FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Der Einfluß der „Asienkrise" auf Wirtschaftswachstum,
Reformprogramm und Investitionsbedingungen




Page Top

Industrieproduktion, Sozialprodukt und Einzelhandel

Neben den jüngsten Flutkatastrophen, die alleine etwa 1 Prozent BSP-Wachstum kosten dürften, hat die „Asienkrise" negative Auswirkungen auf das Wachstum der Industrieproduktion und des Sozialprodukts Chinas. Darüber hinaus wird es auch zu einer Verlangsamung des Reformprozesses kommen, zum einen, weil dieser nur durch Wirtschaftswachstum finanziert werden kann, zum anderen, weil die Regierung und lokale Behörden gegenwärtig vor allem damit befaßt sind, die negativen Folgen der „Asienkrise" und der nachlassenden Inlandsnachfrage abzuwehren. Hierzu gehören spezifische Exportförderungsmaßnahmen sowie großvolumige Investitionsprojekte im Infrastrukturbereich (vor allem Verkehr und Telekommunikation) und im Wohnungsbau (zur Förderung privaten Eigentums).

Daß diese Maßnahmen inzwischen – mit einiger Verzögerung – Wirkung zeigen, drückt sich in den jüngsten – überraschend guten – Daten


Abbildung 3: Reales Wachstum von BSP und Industrieproduktion in China 1997/98 (in Prozent)




zur Industrieproduktion aus. Diese lag im September um 10,8 Prozent über der des Vorjahres und um 2,3 Prozent über der des Vormonats. Damit stieg die Industrieproduktion Chinas gegenüber der Vorjahresperiode in den ersten neun Monaten 1998 um 8 Prozent. Regional war das Wachstum breit gestreut. Die chinesische Regierung ist zuversichtlich, daß sich diese Entwicklung im 4. Quartal noch beschleunigen wird.

Viele Beobachter bezweifeln, daß China 1998 das angestrebte Wachstumsziel von 8 Prozent erreichen kann, nachdem für das erste Halbjahr „nur" 7 Prozent errechnet wurden. Immerhin sprechen die Anzeichen dafür, daß der Wachstumspfad wieder steiler geworden ist – und dies trotz des wahrlich nicht günstigen Umfeldes.

Die chinesische Regierung ist bemüht, diesen Trend auch weiterhin zu stärken. So plant sie, in den nächsten drei Jahren nicht weniger als 1,2 Billionen US-$ für Infrastruktur- und Bauprojekte auszugeben. Die Finanzierung dieses Programms dürfte allerdings noch nicht gesichert sein. Auf diese Weise soll ausreichend Inlandsnachfrage erzeugt werden, um die mangelnde Nachfrage auf den Exportmärkten zu kompensieren. Was die Nachfrage der chinesischen Verbraucher nach Konsumgütern betrifft, ist der Trend noch unklar. Im August wuchs der Einzelhandelsumsatz gegenüber dem Vorjahresmonat um 9,3 Prozent und bewegte sich damit auf dem Niveau der Vormonate. Da jedoch die Einzelhandelspreise weiterhin nachgeben – sie fielen kontinuierlich in den letzten elf Monaten –, ist erkennbar, daß bei der für chinesische Verhältnisse relativ schwachen Nachfrageentwicklung in der Produktion weiterhin erhebliche Überkapazitäten bestehen.

Page Top

Die Reform des Staatssektors am Beispiel der Textilindustrie

Überkapazitäten sind vor allem in den industriellen Staatsbetrieben zu beobachten. Die Bewältigung der zugrunde liegenden Strukturprobleme ist Teil des Reformprogramms der Regierung. Immer noch geht man nur zögerlich an diese enorme Aufgabe heran, auch wenn Ministerpräsident Zhu Rongji in Aussicht gestellt hatte, die Reform des Staatssektors innerhalb von drei Jahren abzuschließen. Dieses Ziel ist auch unter optimalen Bedingungen völlig utopisch. Die in Zentral- und Osteuropa gesammelten Erfahrungen zeigen dies. Aufgrund der Größe des chinesischen Staatssektors wie der strukturellen sozio-ökonomischen und kulturellen Faktoren wird ein solches Reformwerk Jahrzehnte in Anspruch nehmen, auch wenn energisch daran gearbeitet wird. Die „Asienkrise" wird, wie schon gesagt, den Reformprozeß sicherlich für einige Zeit verlangsamen.

