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Wie geht es weiter mit der chilenischen Entwicklung? / Alfred Pfaller. - [Electronic ed.]. - [Bonn, 1997]. - 9 Bl. = 38 Kb, Text
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT






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Vorbemerkung

Die nachfolgenden Ausführungen werden Fragen formulieren, keine Antworten. Allerdings wird der Versuch unternommen, das Feld der Antworten zu strukturieren. Er basiert auf

• der Information, die ich während eines vierwöchigen Chile-Aufenthaltes beiläufig, also ohne systematische Recherche, aufnahm

• den Diskussionen, die ich in Chile und Deutschland zur Problematik der künftigen chilenischen Entwicklung führte

• generellen entwicklungs- und verteilungstheoretischen Überlegungen.

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Die Probleme

Drei Problemkomplexe stehen im Zentrum, wenn es um die Zukunft der chilenischen Wirtschaftsentwicklung geht. Der erste bezieht sich auf die Einbindung Chiles in die internationale Arbeitsteilung, den Schlüssel zu fortgesetzt hohen Wachstumsraten, der zweite auf die Teilhabe der unteren Einkommensschichten am zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstand, der dritte auf die Erhaltung der natürlichen Umwelt. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit den ersten beiden Problembereichen

Die Wachstumsproblematik

Das chilenische Bruttosozialprodukt weist seit einem Jahrzehnt Wachstumsraten auf, die nicht nur im lateinamerikanischen Vergleich als ausgesprochen hoch zu gelten haben, obgleich sie nicht ganz an das Niveau der ostasiatischen „Wirtschaftswunderländer" herankommen. Der Zeitraum, über den sich das rasche Wirtschaftswachstum inzwischen erstreckt, ist so groß, daß man es nicht als rein zyklisches Phänomen (Reaktion auf vorangegangenen Produktionseinbruch) abtun kann. Vielmehr ist es so, daß selbst die Tiefstwerte der Wachstumsrate in Phasen konjunktureller Zurückhaltung noch beträchtlich - und für die meisten Industrieländer geradezu utopisch hoch - sind.

Das Phänomen des vorerst anhaltenden hohen chilenischen Wirtschaftswachstums ist im Kontext der allgemeinen Wachstumsproblematik Lateinamerikas und generell von gering industrialisierten Ländern zu sehen. Der Schlüssel zum Verständnis und zur Lösung des Problems waren stets die Exporte. Auch bei günstigsten Nachfragevoraussetzungen kann in einem Land die Produktion nur in dem Maße ausgeweitet werden, wie

• sich die nationale Wirtschaft von Importen unabhängig macht, also Dinge, die man früher importieren mußte, im Lande produziert (zunehmende Autarkiefähigkeit), oder

• zunehmende Exporte die Devisen verdienen, die zur Finanzierung des steigenden Importbedarfs einer wachsenden Wirtschaft (Kapitalgüter, Rohstoffe, sonstige Inputs für den nationalen Produktionsapparat, technologisch anspruchsvolle Konsumgüter) benötigt werden.

Für relativ kleine Länder wie Chile ist der erste Weg weitgehend ausgeschlossen. Denn viele Dinge, die ein wachsender Produktionsapparat benötigt, könnten im Lande auch auf Dauer, d.h. nach einer anfänglichen Lernphase, nur unter immens hohen Kosten hergestellt werden und wichtige Inputs sind im Lande schlichtweg nicht vorhanden. Der Weg zu anhaltend hohem Wachstum führt also fast unausweichlich über eine ständige Ausweitung der Exporte. So war es in den vergangenen Jahrzehnten auch typischerweise der Devisenmangel, der immer wieder das Wirtschaftswachstum lateinamerikanischer Länder abwürgte.

Damit tritt die Frage in den Vordergrund: Mit welchen Gütern und Dienstleistungen kann man auf den internationalen Märkten ständig wachsende Exporteinkünfte erzielen? Das ursprüngliche, „klassische" Wachstumsrezept von Entwicklungsländern, nämlich „Rohstoffexporte gegen Industrieimporte" war fast überall in der Dritten Welt in Krise geraten, weil (a) die Absatzchancen für Rohstoffe ins Stocken gerieten, (b) die Rohstoffreserven mancher Länder einer Produktionsausweitung Grenzen setzten und (c) viele Rohstoffpreise und somit auch die daran hängenden Exporterlöse dramatischen Schwankungen und/oder langfristigen Verfallstendenzen unterworfen sind. Es erwies sich als immer schwieriger, die eigene Industrialisierung mit den Erlösen aus Rohstoffexporten außenwirtschaftlich abzusichern. Das spektakuläre Wachstum der ostasiatischen „NICs" war denn auch auf die kontinuierliche Ausweitung der Exportgüterpalette in den Bereich der Industrieproduktion und später zum Teil auch in den Dienstleistungsbereich gegründet. Lange Zeit galt dieser ostasiatische Weg der exportorientierten Industrialisierung als der einzig langfristig gangbare selbst dann, wenn die Wachstumsdynamik (Multiplikator und Akzelerator) ihre wichtigeren Impulse aus dem Binnenmarkt bezieht. Ausnahmen wurden lediglich Ländern mit extrem günstiger Rohstoffausstattung pro Kopf der Bevölkerung zugestanden.

