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7. Landwirtschaft und EU-Osterweiterung

Angesichts der schon jetzt erheblichen Kosten der EU-Agrarpolitik stellt sich die Frage, ob eine Osterweiterung überhaupt finanziell zu verkraften wäre. Diese Befürchtungen werden durch eine Gegenüberstellung wichtiger volks- und agrarwirtschaftlicher Indikatoren genährt. Vergleicht man die zehn potentiellen Beitrittskandidaten, d.h. die vier Visegrad-Länder und Slowenien, Bulgarien, Rumänien sowie die drei baltischen Länder dann würde sich, bezogen auf die Europäischen Union (EU-15), die Bevölkerung um ca. 29%, die Gesamtfläche um 33%, die landwirtschaftliche Nutzfläche um 44%, die Ackerfläche jedoch um 55% erhöhen. Die volkswirtschaftliche Leistungskraft würde dagegen um nur 3% (berechnet nach Kaufkraftparitäten um 11%) steigen. Damit würden diese Länder unweigerlich zu Nettoempfängern aus den Struktur- und Agrarfonds, was insbesondere die jetzigen Empfängerländer (die EU-Südländer) zu Skeptikern der EU-Erweiterung werden läßt.

Diese Zahlen mögen mit Blick auf die Kosten der Osterweiterung bedenklich sein, doch ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein differenziertes Bild. Mit Integration der osteuropäischen Landwirtschaften in das EU-Agrarsystem würde sich das Agrarpotential der Union zwar deutlich erhöhen, doch müßte dies bei den gegebenen Produktionsmengen (Referenzjahr 1993) nicht zu steigenden Agrarüberschüssen und zusätzlichen Kosten für ihre Beseitigung führen. Beispielsweise sind die Visegard-Länder Netto-Getreideimporteure, so daß die EU-Getreideüberschüsse durch diese Länder größtenteils absorbiert werden könnten. Bei Zucker sind die MOE-Länder Selbstversorger, d.h. die EU-Überschüsse würden nicht durch die Osterweiterung erhöht. Während es bei Rind- und Kalbfleisch nur zu einer leichten Erhöhung der Überschüsse käme, wären bei Schweinen und Geflügel deutlich höhere Überschüsse zu erwarten.

Diese statische Betrachtungsweise berücksichtigt jedoch nicht, daß sich die in den letzten Jahren stark rückläufige Agrarproduktion der MOE-Länder dank struktureller Anpassungsprozesse wieder erholen kann. Zudem liegen die meisten Erzeugerpreise in den MOE-Ländern teilweise bis zu 50% unter denjenigen der gestützten EU-Agrarpreise (Tabelle 2, Anhang). Bei einer Integration der mittel- und osteuropäischen Landwirtschaften in das subventionierte EU-Agrarpreissystem wären deshalb, wie die leidvolle Erfahrung der Europäischen Gemeinschaft der 60er und 70er Jahre zeigt, teilweise erhebliche Produktionssteigerungen zu erwarten. Projektionen und Modellberechnungen der Europäischen Kommission (Fischler-Report) bestätigten diese Befürchtung. Die Berechnungen gehen davon aus, daß nach einem hypothetischen Beitrittstermin im Jahre 2000 die MOE-Erzeugerpreise bis zum Jahr 2005 schrittweise an das Agrarpreisniveau der EU angepaßt werden. Weiterhin wird hypothetisch angenommen, daß bis 2010 die MOE-Länder ihre agrarstrukturellen Anpassungsprozesse abgeschlossen haben und voll in das EU-Agrarsystem (des Jahres 1995) integriert werden.