Zhu Rongji hat nicht zufällig neben dem staatlichen Bankensektor die Textilindustrie als ersten und dringlichsten Reformkandidaten bestimmt. Die chinesische Textil- und Bekleidungsindustrie war auch 1997 Exportmotor und wichtigster Devisenbringer. Diese Rolle wird dem Industriezweig auch für die nächsten Jahre zugedacht. Gleichzeitig jedoch kumulieren sich in der Branche, die immer noch weitgehend in staatlicher oder „öffentlicher" Hand ist, die Probleme des industriellen Staatssektors wie in kaum einem anderen Bereich. Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist innerhalb des staatlichen Sektors nach Produktionswert und Beschäftigung nicht nur der größte, sondern auch der am höchsten verschuldete Industriezweig, der (trotz der hohen Deviseneinnahmen) die höchsten Verluste erwirtschaftet und den größten Rationalisierungs- und Modernisierungsbedarf aufweist. Die in der Reform der Textilindustrie gesammelten Erfahrungen sollen auch auf andere Industriezweige übertragen werden.

Manche Beobachter sprechen von einer Quadratur des Kreises: Einerseits würde eine forcierte Reform zu enormen wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Umbrüchen und zur Schließung von vermutlich Hunderten von Unternehmen führen. Andererseits soll auch in dieser Phase die (wenn auch auf sehr kostspielige Weise erhaltene) Fähigkeit der chinesischen Textil- und Bekleidungsindustrie, Exporterlöse und damit die dringend benötigten Deviseneinnahmen zu erwirtschaften, nicht wesentlich beeinträchtigt werden.

Wie will man dies erreichen? Den Plänen der chinesischen Regierung zufolge soll mit den schlimmsten Verlustbringern mit den größten Belegschaftszahlen begonnen werden. Sie sollen entweder geschlossen oder innerhalb von drei Jahren in profitable Unternehmen umgewandelt werden. Im Jahre 2001 sollen allein im Textil- und Bekleidungssektor 1,2 Millionen Arbeitsplätze abgebaut und in der Baumwollindustrie mehr als 10 Millionen Spindeln aus dem Verkehr gezogen worden sein. Gegenwärtig werden 41,71 Millionen Spindeln eingesetzt. Zhu Rongji sieht hier enorme Überkapazitäten.

Ende 1997 gab es Berechnungen des State Statistical Bureau zufolge in China 4.031 Textilunternehmen im Besitz der Provinzregierungen und des Zentralstaats. Hinzu kommen Zehntausende von Textilunternehmen, die nicht als „staatlich" bezeichnet werden, jedoch als „Kollektivbetriebe" nachgeordneten Gebietskörperschaften wie Städten, Stadtbezirken oder Dörfern „gehören" und insofern als „öffentlich" bezeichnet werden müssen. Ende 1997 umfaßte allein die Bekleidungsindustrie über 40.000 Unternehmen, knapp 80 Prozent davon Staats- oder Kollektivunternehmen. Der Rest umfaßt Joint Ventures mit ausländischer Kapitalbeteiligung sowie eine relativ geringe Zahl rein chinesischer Unternehmen, die im westlichen Sinne als „privat" bezeichnet werden können. Allein die erwähnten 4.031 staatlichen Textilbetriebe beschäftigen über 4 Millionen Arbeitskräfte, etwa 10 Prozent des industriellen Staatssektors insgesamt. 17,5 Prozent der staatlichen Textilunternehmen werden als Großunternehmen eingestuft, 19,2 Prozent als mittelgroße Unternehmen. In einem ersten Anlauf zur Bekämpfung der Verschuldung im Textil- und Bekleidungssektor wurden von der Zentralregierung 9,73 Milliarden RMB (ca. 2,16 Milliarden DM) bereitgestellt, um die Bankschulden von 555 staatlichen Textilunternehmen zu decken. Der Bericht des China National Textile Council für 1997 weist aus, daß 1997 das vierte Jahr in Folge war, in dem der Industriezweig zusammengenommen Verluste aufwies.

Der China National Textile Council plant, 1999 4,8 Millionen Spindeln auszumustern. Begonnen werden soll in Küstenregionen. Die chinesische Textil- und Bekleidungsindustrie hat in den letzten 20 Jahren Exporterlöse von 280 Milliarden US-$ erwirtschaftet. Mit Beginn der 90er Jahre jedoch wurden speziell im „low-end"-Produktbereich zunehmend Überkapazitäten aufgebaut, die dafür verantwortlich sind, daß es heute in China 12,66 Millionen veraltete Spindeln gibt, von denen 85 Prozent in Staatsunternehmen eingesetzt werden.

