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[Essentials]

  • Weiterhin besteht in Polen ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die grundsätzlichen Entscheidungen der Systemwende. Über 70% der Bevölkerung sprechen sich für Demokratie, Marktwirtschaft und für eine feste Westorientierung des polnischen Wirtschaftssystems und für eine möglichst rasche Mitgliedschaft in NATO und EU aus.
  • Die zersplitterte Parteienlandschaft vereint auf Regierungsseite das 28 Gruppen umfassende "Bündnis der Linken", SLD, unter klarer Führung der Sozialdemokratie Polens (Nachfolgerin der früheren KP). Partner und Reformbremser in der Koalition ist die ebenfalls aus der früheren kommunistischen Machtstruktur stammende Bauernpartei.
  • Bei den Wahlen 1987 könnte eine ideologisch "rechte", wirtschaftspolitisch jedoch etatistisch und linkspopulistisch agierende Allianz von NSZZ "Solidarnosc" und der Bewegung für den Wiederaufbau Polens des früheren Premiers Olszewski das Bündnis der Linken schlagen. Beide eint ein fundamentalistischer Antikommunismus, das Hochhalten polnischer Werte, Nähe zur Kirche und eine mit fremdenfeindlichen Elementen durchsetzte Scheu vor der Öffnung nach Westen.
  • Die "postkommunistischen" Regierungen setzen im Prinzip auch unter dem Walesa-Nachfolger Kwasniewski als Präsidenten den von den früheren "Solidarnosc"-Regierungen begonnenen liberalen Reform- und Stabilisierungskurs fort. Dabei bemühen sie sich um eine stärkere soziale Abfederung des Reformprozesses mit allerdings zunehmenden Übersteuerungen in Richtung Staatsinterventionismus, Reformverzögerung und Klientelismus.
  • Die überfälligen großen Strukturreformen, Sozialversicherung, Gesundheitswesen, Bildungssystem, Privatisierung und Konsolidierung der defizitären Staatsbetriebe, Bankenreform, Dezentralisierung und Entwicklung der seit Jahren angekündigten neuen "großen" Verfassung kommen nicht in Gang. Allenfalls wird die Reform der Zentralverwaltung noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet.
  • 1995 erreichte Polen (mit Irland) das höchste Wirtschaftswachstum in Europa, auch 1996 werden Wachstumsraten um 5 Prozent erwartet. Der marktwirtschaftliche Erholungsprozeß nach der Wende war in Polen schneller als in allen anderen Ländern der Region. Aber selbst bei einer Wachstumsrate von 5% in Polen und 2% im EU-Durchschnitt wird Polen 17 Jahre benötigen, um die Hälfte des durchschnittlichen EU-Pro-Kopf-Einkommens zu erreichen.


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Überblick

1. Nach dem Rekordjahr 1995, in dem Polen mit Irland das höchste Wirtschaftswachstum Europas erreichte, wird das Land 1996 in einen Pfad langsamerer Entwicklung einbiegen. Die Prognosen bleiben aber auch für die Jahre 1996 und folgende mit Wachstumsraten um 5% vielversprechend.

2. Der wirtschaftliche Erholungsprozeß nach der Anpassungsrezession in Folge der Wende war in Polen schneller als in allen anderen Ländern der Region. Nach Berechnungen der EU hat das polnische BIP pro Kopf schon im Jahre 1995 das Niveau von 1989 leicht überschritten, während Tschechien und Ungarn erst etwa 90% erreichten und Rußland auf ca. 50% des Niveaus von 1989 abfiel.

3. Das Pro-Kopf-Einkommen Polens nach Kaufkraftparität berechnet betrug 1995 etwa 30% (Ungarn 43%, Griechenland 47%, Tschechien 50%, Spanien 77%) des Durchschnitts der EU-Mitgliedsländer. Unter Annahme einer Wachstumsrate von 5% in Polen und 2% im EU-Durchschnitt würde Polen 17 Jahre benötigen, also eine halbe Generation, um die Hälfte des durchschnittlichen EU-Pro-Kopf-Einkommens zu erreichen.