Die dann bis zum Jahr 2010 berechneten Produktionssteigerungen würden im Falle von Getreide trotz 15%-prozentiger Flächenstillegung zu einer Verdoppelung der Getreideüberschüsse der zehn MOE-Länder führen. Zudem wäre eine deutliche Überproduktion bei Fleisch (insbesondere bei Rindern) und Milch zu erwarten. Für den EU-Haushalt hieße dies, daß nach 2005 jährlich etwa 12 Mrd. ECU zusätzlich auf den EU-Agrarhaushalt (etwa auf 42 Mrd. ECU unter dem gegebenen Agrarsystem prognostiziert) hinzukämen, was einer Steigerung von 28% entspricht. Eine gewisse Entschärfung der fiskalpolitischen Folgen der Osterweiterung würden sich dann ergeben, wenn einerseits die EU-Agrarpreise im Zuge weiterer Reformmaßnahmen sinken, andererseits die Weltmarktpreise, wie in den letzten Jahren zu beobachten, steigen würden. Zudem bestehen gewisse Hoffnungen, daß sich die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise in den MOE-Ländern autonom, d.h. ohne staatliche Stützung aufgrund steigender Nahrungsmittelnachfrage und höherer Qualitätsstandards erhöhen.

Selbst wenn man von den pessimistischen Modellberechnungen ausgeht, würden die haushaltspolitischen Konsequenzen der Osterweiterung zwar eine erhebliche Belastung darstellen, sie wären jedoch für die EU prinzipiell verkraftbar. Ordnungs- und handelspolitisch wären sie indes kaum vertretbar. Selbst der Fischler-Bericht gesteht ein, daß eine Fortführung der jetzigen Agrarpolitik sowohl unter dem Gesichtspunkt der Osterweiterung als auch aus zusätzlichen internen und externen Gründen kaum fortführbar ist. Zudem ist ohnehin fraglich, ob die MOE-Länder an den Ausgleichszahlungen (über direkte Einkommenstransfers) profitieren sollen, da sie an die jetzigen EU-Mitglieder als Kompensation für die im Zuge der EU-Agrarreform eingetretenen Preissenkungen gezahlt wurden. Die MOE-Länder erwartet bei einem Beitritt jedoch keine Senkung, sondern eine Erhöhung ihres Erzeugerpreisniveaus. Sollten die MOE-Länder dennoch aus den Ausgleichszahlungen profitieren, müßte dieses System jedoch produktionsneutral gestaltet werden. Denkbar wären zudem Beihilfen für die MOE-Länder im Rahmen eines erweiterten PHARE-Programms, die helfen, die infrastrukturelle und institutionelle Defizite im Agrarsektor zu beseitigen.

Der EU-Agrarkommissar betont in seinem jüngsten Bericht, selbst bei konstanter Mitgliederzahl seien Produktionssteigerungen und höhere Überschüsse durch wachsende Erträge zu erwarten. Solche Überschüsse können schon jetzt immer weniger aufgrund der GATT-Vereinbarungen durch subventionierte Exporte abgebaut werden. Die einzige mit dem GATT-Abkommen konforme Möglichkeit wäre es deshalb, verstärkt über Produktionsquoten, Flächenstillegungen und anderen Stabilisierungsmaßnahmen die Produktionsmenge zu kontrollieren. Gleichzeitig erhöht die in internationalen Abkommen vereinbarte Außenhandelsliberalisierung den Wettbewerbsdruck auf die EU-Landwirtschaft, und die nächste GATT- bzw. WTO-Runde wird den Druck auf einen weiteren Subventionsabbau verstärken. Der Fischler-Report kommt deshalb zu der Schlußfolgerung, daß der Status quo langfristig nicht aufrechtzuerhalten sei, vielmehr habe er zu einem späteren Zeitpunkt einschneidende und wahrscheinlich schmerzliche Reformen zur Folge. Berücksichtigt man ein solches Szenario, so ist es sicherlich kaum nachvollziehbar, die osteuropäischen Landwirtschaften zunächst in das subventionierte Agrarsystem zu integrieren und damit Produktionssteigerungen zu induzieren, um später mit schmerzlichen Reformen diese Überschüsse wieder abzubauen.

