FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




4. Technische Entwicklungen und Technologiepolitik

Seitenzählung der Druckausg.: 29

Der internationale Wettbewerb der Technikentwicklung scheint sich mit dem Stichwort der Konvergenz auch darin zu manifestieren, daß die Technik als Selbstläufer charakterisiert wird. Der technische Fortschritt gerade auf den Gebieten der Mikroelektronik, der Informationstechnik, der Kommunikationstechnik ist ein langgewohnter Begleiter jeder Diskussion über die Informationsgesellschaft. Jeder Diskutant kennt

  • die Explosion der Speicherleistungen von Chips,
  • die Miniaturisierung und Verbilligung der Rechner,
  • den höheren Ausnutzungsgrad von Kabeln und Funkfrequenzen durch Digitaltechnik,
  • die Fortschritte in den Displaytechnologien und anderer „Peripherietechnik".

Die achtziger Jahre waren völlig geprägt von „technikgetriebenen" Pilotprojekten, die aber den Sprung in die Anwendungen nicht schafften. Die neunziger Jahre waren geprägt von einem Schwenk hin zu den Anwendungen, das - besonders in der EU strapazierte - Stichwort „technology is given" machte die Runde. Technik schien zur „commodity" geworden zu sein, denn in der Tat konnte mit der Technik mit ihren immer rascheren Zyklen geplant, gerechnet und gearbeitet werden. Vielen ist dieser Vorgang, daß ausgerechnet die dynamische Technikentwicklung zu einem berechenbaren Punkt wurde, gar nicht bewußt geworden. Aber in der Tat stimmten die Vorhersagen für die Technikentwicklung (etwa die berühmten „Rechner- oder Speicherquantitäten pro Chip") grosso modo mit der erfahrbaren Entwicklung überein. Allerdings stimmten die Prognosen hinsichtlich der Implementierung im Sinne einer Infrastruktur - sprich: der Ausbaugrad und die „end-to-end"-Leistungsfähigkeit der Netze - bisher in keinem Fall. Entweder wurden die Zeitpunkte eines bestimmten Ausbaugrades deutlich über- oder aber unterschätzt. Dies machte für viele Akteure deutlich, daß es nicht allein auf Technik und deren Kosten ankommen mußte, sondern auf etwas anderes. Aber was? Zunächst wurde versucht, die Anwendungen voranzubringen. Höchst erfolgreiche (aber geographisch sehr begrenzte) Pilotprojekte blieben jedoch stets dann stecken, wenn es um die Einführung für „alle Teilnehmer" ging. So erwarteten viele zum Beispiel in den neuen Bundesländern, daß es nach der Glasfaserverkabelung von Haushalten (den die Telekom aus längerfristigen Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen heraus vorgenommen hatte) unmittelbar zur Individual- und Massenkommunikation über diese „unbegrenzten Bandbreiten" kommen würde.

Dasselbe glaubten viele in anderen europäischen Ländern. Hatte man nicht in vielen Anwendungsprojekten Dinge wie „Telearbeit", „Telelernen" oder Vergleichbares identifiziert und für gut befunden? Daran anknüpfend wurde in der öffentlichen Diskussion gleich die Frage aufgeworfen, ob man denn diese Bandbreiten der Glasfaser überhaupt brauche, wo doch das „schmalbandige Internet" viele dieser Anwendungen bereitstellen könne. Wieder andere wunderten sich, daß ihre Hochleistungs-PCs „nicht einmal mit ISDN" die bekannten Probleme des „World Wide Waiting" abmilderten. Die Verwirrung der Diskussion um die Rolle von Technik, um die Rolle von Netzen wuchs - sie hält bis heute an.

