit Chef eines Ressorts. Sie sind in „ihrem" Ressort nicht groß geworden und haben dementsprechend die Stärken und Schwächen der Organisationen nicht in langen Jahren erlebt. Der Zusammenhang zwischen der Qualität und der Effizienz der Leistungen von Ministerien und den politischen Erfolgen der Minister ist nur sehr locker. Es fehlt der Wettbewerbsmechanismus. Es fehlt der direkte Kontakt zu Kunden, die mit anderen Anbietern vergleichen können. Für den einzelnen Beamten fehlen die direkten Anreize.

Zwar gibt es immer wieder Modewellen, in denen die Bürokratie kritisiert und Verbesserungen gefordert werden. Je nach Zeitgeist sollen typische Erfolge der Privatwirtschaft erreicht oder Anforderungen innerer Reformen in der Demokratie erfüllt werden. Doch die Verfallszeiten solcher Aufmerksamkeitswellen sind fast immer kürzer als die Umsetzungszeiten. Deshalb stellt sich natürlich als erstes die Frage, soll man das ganze Thema nicht links liegen lassen? Ministerien haben bisher ganz ordentlich funktioniert. Sie werden ihren Aufgaben auch in Zukunft einigermaßen gerecht werden. Die Zeitgeistwellen verschleißen viel Energie und Aufmerksamkeit. Lohnt sich der ganze Aufwand?

1.1 Neue Rahmenbedingungen erhöhen die Bedeutung einer erfolgreichen Modernisierung

Verglichen mit den vergangenen Anläufen zu mehr oder weniger grundlegenden Reformen haben sich in den letzten Jahren verschiedene Rahmenbedingungen verändert. Am wichtigsten sind die näher rückenden Pensionsberge, die den Staat zu drastischer Rationalisierung und Vereinfachung zwingen werden. Daneben wird trotz Globalisierungsdebatte in einer kritischen Öffentlichkeit deutlicher, daß es nicht ausreicht, hohe technische Fortschritte bei der Produktion von Autos oder chemischen Produkten zu erzeugen. Immer mehr Beschäftigte sind in der Produktion lokaler, nicht handelbarer Güter und Leistungen tätig. Die hohen Produktivitätssteigerungen in technisch bestimmten Prozessen werden immer stärker aufgefressen durch den Überbau der Transaktionskosten, der Steuerung, Planung, Kontrolle und Koordinierung sowie Konfliktbewältigung. Auch die Arbeitslosigkeit ist stärker hausgemacht als meist angenommen. Mit der künftig weiter steigenden Bedeutung der lokalen, nicht handelbaren Güter für Beschäftigung und Produktivitätssteigerungen steigt die Bedeutung der Innovationen im Staatssektor. Ohne modernen Staat keine moderne Wirtschaft, ohne Qualitätssteigerungen der Leistungen der Ministerien keine ausreichenden Produktivitätssteigerungen in der Privatwirtschaft.

1.2 Lean administration ist nicht genug

Bei der Modernisierung der Ministerien geht es um weit mehr als um die Einsparung einiger Ministerialratsstellen. Lean administration ist nicht genug, auch wenn die unter diesem Schlagwort geforderten Veränderungen wichtig sind. Die Liste der Aufgaben ist lang:

  • eigene Ressourcenverantwortung von Organisationsleitern,
  • mehr interner Wettbewerb,
  • Auslagerung von Leistungen im Wettbewerbsbereich,
  • mehr Anreize zur Effizienzsteigerung für das Personal,
  • mehr Gestaltungsspielräume bei der täglichen Arbeit,
  • mehr Anwendung von Informationstechnologien,
  • flexiblere Organisationen mit größerer externer Zuarbeit, um die Fertigungstiefe in den öffentlichen Behörden zu verringern,
  • mehr Outputorientierung, d. h. klare Produktdefinition und Qualitätsmessung,
  • Zurechnung und Kostenkontrolle bei der Erzeugung von bestimmten Leistungen.

