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2. Wahlrecht und Wahlen

Die 1994 verabschiedete Veränderung des Wahlrechts hatte zum Ziel, die Rivalität der Parlamentskandidaten um die Wählergunst mit Wahlgeschenken durch die Konkurrenz mit unterschiedlichen politischen Optionen zu ersetzen. Kennzeichen des alten Systems war die Vertretung der Wahlkreise durch mehrere, im Durchschnitt fünf Abgeordnete. Die LDP mußte in den meisten Wahlkreisen mehrere Kandidaten aufstellen, die dann mangels programmatischer Differenzen ihre Wähler mit materiellen Versprechen an sich banden. Ein Kandidat konnte mit 15% der Stimmen ein Mandat erringen. Unter diesen Bedingungen war es rational, nicht den Durchschnittswähler anzusprechen, sondern dauerhafte Beziehungen zu quantitativ begrenzten, aber stabilen lokalen oder sektoralen Interessengruppen aufzubauen. Die "Pflege" eines Wahlkreises und die Gewährung von Wahlgeschenken waren zwangsläufig mit Kosten verbunden, die die legalen Einnahmen jedes Abgeordneten bei weitem überstiegen. Der Zwang zur semi- oder illegalen Beschaffung von Wahlkampfmitteln war dem System eingebaut. Korruption und eine ununterbrochene Kette von Skandalen waren die Folge.

Das neue Wahlrecht ersetzt die Mehrfachvertretung der Wahlkreise durch das einfache Mehrheitswahlrecht, bei dem der Kandidat nicht 15, sondern im Prinzip (d.h. bei vereinigter Opposition) 51% der Wähler ansprechen muß. Wenn er aber den Durchschnittswähler ansprechen will, kann er sich nicht mehr - so das Argument der Reformer - mit der Bedienung partikularer Interessen begnügen, er muß Fragen aufgreifen, die im Interesse aller liegen. Statt die Umverteilung privater muß er die Beförderung öffentlicher Güter versprechen. Gleichzeitig zwingt die einfache Mehrheitswahl die Opposition zum Zusammenschluß. In der Tendenz sollte sich neben der LDP eine zweite große Partei herausbilden, die eine ideologisch-programmatische Alternative anbot. Die zusätzliche Einführung von 200 Mandaten, die nach dem Verhältniswahlrecht besetzt werden, steht im Widerspruch zu dieser Zielsetzung, da die Proportionalregel das Überleben auch der kleineren Parteien ermöglicht. Allerdings wird deren Gewicht im Vergleich zum alten System verringert. War in den mehrfach vertretenen Wahlkreisen garantiert, daß Kandidaten der Opposition an zweiter, dritter oder vierter Stelle ins Unterhaus einziehen konnten, haben kleinere Oppositionsparteien heute im Grunde nur noch die Möglichkeit, ihre Vertreter über die Regionallisten ins Parlament zu bringen.

Die beiden wichtigsten Ziele der Wahlrechtsreform - die Herausbildung zweier großer Parteien und ein Wahlkampf um Programme und Optionen - sind, soweit die ersten Wahlen unter dem neuen Wahlrecht zeigen, nicht erreicht worden. Ein Wahlkampf um Programme und Optionen fand nicht statt, und anstelle des angestrebten Zweiparteiensystems gleicht die heutige Konstellation auffällig der Situation vor 1993: Einer starken LDP steht eine Reihe kleinerer Oppositionsparteien gegenüber, die das Wahlrecht de facto (es sei denn als kleinerer Koalitionspartner der LDP) von der Regierungsverantwortung ausschließt. Diese Verhältnisse sind jedoch nicht dem Wahlrecht anzulasten, dessen Wirksamkeit als Hebel politischer Strukturveränderungen überschätzt wurde, sondern der Tatsache, daß die Akteure, von der LDP abgesehen, ihr Handeln noch nicht den neuen rechtlichen Rahmenbedingungen angepaßt haben.

Die für die Zukunft relevante Frage lautet: Besteht eine Chance, daß sich die "zentristischen" Parteien, d.h. Shinshinto und Minshuto, zu einer einheitlichen Kraft zusammenschließen und bei den nächsten Unterhauswahlen mit einem Alternativprogramm antreten?


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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