4. Weiterhin besteht in Polen ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die grundsätzlichen Entscheidungen der Systemwende. Mehr als 70% der Bevölkerung sprechen sich für Demokratie, Marktwirtschaft und für eine feste Westorientierung des polnischen Wirtschaftssystems wie auch für eine möglichst rasche Mitgliedschaft in NATO und EU aus.

5. Der nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Symbolfigur der Revolution von 1989, Lech Walesa, im November 1995 zum neuen Staatspräsidenten gewählte Kandidat des "postkommunistischen" Bündnisses der Linken (SLD), Aleksander Kwasniewski, unterstrich die feste Westorientierung der regierenden Formation durch die Wahl seiner ersten Besuchsziele: Bonn, Paris, Brüssel. Kwasniewski, der nach seiner Wahl alle Parteiämter niederlegte und aus seiner Partei austrat, betonte, nach Versöhnung streben und "Präsident aller Polen" werden zu wollen. Daß er sein Ziel erreichen kann, zeigen Umfragen, die ihm mit 66% Zustimmung zu seiner Amtsführung und damit ein gegenüber seinem Amtsvorgänger zweifach höheres Ranking zuschreiben.

6. "Polens Wirtschaft entwickelt sich gut, aber die Politik ist krank". Diese Aussage des SLD-Vizepremiers und Finanzministers Kolodko wurde erneut durch die Wirrungen der sog. Oleksy-Affäre und der folgenden Regierungsumbildung belegt. Auf Initiative des scheidenden Präsidenten Walesa wurde Józef Oleksy, als politisches Schwergewicht geltender Premierminister, von seinem Innenminister mit dem Verdacht früherer Spionagetätigkeit für die Sowjetunion und Rußland konfrontiert. Nach ungeschicktem Agieren legte Oleksy sein Amt im Januar nieder. Sein Nachfolger wurde Wlodzimierz Cimoszewicz im achten Amtswechsel seit der Wende. Im April stellte die Staatsanwaltschaft die Untersuchung des inzwischen zum Vorsitzenden der Sozialdemokratie Polens (SdRP) gewählten Józef Oleksy ein, da keinerlei Verdachtsmomente für eine Anklage gefunden worden seien. Der Fall Oleksy zeigte erneut die Folgen der mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit in Polen. Zugleich verschärfte er die für Polens Entwicklung abträgliche emotionale Polarisierung der politischen Lager.

7. Die Mehrheit der polnischen Gesellschaft bevorzugt Politiker, die sich als überparteilich deklarieren, und sich nicht mit Streitigkeiten, sondern mit "konkreter Arbeit" beschäftigen. Ebenso wie Aleksander Kwasniewski begünstigte dies den früheren Fraktionsvorsitzenden der SLD, den parteiunabhängigen und als eigenwillig geltenden Premierminister Cimoszewicz. Nach viermonatiger Amtszeit scheint seine Regierung jedoch mit Blick auf die Parlamentswahlen im Jahre 1997 eher zu administrieren als zu regieren. Die überfälligen großen Strukturreformen, Sozialversicherung, Gesundheitswesen, Bildungssystem, Privatisierung und Konsolidierung der defizitären Staatsbetriebe, Bankenreform, Dezentralisierung und Entwicklung der seit Jahren angekündigten neuen "großen" Verfassung kommen nicht in Gang, verlangsamen sich oder finden keinen Abschluß. Immerhin gibt es Hoffnung, daß der Reform der Zentralverwaltung noch in dieser Legislaturperiode Erfolg beschieden ist. Durch eine Stärkung der Position des Premierministers, neuen Zuschnitt der Ressorts, flexible Gestaltung der ministerialen Kompetenzbereiche, stärkere Trennung von politischer und administrativer Ebene, Verschlankung der Ministerien u.a.m. soll die Regierungstätigkeit strategischer und effizienter gestaltet werden. In Deutschland würde dies wohl als "Jahrhundertaufgabe" bezeichnet.