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Würden alle diese Anforderungen oder Wünsche erfüllt, wäre viel gewonnen. Dennoch wäre das nicht genug, denn es geht nicht nur darum, gegebene Leistungen wirksamer, schneller und mit weniger Ressourcenaufwand zu produzieren. Es geht darum, die Qualität der Leistungen von Ministerien zu verändern. Qualitätsfragen zu untersuchen ist ohne Zweifel risikoreich, weil die Qualität der Leistungen von Ministerien kaum zu definieren und zu messen ist. Leicht greifbar ist der Output höchstens in Gestalt produzierter Texte oder abgeleisteter Sitzungszeiten. Die unzureichende Qualität einer Gesetzesvorbereitung bemerken Minister und Öffentlichkeit meist erst dann, wenn es zu spät ist, weil der Ärger in allen Zeitungen steht. Oft werden Qualitätsmängel jedoch kaum sichtbar. Die Zufriedenheit der Adressaten kann nicht unbedingt als Maßstab für die Qualität einer Regelung herangezogen werden. Hohe Zufriedenheit kann auch bedeuten, daß Programmauflagen völlig problemlos eingehalten werden konnten, weil geförderte Investitionen z. B. ohnehin in gleicher Form geplant waren. Reine Mitnehmerprogramme erzeugen die zufriedensten Empfänger. Wirksame Programme, die Verhalten ändern sollen, werden dagegen vielfach als bürokratisch und gängelnd gebrandmarkt.

Die Maßstäbe für die Qualität der Ministeriumsleistungen müssen ganz offensichtlich von Fall zu Fall aus dem Inhalt der jeweiligen Aufgabe, den staatlichen Zielen und den einzelnen durch fast unendliche Vielfalt gekennzeichneten Politiken sowie ihrer Wirkungsmöglichkeiten gewonnen werden. Gehaltvolle Qualitätskriterien erfordern inhaltlich begründete, empirisch nachprüfbare Ziele und die Messung von Wirkungen.

1.3 Hohes komplexes Anforderungsniveau

Die Anforderungen, die man an Ministerien stellen muß, sind hoch. Die Gründe dafür sind einfach nachvollziehbar:

  • Maßnahmen oder konzeptionelle Vorschläge von Ministerien haben eine hohe Relevanz und Reichweite. Sie tangieren oft Millionen Menschen.
  • Die Komplexität der Wirklichkeit, insbesondere des öffentlichen politischen Lebens und des staatlichen Handelns, nimmt ständig zu. Damit wachsen auch die Anforderungen an die Ministerien fast automatisch an.
  • Die Verflechtungen zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Politik und privatem Leben nehmen zu. Die öffentliche Diskussion hat sich hier zu sehr auf das Thema einer steigenden Staatsquote konzentriert. Daneben gibt es eine unsichtbare Staatsquote durch staatliche Steuerung und Regulierung, die hohe volkswirtschaftliche Kosten für politische Ziele hervorrufen. Der Regulierungs- und Steuerungsstaat wird immer detaillierter und teurer. Allein die Umweltpolitik hat in den letzten 10 bis 20 Jahren riesige neue Steuerungsfelder entwickelt.

Deshalb müssen Ministerien als lernende Systeme etabliert bzw. erhalten werden, die auf Veränderungen der Gesellschaft oder auf Veränderungen der Wirkung bestehender Politiken wach und kritisch reagieren. Gleichzeitig sind Politik und Öffentlichkeit überfordert, die vielen Spezialbereiche politischen Handelns – von der Förderung der Technologie über Sozialhilfe bis hin zu komplexen steuerlichen Erleichterungen – zu überblicken. Die Ministerien müssen von sich aus darauf hinweisen, wenn Wirkungsweisen sich verändern, Probleme sich verringert haben oder wenn unter neuen Bedingungen ungewollte Wirkungen alter Maßnahmen entstehen.

