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6. Erziehung und Ausbildung

Am wenigsten absehbar ist der Reformkurs im Erziehungs- und Ausbildungswesen, das im Nachhinein und ohne klare Perspektive in das Reformprogramm eingeschlossen wurde. Dabei wird eine Erziehungs- und Ausbildungsreform seit Jahren immer wieder angemahnt:

* Das Schul- und Universitätssystem ist für die privaten Haushalte extrem teuer. Da die öffentlichen Schulen oft als zweitklassig gelten, schicken viele Familien ihre Kinder auf teure Privatschulen; zu den normalen Schulgebühren kommen Kosten für die obligatorischen privaten Paukschulen hinzu. Die Einschreibungs- und Semestergebühren der privaten Spitzenuniversitäten sind astronomisch hoch.

* Das japanische Schulsystem ist unter dem Gesichtspunkt einer liberal-aufgeklärten Pädagogik sicherlich ein Horror: Es dominieren gewaltförmige Methoden der sozialen Kontrolle und Sanktionierung abweichenden Verhaltens, die sture Eintrichterung von Faktenwissen, ein rigides und hartes Prüfungssystem, während es an der Vermittlung von „Bildung" im alteuropäischen Sinne (wozu etwa die Ausbildung der Fähigkeit gehörte, das eigene Handeln unter historischen und systematischen Gesichtpunkten zu begreifen) völlig mangelt.

* Die liberal-pädagogische Kritik trifft sich mit den Ermahnungen der Unternehmerverbände, die die unzureichende Kreativität der japanischen Schul- und Hochschulabgänger beklagen.

Gleichzeitig ist das Schulsystem in mehrerlei Hinsicht überdurchschnittlich effizient:

* In der Beherrschung technischer, mathematischer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse liegen japanische Schüler neben denen Singapurs und Koreas immer noch an der Weltspitze;

* trotz einiger spektakulärer Monstrositäten wie der Aum-Sekte oder des mordenden Schülers von Kobe trägt das Schulsystem zu einer wirksamen Sozialintegration bei, deren Erfolg sich an dem im Vergleich zu den westlichen Industrieländern niedrigem Niveau an „abweichendem Verhalten" messen ließe;

* das Schulsystem befördert den Mythos der Meritokratie. Da alle dieselbe Prüfungshölle durchqueren müssen, scheint es, als wirke das Schulsystem als ein unbestechlicher Auslesemechanismus, in dem allein das Verdienst - und nicht die soziale Herkunft - honoriert wird (wie empirische Studien zeigen, ist die Beziehung zwischen sozialer Herkunft und erreichtem Ausbildungsstand in Wirklichkeit ähnlich ausgeprägt wie im „klassenorientierten" Schulsystem Englands).

Da die Haushalte eher die hohen Kosten des Ausbildungssystems hinzunehmen gewillt sind als höhere Steuern, gibt es für die Regierung keinen Grund, Bildung und Ausbildung stärker als bislang staatlich zu subventionieren. Und pädagogische Bedenken bzw. die unspezifische Klage über mangelnde Kreativität werden nicht dazu führen, daß ein in technisch-ökonomischer und sozialintegrativer Hinsicht erfolgreiches System grundlegend verändert wird. Das zentrale Problem des japanischen Erziehungs- und Ausbildungssystem liegt auf einer anderen Ebene, nämlich in seiner engen Verknüpfung mit dem Beschäftigungssystem. Die berufliche Qualifikation erfolgt in den Unternehmen. Das Bildungs- und Ausbildungssystem erzeugt keine berufliche Qualifikation sondern ein (hohes) Qualifikationspotential. Daher gibt es auch kein öffentliches Zertifikations- und Bewertungssystem für Qualifikationen, das den potentiellen Arbeitgeber informieren würde, welche fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten er bei einem Bewerber voraussetzen kann. Das Qualifikationspotential wird von den einstellenden Unternehmen ausschließlich am formellen Abschluß (Junior High School, Senior High School, Universität) und am Rang der besuchten Schulen bzw. Universitäten gemessen (von Bedeutung ist dabei das Eintrittsexamen, nicht der Abschluß). Es gibt daher einen starken Anreiz, den Abschluß an einer hochrangigen Universität anzustreben (46% der 1995 neu Eingestellten hatten einen Universitätsabschluß), ohne daß dies notwendig mit einem bestimmten fachlichen Studiengang verbunden wäre. Hieraus ergibt sich erstens, daß die durchschnittliche Verweildauer im Bildungs- und Ausbildungssystem sehr lang ist, obwohl die Studenten die Regelstudienzeit von acht Semestern selten überschreiten. Zweitens tragen die Unternehmen nicht nur die Kosten der fachlichen Ausbildung, auch müssen sie betriebsintern das Surrogat eines öffentlichen Zertifikations- und Bewertungssystems für Qualifikationen erzeugen (was die Kosten des Personalmanagements in die Höhe treibt). Damit wird drittens die ohnehin eingeschränkte Mobilität der Arbeitskräfte zwischen den Unternehmen behindert.

