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1. Frankreichs Wirtschaft im Umbruch: das Ende des Colbertismus

Im Unterschied zu Deutschland stellt die Frage der Wettbewerbsfähigkeit in Frankreich seit mindestens zwei Jahrzehnten ein zentrales wirtschaftspolitisches Problem dar. Nachdem Frankreich ab 1945 in einem energischen Aufholprozeß eine umfassende, beschleunigte Modernisierung der Wirtschaft unter weitgehend protektionistischem Vorzeichen inganggesetzt hatte, geriet diese in den sechziger Jahren im Zuge der schrittweisen Verwirklichung der EWG-Zollunion erstmals unter den Druck der europäischen, später auch der weltweiten Konkurrenz. Die weltweite Krise nach dem ersten Ölschock 1974 legte die Schwächen der unvollständig modernisierten französischen Produktionsstruktur schonungslos offen. Die ohnehin prekäre Handelsbilanz (seit 1948 bis heute konnte Frankreich nur in acht Jahren einen Exportüberschuß zu verzeichnen) rutschte tief in die roten Zahlen. Seither wird die französische Wirtschaftspolitik beherrscht von einer doppelten Herausforderung, die in zahllosen Varianten bis heute thematisiert wird: Zum einen geht es um die Frage nach der Vereinbarkeit der Ziele der französischen Wirtschaftspolitik mit den Anpassungszwängen, die von der europäischen und internationalen Wirtschaftsverflechtung ausgehen. Zum anderen geht es um die Notwendigkeit, die französische Wettbewerbsfähigkeit grundlegend zu verbessern, um der wachsenden internationalen Konkurrenz standhalten zu können.

In dieser doppelten Herausforderung liegt auch die Wurzel für die bis heute eigentümlich ambivalente Haltung Frankreichs und seiner führenden Politiker zu Fragen der außenwirtschaftlichen Verflechtung, zur Globalisierung, aber auch zur europäischen Integration: Die Öffnung der Wirtschaft für den europäischen bzw. für den Weltmarkt wird als unausweichlich anerkannt, die damit verbundenen Anpassungszwänge werden als letztlich positive Entwicklung bejaht. Andererseits wird versucht, die Logik europäischer bzw. internationaler Marktintegration durch eine Politik nationaler bzw. (seit den achtziger Jahren zunehmend) europäischer politischer Regulierung einzugrenzen.

Jüngstes Beispiel für diese Ambivalenz ist der Versuch Präsident Chiracs auf dem G7-Gipfel in Lyon im Juli 1996, der Globalisierung und ihrer zugrundeliegenden liberal-freihändlerischen Logik eine politisch-soziale Logik der Bewahrung des nationalen und sozialen Zusammenhalts entgegenzusetzen. Auch der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Jean Arthuis hat sich noch vor kurzer Zeit durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Delokalisierung französischer Produktionsstätten in Niedriglohnländer hervorgetan.

Hinter dieser Ambivalenz stehen zwei grundsätzlich unterschiedliche, in der politischen Debatte präsente Ansätze, mit der europäischen und internationalen Wirtschaftsverflechtung umzugehen.

- Der neomerkantilistische Ansatz betont gegenüber den Phänomenen der Internationalisierung das Ziel der Bewahrung der nationalen Kohärenz und Eigenständigkeit: Kohärenz der nationalen Produktionsstruktur, nationaler bzw. sozialer Zusammenhalt, Primat der Politik (d.h. des sich im Nationalstaat ausdrückenden demokratischen Volkswillens), Primat des Nationalstaates gegenüber den Ansprüchen europäischer Integration. Diese Denkrichtung hat vor allem die Ära de Gaulle/Pompidou 1958-74 und die ersten Jahre der Ära Mitterrand geprägt. Auch wenn sie an politischem Gewicht verloren hat, wird sie heute weiterhin von einem starken Flügel der regierenden gaullistischen Partei RPR vertreten und verschafft sich regelmäßig eine erhebliche Präsenz in den Medien. Varianten dieses Ansatzes finden sich aber auch auf der Linken (Kommunisten; eine Minderheit der Sozialisten um Jean-Pierre Chevènement).

