FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Wohlfahrtsstaat - kein Auslaufmodell

Mit Hinweisen auf die Entwicklung in Neuseeland, aber auch in Großbritannien und insbesondere auf das US-amerikanische Beschäftigungswunder und die erstaunliche technologische Revitalisierung der US-Wirtschaft in den letzten 12 Jahren wird von weiten und wachsenden Kreisen in einer möglichst weiten Liberalisierung, Deregulierung und Flexibilisierung und damit (Re-)Individualisierung von sozialen Risiken das wirtschaftspolitische Allheilmittel gesehen.

Page Top

Gesellschaft läßt sich nicht allein auf Allokationseffizienz gründen

Es ist völlig unstrittig, daß der "Markt" ein universeller und unübertroffener Mechanismus bei der Erzeugung von Allokationseffizienz und "production welfare" ist. Genauso unstrittig ist es bzw. sollte aber auch sein, daß bei einer auf Nachhaltigkeit angelegten (Gesellschafts-)Politik Aspekte der "distribution welfare" bzw. die "gesellschaftlichen Kosten" anders als bei einer marktradikalen bzw. ausschließlich allokationseffizienten Strategie berücksichtigt werden müssen. Nicht zuletzt deshalb betont z.B. auch ein so ausgewiesener Liberaler wie Ralf Dahrendorf in seinem Urteil über die marktradikalen Thatcherjahre in England sehr dezidiert, daß die vielfach vorgetragene Auffassung, der Markt sei das gesellschaftliche Allheilmittel, in ihrer Eindeutigkeit und Einseitigkeit falsch ist.

Denn was von den Protagonisten einer marktradikalen Politik gerne übersehen bzw. negiert wird, ist, daß die hohe Beschäftigungsintensität und die hohe Wachstumseffizienz dieser politischen Option damit erkauft wurden, daß einerseits - wie die Beispiele in den USA, England oder Neuseeland belegen - nur noch ein immer kleiner werdender Teil der Arbeitsplätze von Vollzeitbeschäftigten mit Normalarbeitsverträgen besetzt ist und daß andererseits - aufgrund stark gesunkener Reallöhne - auch Vollerwerbstätigkeit in einer wachsenden Zahl von Fällen zur Existenzsicherung nicht mehr ausreicht. Das Beschäftigungsproblem wurde - so der nach seiner ersten Amtsperiode zurückgetretene US-Arbeitsminister Reich - gegen ein Einkommensproblem getauscht.

Ferner negiert eine solche Politik des freien Marktes und der Entgrenzung von Lohnstrukturen den empirischen Befund, daß bei sinkenden Löhnen bzw. niedrigen Mindestlöhnen die Kriminalität ansteigt: Zusammen mit dem Verfall der unteren Einkommen ist in der Regel nämlich eine steigende Kriminalitätsrate zu beobachten. Eine Gesellschaft, in der zwei Drittel der Mitglieder von der Wachstumsdynamik abgekoppelt sind, ist zwar (kurzfristig) wirtschaftlich effizient, nicht aber langfristig stabil und zukunftsfähig.

Page Top

Gesellschaftliche Risikobereitschaft erfordert individuelle Sicherheit

Wenn sich Globalisierung wie beschrieben in einem grenzüberschreitenden Ausnutzen unternehmensspezifischer Kernkompetenzen und der Entgrenzung von unternehmerischen Organisations- und Entscheidungsstrukturen dokumentiert, darf die politische Antwort nicht in vielleicht gut gemeinten, gleichwohl ökonomisch falschen protektionistischen Versuchen zur Erhaltung vorhandener sozialer Besitzstände und Regelungen bestehen. Eine offensive, auf einen hochproduktivitätsorientierten Strukturwandel setzende Politik ist die einzig ökonomisch richtige Antwort.

Eine solche Politik ist aber - und darüber muß man sich im Klaren sein - mit hohen gesellschaftlichen Anpassungsschmerzen und zweifellos auch einer Zunahme der individuellen Arbeitsmarktrisiken verbunden. Da aber mit der weiteren wirtschaftlichen Globalisierung einerseits die Einkommens- und Arbeitsmarktrisiken einer wachsenden Zahl von Arbeitnehmern steigen und die "Modernisierungsantwort" andererseits mit deutlich steigenden Flexibilitäts- und Mobilitätsanforderungen an den einzelnen einhergeht, gewinnen wohlfahrtsstaatliche Sicherungseinrichtungen eine "neue" zukunftsorientierte Funktion.

Die Wirtschaftstheorie lehrt nämlich, daß "Risiko" ein Produktionsfaktor ist und eine Volkswirtschaft um so dynamischer ist, je größer die Neigung bzw. Fähigkeit der Bevölkerung ist, Risiken zu tragen und einzugehen. Nur in einer statischen Wirtschaft gibt es kein wirtschaftliches und kein soziales Risiko, aber auch keine Chancen. Es dürfte kaum zu bestreiten sein, daß hinter unserer derzeitigen - von vielen Seiten beklagten - partiellen Innovationsschwäche der deutschen Wirtschaft auch eine in den letzten Jahren gestiegene Risikoaversion immer größerer Bevölkerungskreise inklusive der sie im politischen Raum repräsentierenden Parteien steht.