8. Die regierende Koalition aus SLD und Bauernpartei wird als "postkommunistisch" bezeichnet. Dieses Adjektiv stellt den Bezug beider Gruppierungen, der das Bündnis der Linken bestimmenden Sozialdemokratie Polens als Rechtsnachfolger der Vereinigten Arbeiterpartei Volkspolens und der Bauernpartei, früher unter dem Namen Vereinigte Bauernallianz jahrzehntelang Teil der kommunistischen Machtstruktur, zur Vergangenheit her. Der Begriff "postkommunistisch" beschreibt aber weder die Außen-, die Wirtschafts- noch die Innenpolitik der Koalition adäquat. Die "postkommunistischen" Regierungen setzen im Prinzip den von den früheren "Solidarnosc"-Regierungen begonnenen liberalen Reform- und Stabilisierungskurs fort. Dabei bemühen sie sich um eine stärkere soziale Abfederung des Reformprozesses mit allerdings zunehmenden Übersteuerungen in Richtung Staatsinterventionismus, Reformverzögerung und Klientelismus. Da Polen ein Transformationsland und keine reife Demokratie mit etablierter Marktwirtschaft ist, entspricht sie damit den Erwartungen eines großen Wählerpotentials, das eine eher egalitäre Verteilung des Wertzuwachses erwartet und jahrzehntelang an den "fürsorglichen Paternalismus" eines ansonsten ungeliebten Staates gewöhnt war.

9. Die programmatischen Orientierungen der beiden Koalitionsparteien sind in den meisten Fragen, auch in den weltanschaulichen, sehr unterschiedlich. Die Bauernpartei spielt die Rolle des Reformbremsers. Sie ist in diesem Verhalten deshalb erfolgreich, da keine der Oppositionsparteien, auch nicht die in vielen Sachpunkten der SLD nahestehende Union der Freiheit, derzeit bereit ist, mit einer "PDS Polens" - der "postkommunistischen" SLD - zu koalieren. Alle parlamentarischen und außerparlamentarischen Parteien des Post-"Solidarnosc"-Lagers wären allerdings zu einer Koalition mit der reformfeindlicheren ehemaligen Block-Partei PSL bereit. Dies blockiert wiederum die reformfreundlicheren Teile in der SLD.

10. Beim derzeitigen Umfragenstand könnte eine Allianz von NSZZ "Solidarnosc" und der Bewegung für den Wiederaufbau Polens des früheren Premierministers Jan Olszewski das Bündnis der Linken in Parlamentswahlen schlagen. Beide vereint ein deklariert fundamentalistischer Antikommunismus, das Hochhalten polnischer Werte, Nähe zur Kir-che und eine mit fremdenfeindlichen Elementen durchsetzte Scheu vor der Öffnung nach Westen. Sie gelten in diesem Sinne als rechte Bewegungen, ihre Wirtschaftsvorstellungen sind jedoch etatistisch und linkspopulistisch. Um im Falle eines Wahlsieges im Jahre 1997 eine parlamentarische Mehrheit zu erringen, bedürften sie der Allianz mit der PSL, die zwar nicht wie "Solidarnosc" die ineffizienten Staatsbetriebe, aber als Klientelpartei die obsolete Landwirtschaftsstruktur bewahren möchte.

11. Da eine "Reformkoalition" zwischen Union der Freiheit, die im politischen Spektrum etwa die Mitte darstellt, und der SLD nicht absehbar, die Regierungsverantwortung einer Rechtskoalition ohne UW, auch unter Beteiligung von Walesa, unter Reformgesichtspunkten nicht wünschbar ist, scheint die derzeitige Regierungskoalition das "kleinere Übel" zu sein. Ein großer Teil der Polen erinnert sich noch an die Schmerzen des radikalen Anpassungsprozesses nach der Wende. Kleinere Schritte, freundliche Vernachlässigung, auch gelegentliches Zurückweichen, also business as usual, scheint daher risikoloser. Die Bevölkerung wird nicht rebellieren, nur weil ihre Lebenssituation sich weniger rasch verbessert. Dies und die Risiken der zunehmenden Klientel- und Patronagewirtschaft bergen die Gefahr, daß der polnische Transformationsprozeß allmählich und demokratisch legitimiert in Stagnation einmündet.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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