Ministerien brauchen neben einer ständigen externen Erfolgs- und Kostenkontrolle ein internes System der Selbstkontrolle und Selbstregulierung, um den Veränderungen gerecht zu werden. Es müssen Innovationen, Routinen und Anreize geschaffen werden, um diesen Modernisierungsprozeß in Gang zu halten. Dabei ist gleichzeitig die schwierige politische Rolle der Ministerien zu bewältigen. Das erfordert unter anderem, daß Ministeriumsmitarbeiter jeweils loyal für wechselnde Politiken und politische Parteien und v. a. auch für wechselnde Minister arbeiten. Eine Sonderrolle spielt die Frage, welche Kontakte und Koope-

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rationen zwischen Opposition und Ministerien bestehen. Ministerien sind zunächst „Erfüllungsgehilfen" der jeweiligen Regierung bei der Formulierung und Umsetzung der Regierungspolitik. Ministerien sind aber auch Organisationen, die über ein Wissen verfügen, das allen zur Verfügung stehen sollte, weil es auf einer spezifischen, z. T. einzigartigen Erfahrung, beruht. Ministerien als Informationsquellen und Aufklärungsinstitutionen sind nicht gleichzusetzen mit Wissenschaft und Forschung. Ministerien verfügen – anders als Forschungseinrichtungen – über ständige Kontakte zur Politik und zur politischen Öffentlichkeit, ohne dabei Partei zu sein. Diese einzigartige Scharnierfunktion sollte beständig zur Versachlichung der Diskussion genutzt werden.

Allein diese Hinweise auf das Anforderungsprofil machen deutlich: es geht um Motivation und Organisation. Es geht um Lernfähigkeit genauso wie um Lean Management. Es geht um die Fähigkeit, Interessen zu erfassen ebenso wie um die Fähigkeit, sich im Internet zu bewegen. Die gegenwärtige Debatte drängt die Qualitätsgesichtspunkte zu sehr in den Hintergrund. Trotz der Schwierigkeiten sollten Versuche, das Thema Qualität aufzuarbeiten, intensiviert werden. Dies erfordert eine Analyse, die auf mehreren Ebenen ansetzt, um u. a. Antworten auf folgende Fragen zu ermöglichen:

  • Welches sind die typischen Anforderungen und Aufgaben eines Ministeriums bzw. unter welchen Arbeitsbedingungen sind Ministeriumsleistungen zu erbringen?
  • Welche Gewichtung ist der Aufgabe einer Qualitätsverbesserung im Vergleich zur Aufgabe einer Effizienzsteigerung beizumessen?
  • Welches sind die gegenwärtig beobachtbaren Stärken und Schwächen von Ministerien?
  • Inwieweit dürften die gegenwärtig diskutierten Reformmaßnahmen zur Verbesserung der Ministeriumsorganisation die Qualität der Arbeit und deren Ergebnisse verbessern bzw. inwieweit kommt es lediglich zu Kosteneinsparungen?
  • Welcher Zusammenhang besteht zwischen erhöhter Effizienz der Ministeriumsarbeit und der Qualität der Ergebnisse?
  • Welche Maßnahmen wären geeignet, die Qualität der Leistungen in den verschiedenen Politikbereichen zu verbessern?
  • Wie beeinflußt die jeweilige politische Leitung die Qualität der Ministerien?


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2. Zur Relevanz des Themas



2.1 Die Qualität der Leistungen von Ministerien – Versuch einer Einordnung

Von Schumpeter werden heute nur noch fast Sätze aus seiner Innovationstheorie zitiert. Tatsächlich hat er sich, ähnlich wie Max Weber, umfassend und detailliert zur Rolle der Bürokratie geäußert. Nach seiner Auffassung ist „die Bürokratie" nicht ein Hindernis der Demokratie, sondern ihre unvermeidliche Ergänzung. Gleicherweise ist sie eine unvermeidliche Ergänzung der modernen Wirtschaftsentwicklung. Demokratien brauchen riesige loyale, selbstkritische und zur Selbstkontrolle fähige Bürokratien, weil sie ihre zahlreichen und detaillierten Ziele nicht durch Abstimmung und Wahlen, sondern nur durch detaillierte Regulierungen, die auf Gesetzen beruhen, erreichen können. Die wirksame Umsetzung politischer Vorstellungen setzt eine gleichzeitig wache und effiziente Bürokratie voraus. Ein einfaches Relevanzkriterium ergibt sich aus dem quantitativen und qualitativen Wachstum des Staatssektors, wobei die Staatsquote nur ein unvollkommener Maßstab für die Wirkung öffentlichen Handelns ist. Jeder Bundestag schafft mehr und mehr Gesetze und Normen, die von der Verwaltung vorbereitet und anschließend umgesetzt werden. Völlig unabhängig davon, welche Parteien ihre Regierungspolitik bestimmen, ist der „Überbau" staatlicher Steuerung fortlaufend umfassender, detaillierter und komplexer geworden. Dabei wirken Ministerien intensiv mit. Sie bereiten die Optionen vor und beeinflussen auch die Entscheidung für die eine oder andere Option:

  • Man kann in der Umweltpolitik Marktmechanismen zur Entwicklung eines umweltscho-

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    nenden technischen Fortschritts in Gang setzen oder administrative Vorgaben und Regeln etablieren.