- Der euro-liberale Ansatz legt den Akzent auf die weltweite Einbindung der französischen Wirtschaft (und die Einbindung Frankreichs in das Regelwerk der Europäischen Union) und die davon ausgehenden Anpassungszwänge: internationale Wettbewerbsfähigkeit als oberste Maxime der Wirtschafts- und Sozialpolitik; marktorientierte Strukturanpassung; Bejahung der Einbindung in das Regelwerk des EU-Binnenmarktes, des Europäischen Währungssystems und neuerdings des mit dem Maastricht-Vertrag vorgegebenen Weges zur Europäischen Währungsunion. "Liberal" ist er in dem Sinne, daß er den bisherigen Etatismus konsequent (und in Übereinstimmung mit den Brüsseler Binnenmarktsbestimmungen) in Richtung auf eine mehr marktwirtschaftliche Orientierung überwinden will; die (mehr oder minder intensive) sozialstaatliche Abfederung dieser Politik bleibt davon unberührt. Erster prominenter Vertreter dieses Ansatzes war Präsident Giscard d'Estaing, wenngleich er ihn in der Praxis seiner Amtszeit 1974-81 nicht durchgehalten hat. Danach bestimmte der euro-liberale Ansatz die Wirtschaftspolitik der sozialistischen und bürgerlichen Regierungen seit 1983. Ihre politischen Vertreter finden sich überwiegend in der liberalkonservativen Regierungspartei UDF, teilweise auch im neogaullistischen RPR, sowie in der Sozialistischen Partei.

Beide Ansätze strukturieren noch heute die wirtschaftspolitischen Debatten und Kontroversen. Dabei folgen die Trennlinien nicht etwa dem Rechts-Links-Schema, sondern verlaufen quer zu den politischen Lagern. So wie Kommunisten und ein Teil der Sozialisten in den achtziger Jahren den euroliberalen Kurs der sozialistischen Regierungen scharf abgelehnt hatten, geht in den neunziger Jahren ein Riß durch das bürgerliche Regierungslager. Führende neogaullistische Politiker werden nicht müde, dem gegenwärtigen Regierungskurs der Europa-, Markt- und Stabilitätsorientierung die Forderung nach einer "anderen Politik" entgegenzusetzen.

Diese Auseinandersetzungen müssen vor dem Hintergrund des strukturellen Umbruchs gesehen werden, der die französische Wirtschaft seit gut zehn Jahren erfaßt hat. Noch Anfang der achtziger Jahre konnte man von einem "französischen Modell" sprechen, mit dessen Hilfe das Land seine Nachkriegsmodernisierung vorangetrieben hat und das die Wirtschaftsordnung Frankreichs prägte. Seine Kernelemente waren

- Etatismus: der Zentralstaat beanspruchte im Namen des nationalen Interesses und Gemeinwohls eine Führungsrolle gegenüber der Wirtschaft und setzte diese auch in Form diverser Instrumentarien durch (nationalisierter Wirtschaftssektor, insbesondere starke Präsenz im Kreditsektor mit umfassenden Kreditlenkungsmechanismen);

- Interventionismus: die Wirtschaft war umfassenden staatlichen Reglementierungen, Verordnungen und Kontrollen unterworfen, permanente Eingriffe in das Wirtschaftsleben (z.B. in die Geschäftspolitik der verstaatlichten Banken und Industrieunternehmen) waren die Regel;

- Protektionismus (in abgeschwächter Form): Frankreich griff, bei Anerkennung der EU-Marktöffnung und der Grundsätze des Freihandels, immer wieder zu handelsbeschränkenden Maßnahmen (z.B. die Praxis der "freiwilligen" Marktbegrenzung für japanische Automobile auf 3 Prozent des französischen Binnenmarktes oder die permanenten Forderungen nach einer effektiven, auch Sanktionsinstrumente umfassenden EU-Außenhandelspolitik);