Ganz offensichtlich haben die Unternehmen aber einen steigenden Bedarf an spezialisierten Arbeitskräften, für die sich eine unternehmensinterne Ausbildung nicht lohnt, weil sich die entsprechenden Qualifikationen nicht betriebsintern in der Form der Job-Rotation erwerben lassen, und für die die „lebenslange Beschäftigung" in demselben Unternehmen nicht mit einer Erweiterung, sondern mit einer Einschränkung ihrer Qualifikation verbunden wäre. Hierzu zählen Naturwissenschaftler, etwa Chemiker (die relative Schwäche der chemischen Industrie Japans könnte darauf zurückgeführt werden, daß das japanische Ausbildungssystem nicht in ausreichendem Umfang Spezialisten hervorbringt), bestimmte Sparten von Ingenieuren, Software-Entwickler, Designer, Trader, u.U. auch Personalexperten, Manager usw. Der Unternehmerverband Nikkeiren schätzt, daß der Anteil der „Spezialisten" an den Beschäftigten von derzeit 7% bis zum Jahre 2000 auf 11% steigen wird. Es handelt sich also, im Vergleich zu den betriebsintern ausgebildeten und festangestellten Arbeitnehmern, um eine Minderheit. Um die Knappheit an Spezialisten zu beheben, müßten zum einen die Unternehmen Beschäftigungsverhältnisse anbieten, die nicht an betriebsinterne Ausbildung, lebenslange Firmenzugehörigkeit, Senioritäts-Lohn, betriebliche Sozialleistungen und eine Abfindung bei Ende des Beschäftigungsverhältnisses gebunden sind (Nissan hat in diesem Zusammenhang einen ersten Modellvertrag für Designer entwickelt). Zum andern müßte das Ausbildungssystem in höherem Umfang Spezialisten hervorbringen, die keine Firmenkarriere, sondern einen „Beruf" (bei wechselnder Firmenzugehörigkeit) anstreben. Im Zusammenwirken von Unternehmen und Ausbildungssystem müßte schließlich ein betriebsübergreifender Arbeitsmarkt für Spezialisten, einschließlich der entsprechenden Zertifikations- und Bewertungssysteme, entstehen.

Konkret hieße dies, daß im Ausbildungssystem neben den mainstream-Ausbildungsgängen, die ohne weiterreichende fachliche Qualifikationen auf eine Firmenausbildung vorbereiten, die „zweite Spur" für Spezialisten verbreitert werden müßte. Profitieren würden nicht nur die Unternehmen, sondern auch die staatliche Grundlagenforschung, die erweitert werden soll, aber u.a. unter dem Mangel an Naturwissenschaftlern leidet, die ihre wissenschaftliche Karriere über den Graduiertenabschluß hinaus fortsetzen. Der Ausbau der Spezialisten-Ausbildung dürfte kein unüberwindliches Problem sein, da es in den freien Berufen (Ärzte, Architekten usw.) derartige Ausbildungsgänge natürlich schon seit langem gibt. Das zentrale Problem liegt nicht im Ausbildungssystem selbst, sondern an der Schnittstelle zwischen Ausbildung und Beschäftigung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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