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[Essentials]

  • In der italienischen Standortdebatte dominiert die Angst vor einer drohenden Kolonisierung durch (tatsächlich aber eher ausbleibende) Auslandsinvestitionen, nicht jedoch die Sorge vor der Abwanderung einheimischer Industrien ins Ausland.
  • Trotz im Vergleich zu Deutschland entgegengesetzter Situationsanalyse sind die Forderungen der Industrie die gleichen wie in der Bundesrepublik: deutlicher Rückzug des Staates, Senkung von Unternehmenssteuern und Lohnnebenkosten, Zurückschneidung des Sozialhaushaltes, flexiblere Arbeitszeiten und Tarifbeziehungen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
  • Auf vielen Feldern - in der Forschungspolitik, der Bildung, der Industriepolitik, ja selbst bei der Verteidigung der Legalität - zeigt sich der Staat jedoch nicht über-, sondern unterpräsent. Diese Unterpräsenz, die Ineffizienz des Staates bei der Eintreibung von Steuern genauso wie bei der Forschungsförderung, erlaubt Sondergewinne durch illegale oder schattenwirtschaftliche Praktiken (Steuerhinterziehung, Niedrigstlöhne, Sozialdumpig) und trägt zum Mißerfolg anderer Branchen bei.
  • Italien hat seine internationale Wettbewerbsposition in den letzten Jahren deutlich verbessert. Entscheidend hierfür waren die Lira-Abwertung, dank derer die stündlichen Arbeitskosten zu den niedrigsten der westlichen Industriestaaten gehören; eine Haushaltspolitik, die nach zwanzigjähriger Schuldenwirtschaft die jährliche Neuverschuldung drastisch reduzierte und eine Politik der sozialen Konzertation, die Lohnschüben vorbeugte und so erst die Abwertung ohne Inflation möglich machte.
  • Profitiert haben kleine und mittlere Betriebe der immer schon erfolgreichen traditionellen Konsumgüter- sowie spezialisierte Ausrüstungsindustrien. Sie praktizieren eine sehr flexible, kundenorientierte Produktpolitik, bringen neue Produktionstechnologien schnell zum Einsatz und verfügen über relativ billige Arbeitskraft und eine sehr flexible Arbeitsorganisation.
  • Viele Betriebe entgehen der staatlichen Abgabenbelastung. Schwarzarbeit oder unkorrekte Rechnungsstellung erlauben die Vermeidung von Lohnnebenkosten und die Hinterziehung von Umsatz- und Ertragssteuern. Das Finanzministerium schätzt, daß knapp 30% der Erträge der verarbeitenden Industrie am Fiskus vorbei erwirtschaftet werden. Allein in der Textil- und Bekleidungsindustrie arbeiten etwa 300-400.000 Beschäftigte in der Schattenwirtschaft - ohne jede Abgabenbelastung, Tariflöhne oder rechtliche Garantien.
  • In den entscheidenden Zukunftsbranchen droht Italien jedoch, den Anschluß zu verlieren. Italien ist unter den G7-Staaten das Land mit den weitaus geringsten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung und gehört mit Griechenland zu den OECD-Ländern, die den geringsten Anteil am BIP für Schulbildung aufwenden. Nur gut 10% eines Geburtsjahrgangs beenden heute die Universität. Zudem fehlt ein umfassendes, staatlich geregeltes System der Berufsausbildung mit allgemein anerkannten Abschlüssen.
  • In F&E- sowie in kapitalintensiven Sektoren konnte Italien seine schwache Position nicht verbessern, bei Patentanmeldungen rangiert es als letztes der G7-Länder noch hinter Kanada, erreicht nur die Hälfte der Anmeldungen Frankreichs, ein Viertel derer Großbritanniens, ein Fünftel derer Deutschlands.


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[Einleitung]

In den letzten Jahren wurde in Italien die Standortdebatte zunächst ungleich weniger intensiv als in Deutschland geführt. Zwar befaßte sich die Öffentlichkeit kontinuierlich mit der zukünftigen internationalen Rolle des Landes, doch unter einem anderen Stichwort: Maastricht. Die Zukunftsperspektiven der italienischen Wirtschaft schienen zuerst und vor allem davon abzuhängen, ob es dem Land gelinge, den Anschluß an Europa zu halten und bei der Gründung des Euro dabeizusein. Folgerichtig galt die Aufmerksamkeit weniger der industriellen Ausstattung des Landes, möglichen Standortvorteilen oder -defiziten - schon für den Begriff "Standort" fehlt ein korrespondierender Terminus im Italienischen -, als der Erreichung der Maastricht-Kriterien, vor allem der Sanierung des Staatshaushaltes.

Doch in den letzten Monaten verschärfte sich auch in Italien die Diskussion über die industrielle Zukunft des Landes im Zeitalter der Globalisierung. Die in der Öffentlichkeit zu hörende Diagnose unterscheidet sich deutlich von den deutschen Krisenszenarien: Nicht so sehr die mögliche Abwanderung italienischer Unternehmen ins Ausland wird als Drohung gesehen, sondern die Gefahr, daß das "System Italien" zum zweitrangigen Akteur ohne weltweit tätige Unternehmen wird, daß andererseits die italienischen Unternehmen zu Opfern der Übernahme durch ausländische Firmen werden - Italien drohe die "Kolonisierung", der "Abstieg in die Zweite Liga", wenn es nicht aus seinem Status als "Klassenletzter" der großen Industrienationen herausfinde.

So unterschiedlich die Diagnose ist, so sehr gleichen sich jedoch die Therapien, die von Unternehmerseite vorgeschlagen werden: Italien bedürfe eines deutlichen Rückzugs des Staates, der Senkung von Unternehmenssteuern und Lohnnebenkosten, der Zurückschneidung des Sozialhaushaltes, flexiblerer Arbeitszeiten und Tarifbeziehungen wie auch der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, um seine Konkurrenzfähigkeit zu wahren. Unterstrichen wird dieses Argument durch den Hinweis auf jene Branchen des "Made in Italy" der Konsumgüterindustrie, die sich durch hohe Exporterfolge auszeichnen: ihr Erfolg sei der Tatsache geschuldet, daß dort eine weit höhere de-facto-Flexibilität herrsche als in anderen Sektoren. Eine Flexibilität, die zwar oft mit der Umgehung der Gesetze erkauft sei, so aber nur den wirtschaftsschädlichen Charakter dieser Gesetze demonstriere.

So richtig der Hinweis auf die Erfolge bestimmter Branchen bei gleichzeitigem Niedergang anderer Sektoren - v.a. der Groß- und der High-Tech-Industrie - ist, so übereilt ist der Schluß, Italiens industrielle Zukunft liege in der Verallgemeinerung von Erfolgsbedingungen, die bei der Produktion traditioneller Konsumgüter wirksam werden, auf die gesamte Industrie. Falsch ist zudem die Unterstellung, das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Italien lasse sich auf die Kurzformel "zuviel Staat" bringen. Auf vielen Feldern - in der Forschungspolitik, der Bildung, der Industriepolitik, ja selbst der Verteidigung der Legalität - zeigt sich der Staat nicht über-, sondern unterpräsent. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Unterpräsenz, die Ineffizienz des Staates bei der Eintreibung von Steuern genauso wie bei der Forschungsförderung, nicht zugleich den Erfolg bestimmter Industrien ebenso befördert, wie sie zum Mißerfolg anderer Branchen beiträgt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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