- Produktivismus: das Wirtschaftswachstum erhielt deutliche Priorität unter den Zielen der Wirtschaftspolitik (Primat der Wachstums- vor der Stabilitätspolitik), ebenso wie der Focus der Politik stärker auf die (industrielle) Produktion, ihre Rationalisierung und ihre technologische Modernisierung als auf die Frage ihrer Vermarktung gerichtet war;

- Colbertismus: die nachdrückliche Förderung der nationalen Produktionsstruktur durch sektorale Industriepolitik stellte ein aus französischer Sicht unentbehrliches Pendant zur europäischen Marktintegration dar (interventionistische Industriepolitik mit staatlichen Sektoren-Entwicklungsplänen; technologisch-industrielle Großprojekte unter staatlicher Koordinierung, von Elie Cohen treffend als High-Tech-Colbertismus bezeichnet).

Dieses französische Modell hat den grundlegenden, weitgehend erfolgreichen Modernisierungssprung der französischen Wirtschaft und Gesellschaft nach 1945 wesentlich geprägt. Aus seinen unbestreitbaren Erfolgen bezog es lange Zeit seine politische Legitimität. Die Grenzen des etatistisch-colbertistischen Weges wurden indessen spätestens seit den siebziger Jahren immer offenkundiger. Seit der kopernikanischen Wende der französischen Wirtschaftspolitik im Frühjahr 1983, die mit der Hinwendung der Linksregierung unter François Mitterrand zu einem marktwirtschaftlichen Stabilitätskurs vollzogen wurde, hat ein komplexer und widersprüchlicher, aber unumkehrbarer Umbau dieses "französischen Modells" eingesetzt.

- Die umfassende Rolle des Zentralstaates ist durch die Dezentralisierung von 1982 und die Vertiefung der europäischen Marktintegration (EWS; Binnenmarktprogramm 1986-93; Maastricht-Vertrag) erheblich eingeschränkt worden, die Privatisierungspolitik seit 1986 hat den staatlichen Wirtschaftssektor reduziert, die französische Zentralbank hat einen unabhängigen Status bekommen;

- der Interventionismus ist durch eine umfassende, häufig durch das EU-Binnenmarktprogramm induzierte Deregulierungspolitik abgelöst worden, besonders auffällig im seit 1985 liberalisierten Finanzsektor;

- die 1983 eingeleitete Kurswende der makroökonomischen Politik hat die innere und äußere Preisstabilität zur neuen Priorität erklärt und erfolgreich durchgesetzt;

- der industriepolitische Colbertismus hat einer marktorientierten Strukturanpassungskonzeption Platz gemacht; die sektorale Industriepolitik ist einer "horizontalen" Politik der Verbesserung der allgemeinen unternehmerischer Rahmenbedingungen gewichen.

Mit dem weitgehenden Abbau des etatistisch-colbertistischen Wirtschaftsmodells und der Politik inflationären Wachstums hat sich Frankreich den innerhalb der EU und der OECD vorherrschenden wirtschaftspolitischen Grundpositionen angepaßt. Allerdings ist dieser Prozeß nicht bruch- und konfliktlos verlaufen und ist bei weitem nicht abgeschlossen. Wenngleich sich die Gewichte deutlich zugunsten des euro-liberalen Ansatzes verschoben haben, sind die Auseinandersetzungen um die künftige Wirtschaftsordnung und um die Möglichkeiten der französischen Politik in einer hochgradig verflochtenen Wirtschaft nicht abgeschlossen und haben Anfang der neunziger Jahre sogar an Schärfe zugenommen. Dies liegt auch an den widersprüchlichen Ergebnissen, die seit der wirtschaftspolitischen Wende von 1983 zu verzeichnen sind.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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