Es ist deshalb zu bezweifen, ob bei einem EU-Beitritt die MOE-Länder nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus grundsätzlich ordnungspolitischen Gründen in die "Gemeinsame Agrarpolitik" integriert werden. Grundsätzlich besteht das Problem längerfristiger Übergangsregelungen im Agrarbereich jedoch darin, daß die MOE-Länder dies nur als Beitritt "zweiter Klasse" verstehen würden. Auch sind Übergangsfristen insofern nur schwer zu realisieren, als der Binnenmarkt die Öffnung des Agrarmarktes nach sich zieht. Allerdings haben auch andere Länder (u.a. Portugal) Übergangsregelungen im Agrarbereich erhalten. Sicher ist jedoch, daß je größer die Anstrengungen seitens der EU sind, ihre eigene verfehlte Agrarpolitik zu reformieren, desto einfacher wird die Osterweiterung zu realisieren sein. Fischler setzt dabei auf eine Fortführung der schon 1992 begonnenen Reform der EU-Agrarpolitik. Wenn man realistischerweise annimmt, daß die Osterweiterung erst nach dem Jahre 2000 ansteht und die Übergangsregelungen etwa 5 Jahre betragen, dann hat die EU ca. 10 bis 15 Jahre Zeit, die ohnehin überholte und kostspielige Agrarpolitik so zu ändern, daß eine Mitgliedschaft der MOE-Länder in der EU möglich ist.

Offen ist allerdings, ob die EU ihre Agrarprobleme mit einer Fortführung der 1992 begonnenen Agrarreform, die sicherlich mit Flächenstillegungen und der Einführung von direkten Einkommentransfers in die richtige Richtung zielt, in den Griff bekommt. Fischler lehnt ausdrücklich radikalere Reformvorstellungen, die selbst in Gutachten für die EU-Kommission von namhaften Agrarökonomen vertreten werden, als zu risikoreich ab. Will man rasche und sozial kaum verträgliche Strukturbrüche im Zuge einer Streichung der Preissubventionen vermeiden, dann müssen alternative Einkommenstützungen greifen, die teilweise auch erhebliche Kosten verursachen würden. Nachdrücklich mahnen auch die Landwirtschaftsminister der einzelnen Mitgliedsländer den Agrarkommissar in Brüssel, Vorstellungen einer "Reform der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik" zu verwerfen, sondern vielmehr das bestehende System weiterzuentwickeln. Zudem wird von Bauernverbänden offen kritisiert, der Fischler-Bericht suggeriere fälschlicherweise, die Agrarproblematik sei das Haupthindernis der Osterweiterung. Sicherlich ist es richtig, daß beispielsweise eine Reform der Regional- und Strukturfonds sowie der Entscheidungsmechanismen und verschiedener Institutionen gleichfalls wichtige Voraussetzungen für die Osterweiterung der EU sind, doch bleibt die Agrarproblematik ein zentraler Konfliktpunkt.

Jede Erweiterung der EU erschüttert die bisher ausbalancierten Interessenskonstellationen und das Machtgefüge in der Union. Deshalb werden nicht nur ökonomische Kriterien, sondern auch die politischen Konstellationen innerhalb der EU gleichermaßen über die Reform der "Gemeinsamen Agrarpolitik" und die Osterweiterung entscheiden. Die Gefahr besteht, daß die zwar notwendigen politischen Kompromisse mit zusätzlichen, ökonomisch wenig sinnvollen monetären Zugeständnissen einhergehen. Man kann nur hoffen, daß die finanziellen Begrenzungen und die damit verbundenen Probleme so groß sind, daß größere politische Fehlentwicklungen verhindert werden. Die Osterweiterung der EU und die internationalen Vereinbarungen (GATT, künftig WTO) in Verbindung mit dem internen Problemdruck bieten die Chance, das europäische Politik- und Institutionensystem für den internationalen Wettbewerb zu modernisieren. Ein Kernbereich der Reformen wird die überholte Agrarpolitik der Europäischen Union sein.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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