  • Man kann die Wohnungsversorgung durch kostengünstige Produktion oder durch hohe Subventionsprogramme verbessern.
  • Man kann die Preise für Agrarprodukte zugunsten der Bauern hochhalten oder kann älteren Bauern, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind und sich in ihrem Berufsleben nicht mehr an neue Bedingungen anpassen können, durch Einkommenszahlungen unterstützen.
  • Man kann die Preise der Architekten durch eine HOAI regulieren oder Freiberufler einem offenen Preiswettbewerb aussetzen.
  • Man kann der Lufthansa Privilegien bei der Landung auf deutschen Flughäfen einräumen oder zugunsten der Kunden und einer hohen Auslastung der Flugzeuge einen Wettbewerb um Landerechte eröffnen.

Die Zahl der Optionen ist nicht zu überblicken. Angesichts der Spezialisierung vieler Maßnahmen wachsen die autonomen Einflußmöglichkeiten von Ministerien. In vielen Feldern sind Ministerialbeamte zusammen mit einigen Wissenschaftlern und Interessenten die einzigen, die Wirkungen von Maßnahmen noch beurteilen oder das Ausmaß der Probleme abschätzen können. Bürger und Politiker werden immer abhängiger davon, daß Ministerialbeamte ihren Aufgaben gerecht werden. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.

2.2 Überforderung durch Komplexitätsexplosion und Themenvielfalt

Die wachsende Themenvielfalt bei hoher Interessenvielfalt und durch Interessen eingefärbte Informationen führen zu unübersichtlichen Situationen, die vielfach die Aufnahmefähigkeit der Parteien und deren Spitzenpolitiker sowie die der Medien übersteigt. Die Zeitbudgets der Spitzenpolitiker, der aktiven Mitglieder der Parteien, aber auch der Bürger, sind begrenzt. Zunehmende Zeitknappheit für politische Informationsverarbeitung und wachsende Komplexität geraten immer mehr in Widerspruch zueinander. Gleichzeitig werden politische Steuerungsaufgaben immer spezifischer und komplexer. Daran hat auch die ständige Debatte über Deregulierung und Begrenzung des Staatseinflusses, insbesondere zur Begrenzung der Staatsausgaben, wenig geändert. Deregulierung und Vereinfachungsbemühungen sind ständig notwendig, gerade weil die Komplexität steigt aufgrund innerer Veränderungen in bestehenden Politikbereichen und ständig neu hinzukommender Politikfelder. Deregulierung kann jedoch kein Ersatz für eine Qualitätssteigerung sein, weil der Umfang der staatlichen Steuerung und Regulierung dennoch zunimmt.

Einige Hinweise verdeutlichen dies:

  • Die Wirtschaft fächert sich insbesondere durch neue Technologien immer weiter auf. Es gibt mehr und mehr spezialisierte Produktionsvorgänge und Dienstleistungen. Mit den Anforderungen an die Produkte wächst deren technische Komplexität. Es entstehen neue Sicherheits- oder Gesundheitsrisiken, die zu berücksichtigen sind. Es entstehen Transparenzaufgaben, die z. B. durch neue Statistiken und Überwachungen bewältigt werden müssen. Mit der technischen und ökonomischen Komplexität in der Wirtschaft nehmen – bisher jedenfalls – die staatlichen Aufgaben zu.
  • Die Zahl der Berufe wächst unaufhaltsam. Statt 10.000 müssen künftig eher 50.000 Berufsbilder fixiert und fortlaufend weiterentwickelt werden. Traditionelle Regulierungsbemühungen geraten an Kapazitätsgrenzen.
  • Die Umweltrestriktionen bei gleichzeitig wachsenden Stoffkreisläufen machen eine immer spezifischere Kontrolle und Steuerung von Abgasen, Stäuben oder Energieverbrauch notwendig.
  • Das System der sozialen Sicherung wurde in Jahrzehnten immer weiter aufgefächert. Nur noch Spezialisten können Teilbereiche überblicken und verstehen die letzte Runde von Kostensenkungsbemühungen oder der Anrechnungsanpassungen im Rentenrecht. Dennoch werden die öffentlichen Transfersyste-

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    me ständig ergänzt, zuletzt kam die Pflegeversicherung hinzu und weitet sich zu einer Wachstumsbranche der Regulierungen (Preisregulierungen, Berufsanforderungen …) aus.