Da die Befriedigung unseres Modernisierungs- und Strukturwandlungsbedarfes und damit die zukünftige positive Dynamik unserer wirtschaftlichen Entwicklung auch von der Fähigkeit bzw. dem Willen unserer Gesellschaft abhängt, Risiken einzugehen, muß auf der einen Seite, um die Risikobereitschaft der Unternehmen zu erhöhen, eine wachstumseffizientere Unternehmensbesteuerung angestrebt werden. Auf der anderen Seite folgt aber gleichermaßen und gleichberechtigt aus dem Risikoargument, daß ein Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung und eine Individualisierung der Risiken der sich wandelnden Arbeitswelt ein Irrweg sein kann. Denn ein leistungsfähiges, individuelle Sicherheit garantierendes staatliches Sicherungssystem ist sowohl ein starkes Bollwerk gegen protektionistische Rückzugsversuche aus dem internationalen Konkurrenzkampf als auch gegen eine Revitalisierung des ohnmächtigen aber nicht toten Sozialismus und stellt daher keinen Hemmschuh, sondern eine wichtige Flankierung der Modernisierungsantwort dar.

Page Top

Die Bedeutung von Humankapital setzt der individuellen Mobilität Grenzen

Ähnlich problematisch wie die pauschale Forderung nach einer Individualisierung "sozialer" Risiken ist die gängige "marktwirtschaftliche" Forderung nach Erhöhung der Mobilität der Arbeitnehmer. Wiederum unter Verweis auf die USA wird eine höhere Bereitschaft zur regionalen und beruflichen Veränderung verlangt. Auch wenn diese Forderung ganz zweifellos einen wahren Kern hat, darf man nicht übersehen, daß eine so stark exportorientierte und exportabhängige Volkswirtschaft - wie es die deutsche ist - extrem von ihren gut qualifizierten und motivierten Arbeitnehmern abhängig ist. Humankapital im allgemeinen und betriebsgebundenes Humankapital im besonderen sind die wichtigsten Produktionsfaktoren Deutschlands.

Die Forderung nach einer höheren Mobilität im Sinne von externen und zwischenbetrieblichen Wechseln läuft aber genau dieser Erkenntnis entgegen. Denn Investitionen in das Humankapital müssen sich lohnen und zwar für Arbeitnehmer und Unternehmen. Wenn sich aber beide Seiten einer längeren Zusammenarbeit, die zur Amortisation dieser Investitionskosten nötig ist, nicht sicher sein können, dann werden diese Investitionen zum langfristigen Nachteil der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unterlassen.

Page Top

Sozialstaat umbauen: weniger Beiträge, mehr Eigenverantwortung, steuerfinanzierte Basissicherung

War in den 60er und 70er Jahren der schwedische Weg das Vorbild für die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen hierzulande, so sollte heute die Art und Weise, nämlich die - trotz der wesentlich härteren Einschnitte, als sie hier (bisher) geplant sind - hohe Kooperationsbereitschaft der Bürger beim schwedischen Systemumbau ebenfalls wieder als positives Beispiel dienen. Wir müssen uns von der derzeitigen eindimensionalen, nicht problemadäquaten Fixierung auf die Kosten sozialer Sicherung lösen und registrieren, daß neben dem Volumen insbesondere die Struktur für Effizienz und Effektivität von Sozialleistungssystemen bedeutsam ist.

Eine moderne und adäquate Betrachtung muß gleichermaßen auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite ansetzen. Nur ein solches systematisches Vorgehen ermöglicht eine konsistente und langfristig erfolgreiche Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die geänderten ökonomischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen.

Notwendig ist bei uns eine neue Balance der Elemente Beiträge, Steuern und Eigenleistung. Konkret bedeutet dies auf der Einnahmenseite weniger Beiträge - unter strikter Wahrung des Versicherungsprinzips - und eine Restfinanzierung durch Steuern bei verstärkter Eigenverantwortung. Für die Ausgabenseite bedeutet dies - neben organisatorischen Verschlankungen - die systematische Trennung aus allgemeinen Leistungen und Versicherungsleistungen. Eine stärkere Eigenverantwortung kann gefordert und geleistet werden, wenn sie auf einer soliden und verläßlichen staatlichen Basisabsicherung aufbaut.

Richtig verstandene wohlfahrtsstaatliche Politik bedeutet von der Konzeption her nicht zwingend hohe und steigende Abgaben- und Staatsquoten und eine "staatliche Überbetreuung" des Einzelnen - die Realität sah leider anders aus -, wohl aber eine Abstimmung und Verzahnung der verschiedenen Politikfelder im Hinblick auf das übergeordnete Ziel "Annäherung der individuellen Startchancen und Partizipationsmöglichkeiten". Eine moderne Sozialpolitik ist unter diesem Aspekt Element einer umfassenden Gesellschaftspolitik.

Zusammengefaßt - und dies ist das entscheidende für die "neue" wohlfahrtsstaatliche Politik - bedeutet dies eine Abkehr vom Ziel der Einzelfallgerechtigkeit im Ergebnis und eine Hinwendung zu klaren institutionellen Vorgaben die jedem Wirtschaftssubjekt ausgehend von seiner jeweiligen Position ein Höchstmaß an institutioneller Gleichbehandlung und individueller Entscheidungsautonomie einräumt, ohne daß diese Gleichbehandlung auch für die Ergebnisse gelten muß.


Anmerkungen

Der Autor dankt Roland Klopfleisch, PD Dr. Werner Sesselmeier und Dr. Martin Setzer für intensive, konstruktive aber auch kontroverse Diskussionen, die z.T. Eingang in diesen Text gefunden haben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

Previous Page TOC