Der Schlüssel zum chilenischen Wirtschaftswachstum der letzten zehn Jahre waren nun jedoch nicht die Industrieexporte, sondern Rohstoffexporte - sowohl klassische chilenische Exporte, überwiegend Kupfer, als auch neue Rohstoffexporte, in erster Linie landwirtschaftliche, forstwirtschaftliche und Fischereiprodukte. Auch heute basieren erst 10 % aller chilenischen Exporte nicht auf einheimischen Rohstoffen. Damit stellt sich die Frage, ob eine derartige Ausweitung von Rohstoffexporten auf lange Frist fortsetzbar ist oder ob hier die Rohstoffreserven des Landes und die Aufnahmefähigkeit der Märkte bald Grenzen spürbar werden lassen.

Ist abzusehen, daß sich das Exportmuster der letzten 10 Jahre seinem „natürlichen" Ende zuneigt, stellt sich die Frage: Wie bekommt man den Übergang zur forcierten Ausweitung rohstoffunabhängiger Exporte hin? Bedarf es einer industriepolitischen, handelspolitischen und makroökonomischen (Wechselkurs!) Weichenstellung bzw. Flankierung seitens des Staates? Oder ist das chilenische und ausländische Privatunternehmertum von sich aus in der Lage und willens, neue Exportaktivitäten in hinreichendem Ausmaß zu entwickeln, so wie es auch ohne staatliche Lenkung für die rohstoff-bezogene Exportdiversifizierung gesorgt hat?

Die Lösung des skizzierten Problemkomplexes ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für fortgesetzt hohe Wachstumsraten. Hinzu kommen Bedingungen, die mit der makroökonomischen Stabilität, der sozio-politischen Stabilität und der Dynamik der Binnennachfrage zu tun haben. Diese werden hier nicht untersucht, was eine gewisse Zuversicht impliziert, daß von dieser Seite zunächst nicht die entscheidenden Gefahren für das chilenische Wachstumsmodell drohen.

In Chile selbst ist man sich der Exportproblematik bewußt. Die Dringlichkeit erscheint allerdings nicht allzu hoch, denn vorerst ist keine Abschwächung der Exportdynamik im Bereich der Rohstoffe und rohstoffnahen Produkte zu erkennen. Die anhaltende Dynamik gründet sich auf

• die Erschließung zusätzlicher mineralischer Rohstoffvorkommen, in erster Linie weiterhin Kupfer,

• die Ausweitung der Anbau- und Abbauflächen für land- und forstwirtschaftliche Produkte,

• die Erschließung neuer Absatzmärkte für die bestehende Exportpalette,

• die Eroberung zusätzlicher Marktanteile in den bestehenden Exportmärkten,

• die Entwicklung neuer Exportproduktlinien, insbesondere auch im Bereich der Weiterverarbeitung von Rohstoffen und im angelagerten Bereichen (z.B. Vermarktungsdienstleistungen).

Welches Gewicht den einzelnen Komponenten zukommt, kann ich nicht sagen. Aussagen über das jeweilige Expansionspotential waren nicht zu bekommen und sind wohl auch nur aus einer Fülle von branchenspezifischen Einzeluntersuchungen abzuleiten.

Die Befürchtung, daß es in der bislang eingeschlagenen Richtung nicht mehr über Jahrzehnte weitergehen kann, läßt sich mit Fassung tragen, wenn man Zuversicht aus mindestens einer von zwei Überlegungen ziehen kann.