Die genannten Fragen berühren für den Fachmann drei völlig unterschiedliche technisch-wirtschaftliche Ebenen, jeder Techniker würde - um der Verständlichkeit willen - um eine mehrstündige Erklärungssitzung bitten müssen. Denn niemand kann mit einem kurzen und bündigen Verweis auf das „7-Schichtenmodell der technischen Kommunikation" mit der klaren Definition von „Transportschicht oder Applikationsschicht" etwas anfangen. Weil niemand diese Zeit erübrigen kann, hat sich die - besonders in der Politik und der Publizistik funktionale - Reduzierung der technischen Optionen auf Schlagwörter als geeignete Platzhalterin in der Diskussion erwiesen. Aus Sicht des Publikums - und dazu gehören neben den Politikern und Publizisten auch Manager und Unternehmer - sollten die Techniker endlich dem

Seitenzählung der Druckausg.: 30

Rätselraten ein Ende machen und sagen, welche der „Netztechniken" denn die beste sei: ISDN oder ADSL, Glasfaser-ins-Haus oder Hybrid-Fiber-Coax, GSM-Mobilfunk oder Satellitenfunk. Immer wieder kulminierte dies in der Frage: Was kommt auf uns zu? Natürlich fallen die Antworten der Technik immer wieder nach dem gleichen Muster aus: „Das hängt davon ab, was man für wie viele Benutzer will und wie die Kosten samt Investitionen sich rechnen". Das Meinungsgetöse überdeckt fast jede habhafte Orientierungsmöglichkeit.

Bei den aktuellen Anforderungen für einen Weg in die Informationsgesellschaft muß deswegen die Rolle der Technik wiederentdeckt werden, so überraschend dies klingen mag. Es wäre traurig, wenn sich die weitere Entwicklung der Technikimplementierung nur deswegen ins Dunkel hüllt, weil die Kommunikation zwischen den Experten und den Nicht-Experten nicht klappt. Das Grundmißverständnis rührt nämlich gar nicht aus der Kompliziertheit der verschiedenen technischen Optionen, sondern lediglich aus einer völligen Verwirrung rund um den Infrastrukturbegriff. Das ist vergleichsweise so, wie wenn Menschen in einer (hypothetischen) Diskussion vor hundert Jahren sich hätten vorstellen müssen, was denn die Infrastruktur einer „Autofahrergesellschaft" ausmache, und in welcher Reihenfolge man vorgehen müsse: Autos bauen, Straßen bauen, Fahrschulen einrichten, Straßenverkehrsordungen erlassen und hundert andere Dinge mehr, die miteinander zusammenhängen.

Ein Masterplan hätte zur vordringlichen Aufgabe, die infrastrukturellen Innovationen zügiger zu ermöglichen. In der heutigen Konstruktion des liberalisierten Marktes für Betreiber liegen noch einige prinzipielle Hemmnisse, die es zu überwinden gilt. Es hat allen Anschein, daß das Konstrukt der Infrastrukturverpflichtung nur für den dominanten Betreiber - die Telekom - die Innovation der Infrastrukturen eher hemmt. Noch ist es für neue Betreiber billiger, eine vorhandene Leitung bei der Telekom zu mieten, als eigene Investitionen in die Infrastruktur vorzunehmen.

Aber es gibt nicht nur regulatorische Probleme zwischen den Betreibern mit aktivem Schwung zu lösen. Politische Bausteine für einen Masterplan auf technischen Gebieten bzw. deren Rahmenbedingungen sind identifiziert:

  • Internetpolitik: Das Internet muß von der Politik stärker als wichtiges Politikfeld erkannt und angenommen werden. „Internetpolitik" darf sich nicht darauf beschränken, tatsächliche oder vermeintliche Gefahren für die Gesellschaft abzuwehren (Datenschutz, Jugendschutz, Urheberrecht usw.), sondern sollte sich ebenso um die Optimierung des Internets selbst kümmern („Internet 2") und z.B. auch die Förderung eines nationalen, leistungsfähigen „backbones" oder die Unterstützung der Umstellung auf das leistungsfähigere IPv6-Protokoll umfassen. Deutschland muß sich aktiv an der europäischen und internationalen Diskussion über die Nutzungsbedingungen globaler Informationsnetze beteiligen. Ziel muß es sein, ein weitgehendes Einvernehmen über die Prinzipien und die Rahmenbedingungen bei der Nutzung der Netze bei Anbietern und Verbrauchern zu erreichen. So muß vor allem Einigkeit erzielt werden über Fragen der Namenssysteme, der Sicherheit und Vertraulichkeit in den Netzen, der Förderung und Sicherung des elektronischen Zahlungsverkehrs, über Fragen der Regelung von Verantwortlichkeiten und zur Vermeidung von schädlichen Inhalten in den Netzen, Fragen des Urheberrechts und Schutz geistigen Eigentums sowie über die Zulässigkeit von Verschlüsselungssystemen. Da das globale Internet sich nationalen Regelungen weitgehend entzieht, sollten international verbindliche Standards entwickelt werden.
  • Innovationschance Kabelfernsehnetz: Das in Deutschland in den achtziger Jahren errichtete Koaxialkabelnetz für TV-Programme ist mithilfe von Glasfaserheranführungen zu einem vollgültigen Netz ausbaubar, über das neben der notwendigen Vielzahl von Programmen auch zum Beispiel der schnelle Internetzugriff realisiert werden kann. Die Politik und die Regulierungsbehörde müssen den Einigungsprozeß der heutigen und künftigen Besitzer des Kabelnetzes, das zum 1.1.1999 von der Telekom organisatorisch ausgegliedert werden wird, aktiv unterstützen, um diese große innovatorische Chance wahrnehmen zu können.

Seitenzählung der Druckausg.: 31

  • ISDN als Einstieg in die Multimediakommunikation nutzen: In der modischen Diskussion um neue denkbare Breitbandsysteme wird neuerdings immer wieder übersehen, daß in Deutschland mit dem ISDN eine erstklassige Infrastruktur für Multimediadienste verfügbar ist. Uwe Thomas hat in einem Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung gezeigt, daß sich ISDN hervorragend als Einstieg in die multimediale Kommunikation eignet. Durch die Möglichkeit der Kopplung von ISDN-Kanälen ist auch der Weg in die breitbandige Kommunikation vorgezeichnet. Neue Zugangssysteme wie ADSL oder HYTAS sind mit ISDN-Strukturen voll verträglich zu gestalten.

Die zukunftssichere Technikgestaltung ist eine Aufgabe ersten Ranges für die privaten und öffentlichen Forschungseinrichtungen. Die Industrie am Standort ist herausgefordert, Forschungsergebnisse zügig umzusetzen. Chancen bieten sich unter anderem auf folgenden Gebieten:

  • Peripheriegeräte für die Multimediakommunikation: Der „Multimediaarbeitsplatz der Zukunft" ist eine Chance für die deutsche Industrie, ein komplexes Endgerät weltmarktfähig zu entwickeln und zu exportieren. Hierfür sollte ein großes Konsortium in vorwettbewerblicher Zusammenarbeit mit deutlicher Hilfestellung öffentlich geförderter Forschung unterstützt werden. Entsprechendes gilt für den Heimbereich, wo es darum geht, für die Multimediaanwendungen am TV-Gerät ein benutzerfreundliches Zusatzgerät (z.B. einen „Navigator") zu entwickeln und zu produzieren. In beiden Fällen sind die guten Erkenntnisse unserer Forschungen auf dem Gebiet der Schutzfunktionen unmittelbar in gerätetechnische Innovationen umsetzbar.
  • Neue Bildschirm- und Projektionstechniken: Dieses Gebiet, für das Uwe Thomas den Namen „Ionik" vorgeschlagen hat, ist eine der ganz zentralen technischen Aufgaben für die Multimediawelt. Unsere multimediale Zukunft ist nicht auf die bekannten Displays der PCs oder auf die Farbfernsehröhre beschränkt. Einige deutsche Inventionen (z.B. auf dem Gebiet der Laserprojektion und der autostereoskopischen Systeme) haben bei konzentrierter Umsetzungsarbeit immer noch eine Chance, an die in der Displaytechnik führenden japanischen Unternehmen aufzuschließen und neue Märkte zu eröffnen.
  • Simulation in Produktionsprozessen: Im Automobil- und Maschinenbau, aber auch bereits in den Prozessen der chemischen Industrie werden zunehmend Simulationsverfahren eingesetzt, um teure Entwicklungswege abzukürzen. Deutschland hat nicht nur in der Verwendung solcher Programme neue Chancen am Markt, sondern es kann auch selbst verstärkt Anbieter von solchen Simulationsprogrammen werden.
  • Intuitive Mensch-Technik-Interaktion: Trotz aller Bemühungen ist der Durchbruch bei der Bedienbarkeit von Geräten noch nicht erzielt worden. Hier sind neue Forschungsanstrengungen notwendig, um endlich die Akzeptabilität bei komplexen Geräten und Systemen zu erhöhen. Oft wird darauf hingewiesen, daß die neuen Endgeräte nicht „kinderleicht" (die „Computer-Kids" können oft sogar ohne Gebrauchsanweisung „intuitiv" mit solchen Artefakten umgehen), sondern „greisenleicht" zu gestalten sind. Es wäre verfehlt, auf eine breite „Medienkompetenz" zu setzen, wenn die Technik der großen Mehrzahl von Benutzern nicht entgegenkommt.
  • Technikfolgenabschätzung: Es ist trotz großer Anstrengungen auch nach 25 Jahren Politikberatung zum Gebiet Technikfolgenabschätzung nicht gelungen, die intendierte reibungslose Zusammenarbeit zu verwirklichen. Zu viele Widerstände im politischen Bereich und zu viele „hochwissenschaftliche" Gutachten haben den Weg nach vorn eher vernebelt als aufgeklärt. Hier müssen neue Instrumente der öffentlichen Diskussion verstärkt werden, es muß der Stellenwert von Experten deutlich erhöht werden. Die Tatsache, daß in Konfliktfällen jedes politische Lager „seinen" Experten heranzieht, hat auch der Technikfolgenabschätzung sehr geschadet. In USA hat - trotz hervorragender Arbeit - der Kongreß vor zwei Jahren das „Office for Technology Assessment" (OTA) geschlossen. Bedauerlich ist dort wie hier, daß die Kopplung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft nicht in dem Maße erfolgt ist, wie es erforderlich gewesen wäre. Es ist anzu-

Seitenzählung der Druckausg.: 32

    streben, daß derartige „vorausschauende" Aktivitäten in der Technikgestaltung selbstverständlicher Anteil werden, die positiven Impulse seitens der Wissenschaft - z.B. die wichtigen Beiträge des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) - sollten nicht übersehen werden.
  • Neue technologiepolitische Instrumente: Deutschland verfügt auf dem Gebiet der Telekommunikation über eine bedeutsame Herstellerindustrie aller Größenklassen. Es wird in der Multimediadiskussion oft übersehen, daß diese eine unverzichtbare Rolle für eigenständiges Agieren im Weltmarkt einnehmen müssen. Zwar wird die Herstellerindustrie am „Marktplatz Multimedia" innerhalb der Wertschöpfungskette einen weitaus geringeren Anteil haben als zum Beispiel Betreiber oder Contentprovider. Aber die Hersteller tragen durch immense Forschungsleistungen zu dieser Wertschöpfungskette bei - sie sind zudem zeitlich als erste vor die Richtungsentscheidungen gestellt. Diese beiden Tatsachen - der notwendige absolute F&E-Aufwand und die hohen Risiken, die der erste Schritt bedeutet - müssen zu neuen technologie- und innovationspolitischen Überlegungen Anlaß sein. So müsste ein Masterplan Informationsgesellschaft die Ressourcen freisetzen, um die ganze Wertschöpfungkette frühzeitig auf Zusammenarbeitskurs zu bringen. Die notwendige Förderung durch öffentliche Gelder ist nicht als Subvention, sondern als unabdingbares Instrument zur Ressourcenallokation in der Wertschöpfungskette anzusehen.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

Previous Page TOC Next Page