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TEILDOKUMENT:
7. Ein neues Leitbild für den Staat Seit langem ist allen Beobachtern in Frankreich klar, daß die Behauptung der Wettbewerbsfähigkeit gerade auch eine Erneuerung der Strukturen und Interventionsformen von Staat und Verwaltung erfordert. Die Ablösung des tradierten jakobinisch-zentralistischen Staatsmodell und die Suche nach einem neuen Leitbild für den Staat ist unter dem Einfluß der Europäisierung, Globalisierung, aber auch der 1982 begonnenen Dezentralisierung in vollem Gange. Sie stößt aber auf zahlreiche Widerstände und Probleme. Infolge der Dezentralisierung haben die Gebietskörperschaften (Regionen, Departements, Kommunen) einen Kompetenz- und Ressourcentransfer erfahren und ihre Rolle als wirtschaftspolitische Akteure festigen können. Insofern liegt hier ein Ansatzpunkt für eine bürger- und basisnahe Politik wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, gerade auch in Hinblick auf kleine und mittlere Unternehmen; bislang brachliegende Potentiale eigenständiger regionaler Wirtschaftsentwicklung können sich entfalten. Dem steht allerdings gegenüber, daß die zentralistische Modernisierungspolitik seit 1945 vielfach die vorhandenen regionalen Wirtschaftsstrukturen zerschlagen bzw. auf Paris ausgerichtet hat. Eine Politik regionaler Entwicklung benötigt überdies Zeit - und Ressourcen. Nur wenige größere Regionen verfügen darüber. Dies verweist auf generelle, ungelöste Probleme der Dezentralisierung: ungeklärte Kompetenzverteilungen zwischen Staat und Gebietskörperschaften, aber auch zwischen den teilweise konkurrierenden Ebenen der Gebietskörperschaften; eine zu große Zahl der Gebietskörperschaften, die häufig nicht die kritische Größe erreichen, um ihre Kompetenzen wirklich zu einer eigenständigen Strategie nutzen zu können; eine weiterhin vielfach spürbare Allpräsenz des Zentralstaates; eine ungenügende Anpassung der zentralistischen, immer noch auf Paris konzentrierten Verwaltungsstruktur an die Veränderungen. Die für Frankreich neue Erfahrung der Politikverflechtung mit konkurrierenden Kompetenzen, gemischten Finanzierungen und entsprechenden Koordinierungsproblemen führt im übrigen zu widersprüchlichen Reaktionen, die zwischen dem Ruf nach Rückkehr zum starken Zentralstaat (als Garant des nationalen Zusammenhalts und der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse) und der Forderung nach weitergehenden Rechten der Gebietskörperschaften schwanken. Dennoch: bei aller Widersprüchlichkeit ist hier ein Prozeß der Veränderung in Gang gesetzt worden, der langsam aber sicher zu einem Umbau der Konturen des Staates beiträgt. Auf einem zweiten Feld haben sich weitreichende Veränderungen der Rolle des Staates ergeben. Mit der 1986 eingeleiteten, noch andauernden Privatisierungspolitik wird nicht nur die Nationalisierungspolitik der Linksregierung von 1981-82 rückgängig gemacht; darüber hinaus wird auch der schon nach 1945 bestehende umfangreiche nationalisierte Sektor stark reduziert, der ein wesentlicher Pfeiler des interventionistischen, colbertistischen Modernisierungsweges Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg war. In den siebziger und Anfang der achtziger Jahre Gegenstand erbitterter ideologischer Debatten, ist der Grundsatz einer Privatisierung aller Unternehmen des Wettbewerbssektors heute nur noch wenig umstritten, wenngleich die oppositionellen Sozialisten gegenwärtig andere Töne anschlagen. Auch die Sozialisten haben aus ihrer Regierungserfahrung heraus das Scheitern der voluntaristischen Illusion anerkannt, staatliche Unternehmen im Konkurrenzsektor könnten Strukturwandel und Anpassungsprobleme besser lösen als private. Damit ist der Blick frei geworden für die eigentlichen Probleme der großen Unternehmensgruppen Frankreichs (Unterkapita-lisierung; Entscheidungsstrukturen; Managementkultur; vgl. oben 6.), deren Lösung unabhängig von der Eigentumsstruktur die Zukunft der französischen Wirtschaft mitbestimmen wird. Deutlich geworden ist auch, daß der Privatisierungsprozeß langwierig ist, weil die heute noch verbliebenen nationalisierten Unternehmen teilweise erst mit staatlicher Hilfe ihre Strukturprobleme lösen, aus den roten Zahlen herauskommen und so attraktiv für potentielle Anleger gemacht werden müssen. Schließlich bleiben die Bindungen an den Staat infolge vielerlei Einflußkanäle jedenfalls teilweise und auf absehbare Zeit noch erhalten. Unter anderem nahm der Staat weitgehenden Einfluß auf die Zusammensetzung der stabilen Aktionärskerne der privatisierten Unternehmen; auch der ungebrochen wirksame