1. Der Markt bringt neue Export-Strukturen von selbst hervor

Die erste Überlegung wurde bereits kurz angesprochen. Sie lautet etwa folgendermaßen: Das chilenische und an Chile-Aktivitäten interessierte ausländische Unternehmertum konzentriert sich vorderhand auf die Bereiche, in denen sich klare Marktchancen darbieten. Ihre Investitionskapazität wird durch diese Bereiche vorerst ganz in Anspruch genommen. Daß die Investition und die an ihr hängende „Wachstumskapazität" der Wirtschaft insgesamt zu gering seien, kann man nicht ernsthaft behaupten. Schwinden irgendwann die Investitionsmöglichkeiten in den momentanen Wachstumsbranchen, sind die Unternehmer initiativ und kompetent genug, um ihre Investitionskapazität auf neue Bereiche zu verlegen. Es hat deshalb auch wenig Zweck, sich schon jetzt darüber Gedanken zu machen, welche Bereiche dieses sein werden. Das wird sich durch die Marktchancen definieren, die dann bestehen, wenn es so weit ist.

2. Die zunehmende Bedeutung von „non-tradables" relativiert die Importabhängigkeit

Die zweite Zuversicht-einflößende Überlegung richtet sich auf die Entwicklung der Import-Notwendigkeiten. Sie lautet so: Auf der ganzen Welt verlagert sich die Endnachfrage mehr und mehr hin zu Dienstleistungen, da allmählich eine Sättigung bei der Versorgung mit Industriegütern eintritt. Haushalte, die bereits mit den Standard-Annehmlichkeiten des modernen Lebens ausgestattet sind, weiten ihre Ausstattung nicht mehr so rasch aus und auch die Ersatzbeschaffung läßt sich nicht unbegrenzt beschleunigen. Gleichzeitig nimmt die industrielle Produktivität ständig zu und die Güter werden so real gesehen immer billiger. Dieser Prozeß wird zum Teil durch eine ständige Verfeinerung der Haushaltsausstattung kompensiert (einfache Artikel werden durch aufwendige ersetzt). Dennoch bleibt ein zunehmender Teil des Haushaltseinkommens für persönliche Dienstleistungen (Unterhaltung und Kultur, Gastronomie, Gesundheit und Körperpflege, Ausbildung für Hobby und Berufszwecke). Diese Dienstleistungen sind zum größten Teil nicht international handelbar. Sie werden vor Ort „produziert" und konsumiert. Gleiches gilt auch für einen wichtigen „materiellen" Bereich der gehobenen Haushaltsausstattung, nämlich den Wohnungsbau. Wenn nun aber der Anteil handelbarer Produkte am nationalen Verbrauch tendenziell abnimmt, verringert sich auch tendenziell die Notwendigkeit, mit Exporten die Devisen für steigende Importe zu verdienen. Anders ausgedrückt: die nationale Wirtschaft kann schneller wachsen als der Außenhandel und diese Differenz kann ständig größer werden. Chile - zumal als kleines Land - könnte also mit seinen Rohstoff- und rohstoffnahen Exporten selbst dann ein hohes künftiges Wirtschaftswachstum außenwirtschaftlich absichern, wenn sich das Wachstum dieser Exporte weltmarkt- und naturbedingt allmählich abflacht. Für Chile würde in dieser Hinsicht gelten: Wer später kommt, den belohnt das Leben. Denn da Chiles Wachstum in eine neue postindustrielle Zeit fällt, muß es nicht mehr die ostasiatische „Ochsentour" der Exportindustrialisierung durchmachen.

Die erste der beiden Überlegungen stößt auf folgende Bedenken:

1. Die überwältigende internationale Evidenz bisheriger Entwicklungserfolge weist auf die große Bedeutung staatlicher Industriepolitik bei der Erschließung neuer Industrie/Exportsektoren hin. Dies heißt keineswegs, daß der Staat die Ziele vorgibt und mit Förderanreizen das Privatunternehmertum auf den von ihm bestimmten Pfad lockt. Peter Evans zum Beispiel hat in einer vergleichenden Betrachtung unterschiedlich erfolgreicher Entwicklungsländer auf die komplexen Zusammenhänge in der Kommunikation zwischen Politischer Führung, Entwicklungsbürokratie, nationalen Produktionsunternehmen, ausländischen Produktionsunternehmen und Finanzierungsinstituten hingewiesen (bezeichnenderweise kommen „Geberländer" dabei kaum vor). Unternehmens-übergreifende Sektorplanung in irgendeiner Form scheint jedoch immer wichtig gewesen zu sein. Dirk Messner zeigt in einem Vergleich Chiles mit Korea, daß die Planungsbehörden des letzteren Landes sich im Dialog mit Unternehmen bereits dann über die künftigen Wachstumsträger Gedanken machten, als die gerade aktuellen Exportsektoren noch ein Renner waren.