  • Selbst die Parteienlandschaft ist differenzierter geworden. Die Zahl der im Bundestag vertretenen Fraktionen ist von drei auf fünf angewachsen. Innerhalb der Parteien hat die Meinungsvielfalt eher zugenommen.
  • Durch die wachsende Bedeutung der Europäischen Union vervielfachen sich die Abstimmungserfordernisse zwischen Ebenen und Politiken. Technische Normen können nicht mehr national bestimmt werden, Subventionen dürfen keine Wettbewerbsverzerrungen hervorrufen. Im Bereich der Technologieförderung und der regionalen Entwicklungspolitik überlagern sich EU-, Bundes- und Länderprogramme.

Unter den beschriebenen Bedingungen kommt es zu Erhöhung der Anforderungen an die Ministerialverwaltung, weil die Gemengelage in sich und untereinander zunehmend ausdifferenzierter Politikfelder schwieriger geworden ist.

2.3 Effizienz und Leistungsqualität – ein Spannungsverhältnis

Bei komplexen öffentlichen Aufgaben fehlt der einfache Erfolgsindikator, über den der Privatsektor in Gestalt der Gewinne und Erträge verfügt, fast vollständig. Verglichen mit der Bewertung der Leistungen eines Referats in einem Ministerium ist die Bewertung der Zweigstelle einer Bank einfach. Drastische Rationalisierungen und organisatorische Vereinfachungen im Privatsektor sind dann ein Erfolg, wenn gleichzeitig die Gewinne steigen und die Kosten sinken. Demgegenüber sind die Kosteneinsparungen im öffentlichen Sektor für sich genommen noch kein abschließender Erfolgsmaßstab. Es erhöht sich auch das Risiko einer Verminderung der Qualität öffentlicher Leistungen. Kosteneinsparungen bei Qualitätsverlusten wären ein zweifelhafter Erfolg. Bei der Modernisierung von Ministerien muß die Sorge um eine hohe Qualität der Leistungen besonders ernst genommen werden, weil die Leistungen jeweils eine große Zahl von Menschen oder riesige Wertschöpfungsprozesse betreffen.

  • Unterstellen wir, daß im BMF und in den Finanzressorts der Länder intensive Rationalisierungsbemühungen zur Einsparung von Mitarbeitern geführt haben und daß in den Bewertungsreferaten insgesamt vier Stellen à 250.000 DM eingespart wurden. Sollte sich nun herausstellen, daß durch diese Einsparung die Vorbereitung der nächsten Grundstücksbewertung (Einheitsbewertung) nur um Nuancen weniger gründlich ausfällt, dann sind erhebliche Folgerisiken zu befürchten. Wir unterstellen, daß die Fragebögen zur Erhebung der Informationen für eine künftige Bewertung für etwa 20 Mio. Grundstücke nicht hinreichend genug getestet wurden. Nimmt man an, daß durch zu komplizierte Gestaltung der Formulare bei den einzelnen Eigentümern jeweils pro Grundstück zehn Minuten unnötiger Ausfüllungsaufwand entsteht, dann ergeben sich insgesamt 200 Mio. Minuten an unnötiger, nicht erforderlicher Zeitverwendung bei privaten Eigentümern. Unterstellt man einen Preis von 50 Pfennig für die Minute (30 DM pro Stunde), dann ergäbe dies einen unsinnigen Mehraufwand in einer Größenordnung von 100 Mio. DM. Gemessen daran wäre eine Einsparung von 1 Mio. DM Personalkosten ein irrelevanter und im Ergebnis absurder Vorgang.
  • Seit Jahren gibt es Bemühungen zur Senkung der Baukosten. Unter Experten besteht Einigkeit, daß die hohen Baukosten in der Bundesrepublik durch staatliche Regulierungen und Rahmensetzungen hervorgerufen wurden. Das jährliche Bauvolumen im Wohnungsbau beträgt rund 200 Mrd. DM. Unterstellt man eine regulierungsbedingte, d. h. staatlich verursachte Kostensteigerung in Größenordnungen von 5 %, so bewirkten diese einen volkswirtschaftlichen Mehraufwand von 20 Mrd.. Unterstellt man weiterhin, daß intensive Bemühungen der Ministerien im Prinzip die Hälfte dieses Mehraufwands einsparen könnten, dann ergäbe dies