Rekrutierungsmodus der Führungskräfte über die "Grandes écoles" sorgt weiterhin für Nähe zwischen den führenden Staats- und Wirtschaftseliten. Die im Bereich öffentlicher Dienste und Grundversorgung tätigen staatlichen Unternehmen schließlich müssen sich gegenwärtig wie in den übrigen EU-Staaten auf die einschlägigen Binnenmarktsregeln einstellen, die eine Marktöffnung verlangen. Entsprechende Neuregelungen und Reformen im Bereich der Telekommunikation und der Eisenbahn sind im Frühsommer 1996 auch in Frankreich eingeleitet worden; die Post und die Energieversorgung werden folgen. Diese Reformen sind auf heftige politische und gewerkschaftliche Gegenwehr gestoßen. Über Einzelfragen der Absicherung bzw. des künftigen Status der Beschäftigten hinaus hat sich dabei eine Ablehnungsfront unter dem Slogan der Verteidung des "öffentlichen Dienstes à la française" gegen Brüsseler "Liberalismus" formiert. Dies auch deshalb, weil auch der "Service public" und seine wichtigsten Unternehmen bzw. Behörden (EDF-GDF, SNCF, France-Télécom) zu den zentralen, leistungsfähigsten Pfeilern des französischen Modernisierungsweges nach 1945 zählten. Die massiven Streiks Ende 1995 im öffentlichen Dienst waren im übrigen auch von Ängsten und Widerständen gegenüber der Marktöffnung und "Privatisierung" öffentlicher Dienstleistungen geprägt. Demgegenüber hat die Regierung den Versuch unternommen, eine dem technologischen Wandel und den neuen europäischen Regeln angepaßte Doktrin des öffentlichen Dienstes zu entwerfen, die zwischen dem status quo und einer ungehemmten Deregulierung einen für alle Beteiligten tragbaren Mittelweg weisen soll. Insbesondere soll die Unterscheidung zwischem dem Prinzip öffentlicher Dienstleistungen (an dem festgehalten wird) und den konkreten Organisationsformen (die in Richtung Marktöffnung für private Anbieter verändert werden können) die Debatte politisch entschärfen. Tabelle 1: Wichtigste Wirtschaftsdaten
Zahlen für 1995 sind Schätzungen, für 1996 Vorausschätzungen Anmerkungen: 1 Wachstum des realen BIP 2 Preisdeflator des privaten Verbrauchs 3 Eurostat-Definition 4 Gesamtstaat; in % des BIP 5 in % des BIP Quelle: Europäische Wirtschaft, Beiheft A, Nr.5/6, Mai-Juni 1996, S.2 Tabelle 2: Lohnkosten je Arbeitsstunde in der Industrie 1992, 1995 (in Francs; Index: Frankreich = 100)
Quelle: Eurostat (1992) Schätzungen des Instituts Rexecode (Paris); nach CNPF Abbildung 1: Arbeitslosenquoten in den großen EU-Staaten 1971-95 (in%)
Quelle: OFCE: L'Economie française 1996, Paris 1996, S.114. Abbildung 2: Französischer Außenhandelssaldo 1987-1995 (in Mrd. Francs, auf Monatsbasis)
Quelle: OFCE: L'Economie française 1996, Paris 1996, S.31 Außenhandelssaldo der Industriegruppen 1990-195 (in Mrd. Francs, saisonbereinigt, auf Monatsbasis)
Erläuterungen: Equipement professionnel: Investitionsgüter, Transport: Fahrzeuge Biens intermédiaires: Zwischenprodukte, Equipement ménager: langlebige Haushaltskonsumgüter, Consommation courante: Konsumgüter Quelle: OFCE: L'Economie française 1996, Paris 1996, S.34 Abbildung 3: Inflationsraten in Frankreich und Deutschland 1973-95 (jährliche Entwicklung der Verbraucherpreise in %)
Quelle: OFCE: L'Economie française 1996, Paris 1996, S.40. Abbildung 4: Realer Austauschwert des Franc und Außenhandelssaldo 1979-1995
Erläuterungen: Taux de change effectif réel: realer Austauschwert des Franc; entspricht der Wechselkursentwicklung, korrigiert durch die Entwicklung der relativen Preise, Frankreichs gegenüber seinen Handelspartnern. Solde extérieur des biens et services: Handels- und Dienstleistungssaldo (in 1000 Francs) Quelle: Jean Malsot/Hervé Passeron: Compétitivité et stratégies françaises. Paris: Economica 1996, S.20. Abbildung 5: Entwicklung der Gewinnquoten der Unternehmen 1970-94 (Anteil der Bruttogewinne an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung)
Quelle: OFCE: L'Economie française 1996, Paris 1996, S.27. Abbildung 6: Investitionsquoten in der Industrie in Frankreich und Deutschland 1970-1994
Quelle: Jean Malsot/Hervé Passeron: Compétitivité et stratégies françaises. Paris: Economica 1996, S.13 Abbildung 7: Direktinvestitionsflüsse zwischen Frankreich und dem Ausland 1980-1995 (in Mrd. Francs) A) FRANZÖSISCHE AUSLANDSINVESTITIONEN
B) AUSLÄNDISCHE DIREKTINVESTITIONEN IN FRANKREICH
C) NETTOSALDEN A/B
Erläuterungen: die fetten Kurven stellen die jeweiligen Nettoinvestitionsflüsse dar, dargestellt als Saldo zwischen Bruttoinvestitionen und Rückflüssen. Quelle: Bulletin de la Banque de France, Nr. 29/Mai 1996, S.10 © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999 |