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4. Reduzierung der Normenflut - Sisyphus läßt grüßen

Die Zahl der Vorschriften in Deutschland ist auf Bundesebene auf eine schwer vorstellbare Größenordnung angewachsen: Wir haben es inzwischen auf rund 2.000 Gesetze und 3.000 Verordnungen mit rund 85.000 Einzelvorschriften gebracht; allein im Bereich Steuern/Finanzen existieren rund 5.000 Vorschriften, im Bereich Umwelt sind es rund 3.600. Auch der Bundestag produziert immer mehr Gesetze: Waren es vor 15 Jahren (1983-1987) noch 612, so stieg die Zahl in einer späteren Legislaturperiode (1990-1994) auf 815 Gesetze, und auch in der jetzigen Periode wurden schon 800 neue Gesetze verabschiedet.

Verständlich deshalb, daß sich auch die Bundesregierung vorgenommen hat, den Bestand an Vorschriften zu reduzieren und den Erlaß neuer Vorschriften zu erschweren. So fordert der Sachverständigenrat „Schlanker Staat" eine kritische Überprüfung bestehender Vorschriften, z.B. über die Notwendigkeit von Statistiken. Grundlage für institutionalisierte Bedarfsprüfungen bei neuen Gesetzesvorhaben sind die sogenannten Blauen Prüffragen (ihren Namen verdanken sie dem Umstand, daß sie auf blauem Papier abgedruckt werden), die dem Gesetzgeber bzw. dem zuständigen Ressort folgende zehn Grundfragen zur Beantwortung aufgeben:

  1. Muß überhaupt etwas geschehen?
  2. Welche Alternativen gibt es?
  3. Muß der Bund handeln?
  4. Muß ein Gesetz gemacht werden?
  5. Muß jetzt gehandelt werden?
  6. Ist der Regelungsumfang erforderlich?
  7. Kann die Geltungsdauer beschränkt werden - durch Befristung des Gesetzes?
  8. Ist die Regelung bürgernah und verständlich?
  9. Ist die Regel praktikabel?
  10. Stehen Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis?

Die Einführung dieses Prüfverfahrens per Änderung der Geschäftsordnung der Bundesregierung vom März 1996 hat definitiv nichts bewirkt, um die Normenflut auf Bundesebene zu reduzieren. Auch die Bundesregierung selbst mußte feststellen, daß „die Zahl der Normen dennoch immer weiter gestiegen" ist. Die „Blauen Prüffragen" werden von den Ressorts als Formalie betrachtet oder schlicht ignoriert. Mehr als ein Papiertiger können die Prüffragen auch nicht sein, wenn es im Bereich der Gesetzgebung an einer zentralen Kontrollinstanz für die gesamte Bundesregierung fehlt - angesiedelt z.B. im Kanzleramt -, wie es auch der Sachverständigenrat fordert.

Völlig vergessen wird im Kabinettsbeschluß vom März 1998 die interne Überregulierung durch Verwaltungsvorschriften. Zu deren Abbau gibt es in den Ländern nachahmenswerte Beispiele. So sind z.B. in Hessen Genehmigungsvorbehalte und Einzelfallentscheidungen in Ministerien und Mittelbehörden systematisch überprüft worden. Im Ergebnis konnten ein Drittel solcher Mitwirkungen abgeschafft oder Entscheidungen auf untere Behörden delegiert werden. Ähnliche Bemühungen waren auch in anderen Bundesländern schon von Erfolg gekrönt. Gerade die Verwaltungsvorschriften bieten sich als „hausgemachte" Überregulierung auch auf Bundesebene für einen Abbau von Normen an.

Ein Bollwerk gegen die Gesetzesflut will der Bund im übrigen nach eigenem Bekunden auch in Brüssel errichten. Im Bericht „Schlanker Staat - die nächsten Schritte" (19. März 1998) ist angekündigt, daß sich die Bundesregierung bei der EU-Kommission „für weitere Vereinfachungen des Gemeinschaftsrechts und intensivere Umsetzung" einsetzen will. Tatsache ist, daß nach seriösen Schätzungen rund 60 % aller EU-Vorgaben, die in Deutschland umgesetzt werden müssen und damit bei uns zur Normenflut beitragen, aus Deutschland von dieser Bundesregierung stammen.

So betrachtet, erinnert die Ankündigung an das in der Politik populäre Prinzip „Haltet den Dieb": Einerseits sorgt die deutsche Regierung in Brüssel durch eigene Anträge für eine Erhöhung der Normenflut, andererseits aber verspricht sie den Bürgerinnen und Bürgern, sich für einen Abbau von EU-Vorschriften einzusetzen. Man nennt das auch Doppelstrategie.

Fazit: Trotz mancher Absichtserklärungen der Regierung und trotz der „Blauen Prüffragen" ist es in Deutschland bislang nicht gelungen, die Vorschriftenflut einzudämmen. Im Gegenteil: Immer mehr Vorschriften erzeugen immer mehr Aufgaben für die Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen. Und sie erschweren den Modernisierungsprozeß. Niedersachsen hat über den Bundesrat eine bundesweite Deregulierungsinitiative ins Leben gerufen, die zum Ziel hat, alle Bundes- und EU-Regelungen zusammenzustellen, die „die Länder in ihren Reformbemühungen behindern, nicht mehr zeitgemäße Vorgaben enthalten oder im Übermaß reglementieren". Auf die Ergebnisse dieser Initiative darf man gespannt sein.

Darüber hinaus gibt es auf Bundesebene bislang weder eine umfassende Gesetzesfolgenabschätzung über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen von Gesetzen, wie vom Sachverständigenrat verlangt, noch eine sinnvolle nachträgliche Gesetzesfolgenkontrolle. Darin hinkt Deutschland der internationalen Entwicklung deutlich hinterher: Nach einer OECD-Studie aus dem Jahre 1996 verfügt schon mehr als die Hälfte aller Industrieländer über konkrete Konzepte und Programme zur Gesetzesfolgenabschätzung.

Der erste gravierende Fall, in dem auf Antrag der SPD-Bundestagsfraktion nach vier Jahren (zum 1.1.2002) eine sorgfältige Evaluierung der verfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Folgen vorgenommen werden muß, ist das Gesetz über den akustischen Lauschangriff vom Frühjahr 1998.

Zu hoffen ist, daß dieses Beispiel Schule macht. Immerhin tragen Gesetzesfolgenabschätzungen dazu bei, Mängel und Schwächen von Gesetzen erkennen und beseitigen zu können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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