2. Chiles erfolgreiche Exportdiversifizierung unter Pinochet baut auch auf Vorleistungen der staatlichen Entwicklungsplanung (CORFO) noch unter den Christdemokraten auf und ist nicht ausschließlich einer Gruppe gleichsam vom neo-liberalen Reformhimmel gefallener Schumpeter-Unternehmer zuzuschreiben. Die Tatsache, daß diese Unternehmer auf den von CORFO u.a. gelegten Gleisen erfolgreich gefahren sind, nachdem die wirtschaftspolitischen Reformen den Schotter und das Gestrüpp von diesen Gleisen geräumt hatten, heißt noch nicht, daß sie auch schon erfolgreiche Streckenplaner und Gleisbauer geworden sind.

3. Chiles Rohstoffexporterfolge und die Attraktivität des Landes für internationales Kapital haben die nationale Währung unter starken Aufwertungsdruck gesetzt. Dieser hat den rohstoff-intensiven Exportbranchen kaum geschadet, da sie nicht im harten internationalen Preiswettbewerb stehen. Er hat aber die Wettbewerbschancen für andere Branchen, bei denen die Lohnstückkosten stark ins Gewicht fallen, vermindert. Die chilenische Arbeitskraft ist im Inter-NIC-Vergleich heute recht teuer, obwohl die Reallöhne niedrig sind. Dieses als „Dutch disease" bekannte Syndrom dürfte sich als ein schwerwiegendes Hindernis erweisen für den Übergang von rohstoff-intensiven Exporten auf Industrie- oder auch Dienstleistungsexporte, bei denen der internationale Arbeitskosten- und -produktivitätsvergleich ungleich wichtiger ist.

Gegen die Einwände könnte man die Möglichkeit ins Feld führen, daß Chile sein Produktionsspektrum immer mehr in die vorgelagerten Bereiche der Rohstoffproduktion ausdehnt und dabei sein Anwender-Know-How als entscheidenden Wettbewerbsvorteil ins Spiel bringt. Ein Vorbild hierfür ist etwa die finnische Entwicklung, die ausgehend vom Rohstoff Holz auf die holzbe- und -verarbeitende Kapitalgüterindustrie übergriff. Know-How-Vorsprünge sind weniger anfällig für „Dutch disease" und entstehen, wie gesagt, möglicherweise im Kontext der gegenwärtigen Sektorstruktur, bedürfen also insofern nicht vollkommen neuer „Gleise". Dennoch: der hier angedachte Übergang mutet im sozio-ökonomischen Kontext Chiles ohne dezidierte industriepolitische Flankierung ziemlich unrealistisch an. Es fehlt die dichte Infrastruktur Unternehmens-unterstützender, Synergien-erzeugender Institutionen (u.a. spezialisierte Ausbildungseinrichtungen), die in der Literatur zur Regionalentwicklung durchgängig als einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren identifiziert wird. Chile ist in dieser Beziehung vielleicht doch noch nicht weit genug in Richtung einer „produktivistischen" Industriekultur fortgeschritten und noch zu sehr der alten „Geschäftemacher"- und Rentierskultur verhaftet.

Die Verteilungsproblematik

Chiles Wirtschaftswachstum ging an einem großen Teil der Bevölkerung weitgehend vorbei. Die wirtschaftspolitischen Reformen, die dieses Wachstum einleiteten, haben gleichzeitig zur Verarmung breiter Schichten geführt. Im internationalen Vergleich steht Chile als ein Land mit einer extrem ungleichen Einkommensverteilung da. Auch heute noch gelten 30-40 % der Bevölkerung als absolut arm. Das Problem wird in Chile weithin erkannt und artikuliert. Aber hinsichtlich der Optionen, es zu lösen, fällt dem Beobachter des wirtschaftspolitischen Diskurses in Chile, auch im linken politischen Spektrum, eine ziemliche Ratlosigkeit auf.

Die Situation der Armen stellt sich, wie in vielen Entwicklungsländern, so dar:

A) Sie haben kein Vermögen, das Renten oder Profite abwirft (Grundbesitz).

B) Sie konkurrieren auf einem Arbeitsmarkt, auf dem Arbeitskraft im Überfluß angeboten wird und in dem folglich Viele nur ein sehr geringes Lohneinkommen erzielen, einem Arbeitsmarkt auch, dessen Regulierung die gewerkschaftlich organisierte Abschirmung gegen internen Unterbietungswettbewerb schwer macht.

C) Neben dem geringen Einkommen, das sie auf dem Arbeitsmarkt erzielen, steht ihnen praktisch kein öffentliches Transfereinkommen zur Verfügung (Gibt es ein garantiertes Mindesteinkommen aus der Staatskasse?).