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    10 Mrd. DM. Wollte man eine vergleichbare Einsparung durch Kürzungen im Bereich der Bundesverwaltung verwirklichen, müßte man nahezu die gesamte „politische Führung und zentrale Verwaltung" wegrationalisieren, die mit ca. 13,5 Mrd. DM im Haushalt 1996 verankert ist. Angesichts einer solchen Einsparungsmöglichkeit würden sich in den zuständigen Ministerien erhebliche Personalmehraufwendungen rechtfertigen. Dabei muß man berücksichtigen, daß nicht nur direkte Einsparungen in Milliardenhöhe möglich sind, sondern daß es auch zu einer verbesserten Funktionsfähigkeit der Wohnungsmärkte mit verbesserten Marktergebnissen käme, weil sich z. B. mehr Haushalte ihren Traum vom eigenen Haus erfüllen könnten. Im Ergebnis würde die öffentliche Wohnungsbauförderung entlastet. Nun ist es sicherlich zweifelhaft, ob eine Ausweitung der Kapazitäten in den entsprechenden Zuständigkeitsbereichen der Ministerialverwaltungen eine solche Einsparung zur Folge hätte. In jedem Fall würde jedoch eine neue Politik, die eine Rationalisierung der Bauwirtschaft ernsthaft versucht, ohne entsprechende Verwaltungskapazitäten nicht auskommen.

Beide Beispiele illustrieren, welche Kosten-Nutzen-Überlegungen jeweils bei Rationalisierungsüberlegungen in Ministerien angestellt werden sollten. Bei wirklicher ministerieller Tätigkeit, d. h. bei Leistungen, die nicht einfach Routinevollzug sind, entstehen ganz erhebliche Hebelwirkungen. Der große Wirkungs- und Einflußbereich ministerieller Entscheidungen führt zwingend zu der Forderung, auf die Qualität dieser Entscheidungen besonders zu achten, selbst um den Preis, daß dabei ganz erhebliche Verwaltungskapazitäten in Anspruch genommen werden oder Kosten entstehen.

Im Gegensatz zu der hier vertretenen Einschätzung haben die hauptsächlich auf Effizienzsteigerung ausgerichteten Strategien in der internationalen Modernisierungsdebatte auch auf zentralstaatlicher Ebene eine relativ große Bedeutung. Hierbei muß man allerdings den Staatsaufbau und die Verwaltungstraditionen in Rechnung stellen. Zentralistisch organisierte Staaten erbringen von der Zentrale aus viele Vollzugsleistungen, die in der Bundesrepublik bei Ländern und Kommunen angesiedelt sind. Hinzu kamen in der Vergangenheit ganz unterschiedliche Intensitäten der Auslagerung von Aufgaben auf nachgeordnete Behörden.

So haben die Ministerien in Großbritannien (1995) in der Regel einen viel größeren Personalstamm als ihre Pendants in Deutschland (Planstellen 1996). Mit der Größe und dem Anteil von klassischen Vollzugsaufgaben wächst auch die Relevanz der reinen Effizienzsteigerung.

Beschäftigungszahlen ausgewählter Ministerien in Großbritannien und Deutschland:

Dep. of Transport:

2300

BMV:

1229

Home Office:

9566

BMI + BMJ:

2489

Dep. of Environment:

4513

BMU + BMBau:

1315

Dep. of Social Sec.:

2793

BMA + BMFSFJ:

1424

Dep. of Trade + Ind.:

5144

BMWi:

1696

Dep. of Agriculture:

6403

BML:

960

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