Mit Entlassungen soll 1998 begonnen werden, in einer Größenordnung von 600.000 Arbeitskräften. Die für 1997 aufgelaufenen Verluste von 6,5 Mrd. RMB sollen noch 1998 auf 5 Mrd. RMB reduziert werden. Allein dieses Ziel dürfte kaum zu erreichen sein, geschweige der geplante völlige Verlustabbau 1999–2000. Immerhin bedeuten Verluste von 6,5 Mrd. 1997 die Umkehrung eines Trends: Seit 1994 hatten die Verluste ständig zugenommen und 1996 ein Volumen von 8,3 Mrd. RMB erreicht.

Bereits die Restrukturierung und Reform einer einzelnen Industriebranche des chinesischen Staatssektors ist ein Mammut-Unterfangen, für das alle verfügbaren Kräfte mobilisiert werden müssen und das dennoch nur auf längere Sicht erfolgreich abgeschlossen werden kann. Die bisher eingeleiteten Maßnahmen im Industriesektor vermitteln einen guten Eindruck nicht nur der Entschlossenheit der chinesischen Regierung, dieses Projekt anzupacken. Sie zeigen auch die Dimensionen an, die hier zur Diskussion stehen, und verdeutlichen, daß der Erfolg in diesem Reformabschnitt von vielen Faktoren abhängt. Die „Asienkrise" ist nur einer davon.

Page Top

Transformationskrise ja, aber das bisher Erreichte kann sich sehen lassen

China hat – unabhängig von den Auswirkungen der „Asienkrise" – eine Vielzahl von tiefgehenden Entwicklungs- und Transformationsproblemen zu bewältigen – und schiebt diese teilweise auch seit Jahren vor sich her. Die erforderliche „Reform" des Staatssektors (ein Euphemismus), und hier nicht nur des industriellen Bereichs, steht an der Spitze. Weil sowohl ein derartiger Umbau wirtschaftlich-sozialer Strukturen als auch seine Verzögerung unvermeidlich auch Krisenerscheinungen hervorruft, kann man von einer Transformationskrise sprechen.

Im Chinageschäft tätige ausländische Geschäftsleute kennen diese Krisenerscheinungen. Entsprechend wird auch nicht überall der Anspruch Chinas akzeptiert, gerade auch im Kontrast zu den anderen Ländern der Region günstige Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen anzubieten. Untersucht man jedoch die wichtigsten Faktoren, die ein Land wie China für ausländische Direktinvestoren attraktiv machen, so gelangt man doch zu einem im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern günstigen Bild. China hat manches erreicht. Eine soeben publizierte Weltbankuntersuchung stellt fest:

  • Gemessen an den üblichen Indikatoren bietet China ein Ausmaß an politischer und wirtschaftlicher Stabilität, das ausreicht, um auf einigermaßen sicherem Boden Geschäftsentscheidungen treffen zu können;
  • Die chinesische Regierung ist grundsätzlich und zunehmend darum bemüht, die Geschäftstätigkeit der Unternehmen zu erleichtern;
  • Auch wenn es noch sehr viel zu verbessern gibt, verfügt doch China bereits über ein (gemessen an Mindeststandards) brauchbares und vergleichsweise stabiles Rechtssystem, das dem Schutz von Eigentum und Personen sowie der Durchsetzbarkeit von Verträgen förderlich ist;
  • China bietet relativ gute Bedingungen für Exporte im Sinne (a) politischer Einzelmaßnahmen, rechtlicher Rahmenbedingungen und Vorschriften, (b) ökonomischer Eckdaten (z.B. Wechselkurse) und (c) der physischen Infrastruktur;
  • Die oben genannten vier Faktorenbündel sind für alle Unternehmen durch Gesetz und prinzipiell und automatisch gültig, auch wenn im Einzelfall lokale Behörden Schwierigkeiten bereiten können;
  • Zulieferer für Industrieprodukte und Dienstleistungen, qualifizierbare (nicht unbedingt bereits ausgebildete) Arbeitskräfte, eine physische Basisinfrastruktur und auch wissenschaftliche Hilfseinrichtungen wie Forschungslabors entwickeln sich rasch, wenn auch regional unterschiedlich.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

Previous Page TOC Next Page