D) Die unentgeltlichen und preisreduzierten öffentlichen Leistungen, die ihnen zur Verfügung stehen, sind gering. Sie umfassen die Primärschulausbildung, einen rudimentären öffentlichen Gesundheitsdienst und in begrenztem Rahmen Unterstützung beim Wohnungserwerb, sowie natürlich das öffentliche Wegenetz und die (im Entwicklungsländervergleich relativ hohe) öffentliche Sicherheit.

E) Ihre Kaufkraft wird auch noch dadurch verringert, daß in vielen Produktmärkten mitsamt den dazugehörigen Vertriebsketten der Wettbewerb schlecht funktioniert und deshalb Unternehmergewinne und Preise hoch sind.

Die Antwort auf die Frage, wie mehr soziale Gerechtigkeit ins chilenische Wirtschaftswachstum zu bringen, muß alle aufgelisteten Kompenenten des Armutssyndroms abklappern.

Komponente A

Sie bringt die alte Frage nach einer Landreform ins Spiel. Abgesehen davon, daß die rapide Urbanisierung der chilenischen Gesellschaft in den letzten 20 Jahren die Relevanz der Landbesitzfrage verringert hat, zeichnet sich hier unter den gegebenen politisch-ideologischen Voraussetzungen kaum eine Möglichkeit ab, eine bessere Einkommensverteilung hinzukriegen.

Komponente B

Sie stellt heute den eigentlichen Kern der Problematik dar. Die offene Arbeitslosigkeit ist gemessen an europäischen Dimensionen gegenwärtig unerheblich. Es fehlt vielmehr an Jobs, die ein „akzeptables" Einkommen abwerfen. Die unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit besteht hier in der Festsetzung eines entsprechenden Mindestlohns, sei es als Ergebnis von Tarifverhandlungen (hierzu sind die Gewerkschaften viel zu schwach), sei es als staatliche Vorschrift. Die Wirkung einer Anhebung des Mindestlohns auf ein „anständiges" Niveau dürfte begrenzt, aber dennoch positiv sein. Es ist eine gespaltene Marktreaktion zu erwarten. In einigen Bereichen würden die Preise für die mit nunmehr zu erhöhten Kosten produzierten Güter und Dienstleistungen steigen. Gelingt es, den dadurch ausgelösten Inflationsschub unter Kontrolle zu halten (widrigstenfalls freilich durch eine restriktive Geldpolitik, die ihrerseits vorübergehend Beschäftigung reduziert), würde das zu Lasten aller Empfänger höherer und mittlerer, selbst relativ niedriger Einkommen gehen. Darüber hinaus würde es eine Verschiebung der terms of trade zwischen den Produktionsbereichen (zu Lasten des „formellen" Sektors) bedeuten.

Der Markt wird auf eine Anhebung des Mindestlohns aber auch mit einer Auflösung von Jobs reagieren, denn ein gewisses Quantum an unselbständig erbrachter Arbeitsleistung wird nur deshalb nachgefragt, weil die Arbeitskraft so billig ist. Ohne soziale Absicherung werden die neuen Arbeitslosen auf den informellen Arbeitsmarkt gedrängt. Dort bieten sie ihre Arbeitsleistung in prekärer Selbständigkeit an, für die keinerlei Arbeitsmarkt-Regeln gelten. Auch heute lebt ein großer Teil der Armen in dieser prekären Selbständigkeit. Ihr kommt man nur bei, wenn im durch Regulierung geschützten oder jedenfalls schützbaren Teil des Arbeitsmarktes genügend viele neue Jobs geschaffen werden. Wie können diese Jobs entstehen? Es gibt drei grundsätzliche Wege:

• durch eine Ausweitung der Produktion, also im Gefolge von Wirtschaftswachstum

• durch „künstliche" staatliche Arbeitsplatzschaffung, finanziert aus Steuereinkommen bzw. bis zu einem gewissen Grad aus staatlicher Kreditaufnahme

• durch eine Umverteilung des geschützten, „akzeptabel" bezahlten Beschäftigungsvolumens und der damit verbundenen Lohnsumme auf mehr Köpfe/Schultern/Hände.

Das anhaltend hohe chilenische Wirtschaftswachstum hat in der Tat dazu geführt, daß mehr „formelle" Arbeitsplätze unterschiedlicher Entlohnungskategorien entstanden sind. Viele Chilenen sind dadurch in bessere Jobs gelangt, viele auch aus prekärer Informalität in bescheidene Lohnarbeit. Vereinzelt kam es auch bereits zu einer gewissen Verknappung und damit Verteuerung der Arbeitskraft (u.a. bei häuslichem Dienstpersonal in Städten). Wirtschaftswachstum konnte auch von Gewerkschaften zur Durchsetzung von Reallohnanhebungen für bestehende Jobs genutzt werden, was natürlich fast immer eine Verschiebung der intersektoralen terms of trade bedeutet.

„Cuando Chile crece, todos crecemos" kann man überall als offiziellen Slogan lesen. Auch Teile der politischen Linken vertreten ihn. Das mit dem „todos" wird jedoch erst dann stimmen, wenn die „formelle" Nachfrage nach Arbeitsleistungen so groß geworden ist, daß der prekär-informelle Sektor, der jetzt das „industrielle Reserveheer" aufnimmt, aufgelöst wird und gleichzeitig der formelle Mindestlohn signifikant ansteigt. Angesichts der Größe des Reserveheeres und angesichts der relativ geringen Arbeitsintensität des chilenischen Wirtschaftswachstums ist eine derartige Situation, wie sie etwa in Südkorea in den 70er Jahren einsetzte, vorerst nicht in Sicht.

Kann man das Wachstum arbeitsintensiver gestalten? In Grenzen wahrscheinlich. Dazu müßte aber der Außenwert des Pesos sinken und nicht steigen. Denn der immer teurer werdende Peso begünstigt ausländische Arbeit (gegossen in ausländische Kapitalgüter) gegenüber chilenischer Arbeit. Die Möglichkeiten für eine marktfähige Substitution von Kapital durch Arbeit in der sektoralen Zusammensetzung der chilenischen Produktion wären zu untersuchen.

Die Grenzen sinnvoller staatlicher Beschäftigung sind in Chile bestimmt noch nicht erreicht. Der Staat ist wahrscheinlich in vielen Bereichen, vor allem auch solchen, die für die zukünftige Wirtschaftskraft des Landes eine wichtige Rolle spielen (Humankapitalbildung), derzeit zu „schlank". Natürlich muß die Ausweitung öffentlicher Beschäftigung bezahlt werden. Dies gegen Widerstand durchzusetzen, wäre eine Aufgabe linker Politik. Auch wenn erfolgreich, wird auf diese Weise das Armutsproblem nur gemindert, nicht gelöst werden können. Die Größenordnungen sind zu gewaltig.

Ähnliches gilt auch für eine Arbeitsplatzvermehrung durch Arbeitszeitverkürzung. Angesichts der weithin sehr bescheidenen Lohneinkommen erscheint es fraglich, ob ein derartiger Weg, der für durchkapitalisierte Industrieländer gangbar erscheint, zur Integration des chilenischen Arbeitskräfteüberschusses in den „modernen" Sektor taugt. Ohnehin würde er eine gewaltige Ausbildungsoffensive erfordern, um die „Informellen" arbeitsmarktfähig zu machen. Dies wäre allerdings ein rundherum positiver Aspekt.

Insgesamt erscheint eine rasche Absorbierung der armen Bevölkerung in „geregelten", mit sozialen Sicherheitsvorkehrungen versehenen und in der Lohnentwicklung am allgemeinen Produktivitätsfortschritt orientierten Jobs nicht möglich. Das rückt als Ansatzpunkt für die Armutsbekämpfung die Situation der „Informellen" in den Vordergrund. Man könnte bis zu einem gewissen Grad ihre Verdienstchancen im informellen Markt selbst verbessern, indem man sie mit jobspezfischen Hilfsmitteln ausstattet, ihre rechtliche Position stärkt und sie zur kollektiven Vertretung ihrer Interessen gegenüber ihren Markt-„Partnern" motiviert und befähigt. Wie weit das trägt?

Summa summarum: der Kern der Armutsproblematik scheint nicht der Kern einer effektiven Armutsbekämpfungsstrategie sein zu können.

Komponente C

Ein Transfereinkommen für alle Armen wäre der simpelste Weg zu einer unmittelbaren, Entwicklungsstand-unabhängigen Verringerung der Armut. Wenn seine Auszahlung aber abhängig von der Bedürftigkeit gemacht wird (Einkommensnachweis), besteht die große Gefahr, daß die Transfers das Markteinkommen der Armen nicht aufstocken, sondern lediglich ersetzen. Es lohnt sich nicht, für einen Lohn zu arbeiten, der nur auf der Höhe der „Sozialhilfe" oder gar darunter liegt, wenn es den Verlust der „Sozialhilfe" zur Folge hat (die sogenannte „Armutsfalle"). Die Transfers müßten auf das Markteinkommen draufgesattelt werden und zwar so, daß mit steigendem Markteinkommen die Transfers abnehmen (Prinzip der negativen Einkommensteuer). Die theoretische Alternative wäre ein festes Bürgergeld für alle, auch die Reichen.

Das Hauptproblem ist hier wiederum die Finanzierung. Die Bezieher höherer Einkommen müßten höhere (direkte oder indirekte) Steuern hinnehmen. Eine politische Aufgabe, den entsprechenden Widerstand zu überwinden! Hinzu kommt ein organisatorisches Problem. Die effiziente und gerechte Anwendung einer negativen Einkommensteuer im Kontext weit verbreiteter „informeller", d.h. nicht steuerlicher erfaßter Wirtschaftstätigkeit würde selbst hochentwickelte Finanzbehörden vor schwierige Aufgaben stellen. Ist so etwas für Chile realistisch?

Komponente D

Es scheint, daß hier der Hauptansatzpunkt für eine sinnvolle Armutsbekämpfungspolitik in Chile liegt. Die Bedeutung des Geldeinkommens wird relativiert, wenn wichtige Aspekte der Bedürfnisbefriedigung entkommerzialisiert werden. An die Stelle der kaufkraftgesteuerten Zuteilung von Gütern und Dienstleistungen über den Markt tritt die egalitäre bedürnisorientierte Zuteilung über den Staat. Ein entsprechendes „wohlfahrtsstaatliches" Programm für Chile sollte folgende öffentliche Güter und Dienstleistungen umfassen:

• qualitativ hochwertige Primär-, Sekundär- und Hochschulausbildung nach Leistungskriterien (gratis oder einkommensabhängige Freistellung von Kosten)

• ausreichende Schulspeisung (gratis oder einkommensabhängige Freistellung von Kosten)

• qualitativ hochwertige Heilbehandlung im Krankheitsfall.

Eine universelle Versorgung aller Bürger mit den genannten öffentlichen Gütern kann durchaus unterschiedlich organisiert werden. Es ist nicht nötig, daß der Staat alles in eigener Regie macht. Er kann auch Berechtigungsscheine für Privatleistungen ausgeben. Das Gesundheitssystem kann nach Art der deutschen Pflichtmitgliedschaft in Krankenkassen organisiert werden: Jeder zahlt ein gemäß seiner Finanzkraft, jeder bekommt Leistungen gemäß seinem krankheitsabhängigen Bedarf, die Krankenkassen treten gegenüber den privaten Leistungserbringern (Ärzte, Diagnoselabors, andere Gesundheitspraktiker, Krankenhäuser, Apotheken) als Kollektivverhandler für ihre Mitglieder auf und drücken so die Preise.

Ein derartiges Programm öffentlicher Güter ist machbar unabhängig vom Entwicklungsstand des Landes. Freilich müssen die oberen (und mittleren) Einkommensschichten stärker zur Kasse gebeten werden. Die Verteilungswirkungen wären weit revolutionärer als der Finanzbedarf. Das System der gesellschaftlichen Privilegienzuteilung würde in wichtigen Aspekten von der Finanzkraft und dem Status der Herkunftsfamilie entkoppelt und demokratisiert. Die heutigen Privilegienbesitzer dürften kein Interesse daran haben, mit den neu ausgebildeten Unterschichtabkömmlingen in Wettbewerb um einträgliche Positionen zu treten. Vom zu erwartenden Widerstand des Oberschicht-orientierten privaten Gesundheitssektors ganz zu schweigen!

Dieses Programm hätte freilich nicht nur Verteilungswirkungen, sondern käme auch der langfristigen Wirtschaftsentwicklung des Landes zugute.

Komponente E

Gelänge es, mehr Preiswettbewerb in das chilenische Produktions- und Distributionssystem zu bringen, würde das allen Konsumenten und somit auch den Armen zugute kommen - zu Lasten überhöhter Gewinnmargen von Produzenten und Händlern. Ungeachtet aller offiziellen Marktglorifizierung scheint man diesbezüglich in Chile keinen ernsthaften politischen Handlungsbedarf zu erblicken. Den Markt akzeptieren, heißt dort weitgehend auch: bestehende Marktmacht akzeptieren. Marktmacht scheint in Chile oft weniger auf direkten Monopolen oder Oligolpolen zu beruhen, denen man evtl. Kartellamt-mäßig beikommen könnte, sondern auf informellen Kartellen, die sich schwer bekämpfen lassen. Eine radikale Methode, mehr Wettbewerb in den Groß- und Einzelhandel zu bringen, wäre evtl. die Bildung von Konsumentengenossenschaften mit staatlicher organisatorischer Unterstützung.

Allerdings ist dies wohl ebenfalls nicht das Feld, wo der große Durchbruch gegen die Massenarmut gelingen könnte. Zum großen Teil sind die Opfer der generalisierten Marktvermachtung die oberen Einkommensschichten selbst. Für sie hat sich ein Konsummarktsegment herausgebildet, dessen Preisniveau im Vergleich zu den unteren Marktsegmenten, aber auch zu den Arbeitskosten im Lande, unheimlich hoch ist. Es findet sich geographisch konzentriert par exellence im barrio alto von Santiago. Grundstückspreise spielen dabei sicher auch eine große Rolle. Der Effekt ist ein doppelter:

• Dieses hohe Preisniveau absorbiert ein Gutteil der realen Kaufkraft der Besserverdienenden im Austausch gegen ein prestigevolles Shopping-Ambiente.

• Die reale Kaufkraft der Unterschichten wird nicht unmittelbar tangiert; denn sie haben Zugang zu wesentlich billigeren (wenn auch nicht so edlen) Substituten. Aber auf der ebenfalls relevanten symbolischen Ebene wird der soziale Ausschluß, der akzentuierte Klassencharakter der Gesellschaft bekräftigt.

Und was ist mit der viel debattierten Rentenreform?

Die chilenische Rentenreform hat viele Macken, die insgesamt unter der Rubrik „mangelnde Reife in der Ausgestaltung" subsumiert werden können. U.a. arbeitet das System in der jetzigen Form ziemlich ineffizient. Diese Macken sind im Prinzip behebbar, ohne daß der Grundcharakter des Systems zu ändern wäre. Mit der Armutsfrage haben sie wenig zu tun.

Ein Problem schließt jedoch unmittelbar am Problemkomplex der Armut an. Das System erreicht diejenigen nicht, die keinen Arbeitsplatz im „formellen" Sektor haben. Dieses Defizit teilt es allerdings mit ganz anders gestrickten Rentensystemen. Das für Entwicklungsländer typische Ergebnis: Für einen großen Teil der Bevölkerung ist im Alter nicht vorgesorgt. Sie fallen dem Elend anheim, wenn sich weder ihre Familie, noch eine staatliche Sozialhilfe, noch private Wohltätigkeit um sie kümmert. Nur zum Teil liegt das daran, daß diese Menschen bereits während ihrer arbeitsfähigen Zeit finanziell nicht in der Lage sind, eine Altersrücklage zu bilden. Wichtiger ist eigentlich die Schwierigkeit, sie im obligatorischen Rentensystem zu erfassen.

Sollte es gelingen, die „Kinderkrankheiten" des Systems zu überwinden, besteht sein eigentlicher Charme darin, daß die Rentenfrage radikal entpolitisiert wird. Jeder bekommt im Alter das, was er während seiner Arbeitszeit angespart hat. Das Risiko, daß er/sie länger lebt, als „vorgesehen", muß jede(r) entweder selber tragen oder aber für eine lebenslängliche Monatsrente optieren, deren Höhe von der bei Rentenbeginn geltenden durchschnittlichen Restlebensdauer abhängt. In anderen Worten, die Rentenkürzung bei allgemeiner Längerlebigkeit ist bereits ins System eingebaut. Man kann sich aber durch freiwillige Mehraufwendungen während der Arbeitszeit ein Zusatzpolster anschaffen - also entpolitisierte „Beitragserhöhung". Dabei bleibt jedem selbst überlassen, wie hoch sie/er das Risiko der künftigen demographisch bedingten Rentenkürzung einschätzt. Auch das Risiko, daß sich die Kapitalrendite und damit die dereinst für die Rente verfügbare Kapitalsumme verringert, tragen voll und ganz die Versicherten. Ein Anspruch an die „Solidargemeinschaft Nation" besteht nicht.

Ein zentrales Problem des früheren Umlagesystems bestand darin, daß die von den Beitragszahlern (Arbeitnehmer und -geber) alimentierten Rentenkassen immer wieder vom Staat für rentenfremde Zwecke geplündert oder durch Inflation entwertet wurden - also Staatsversagen. In einem verantwortungsvoller handelnden Staat hätte das System durchaus zufriedenstellend funktionieren können. Das neue System bedarf aber ebenfalls einer strengen staatlichen Aufsicht, um langfristige Rentensicherheit zu gewährleisten. Diese scheint in Chile derzeit gewährleistet. Sollten sich aber wieder einmal turbulentere Zeiten mit entsprechenden politischen Verwerfungen und wirtschaftspolitischem Chaos einstellen, wird das neue System keinen Schutz gegen die Veruntreuung/Entwertung der in ihm festgehaltenen Ersparnisse bieten.

Ob die anvisierte staatliche Kontinuität über Jahrzehnte hinweg Realität wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie weit das politische System seine Legitimität durch nachhaltigen Entwicklungserfolg und eine allmähliche Entschärfung der Verteilungsfrage sichern kann.


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