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Standort Brasilien / von Jörg Meyer-Stamer. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1997. - 18 S. = 60 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: FES-Libary, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT









[Essentials:]

* Die Qualität des Standorts Brasilien hat sich dramatisch verbessert. Dies bedeutet nicht, daß Brasilien heute ein außergewöhnlich attraktiver Standort wäre: Die makroökonomische Stabilität ist nicht konsolidiert. Eine wichtige Ursache für die früher hohe Inflation, das staatliche Haushaltsdefizit und seine Schließung durch kurzfristige Kreditaufnahme, konnte nur vorübergehend beseitigt werden. Eine grundlegende Reform der Staatsfinanzen steht aus.
* Unternehmen leiden in Brasilien unter einer Reihe von spezifischen Kostenfaktoren („Custo Brasil") – ein ineffizientes, intransparentes und unfaires Steuersystem, hohe Kosten von Bürokratie, Regulation und Unsicherheit, teure Häfen, hohe Transportkosten und hohe Lohnnebenkosten. Nur wenige dieser Kostenfaktoren werden sich kurzfristig beseitigen lassen
* Faktoren, die im Standortwettbewerb zählen (unternehmerfreundliches Klima, reaktionsschnelle und flexible öffentliche Verwaltung, staatliche Programme zur beruflichen Bildung), sind in Brasilien eher selten anzutreffen. Die öffentliche Verwaltung ist meist inflexibel, langsam und oft wenig kompetent. Organisatorische Neuerungen wie one-stop agencies oder first-stop agencies sind selten. Entscheidungen werden unter politischen Opportunitätsgesichtspunkten gefällt und folgen selten einer ökonomischen Rationalität.
* Im politischen Raum hat die Einsicht, daß Brasilien im internationalen Standortwettbewerb seine Position behaupten muß, noch nicht Raum gegriffen; Standortmarketing, findet eher im Stile von Waschmittelreklame statt, solide sozioökonomische Daten sind nur schwer zu bekommen, gezielte Programme zur Stärkung des unternehmensbezogenen Umfelds sind die Ausnahme.
* Gleichwohl hat sich die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Industrie insgesamt verbessert, und es entwickelt sich ein zunehmend leistungsfähiges Umfeld. Verschiedene Beispiele deuten darauf hin, daß Brasilien kein ungünstiger Standort für den Einsatz neuer Organisationskonzepte ist (schlanke Produktion, extrem devertikalisierte Fabriken). Überdies gelingt es einzelnen Bundesstaaten, günstige Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen.
* Brasilien ist ein Standort, der mit einem höheren Risiko behaftet ist als andere emerging countries, aber dies auch durch eine entsprechende Risikoprämie wettmacht. Auch für ausländische Unternehmen gilt, daß die Zeiten eines laschen Wettbewerbsdrucks vorbei sind. Wer diese Risikoprämie einstecken will, muß effizient, flexibel und schnell sein und kann dann mit etwas Glück von einem schnell wachsenden Markt profitieren.

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Zusammenfassung

Die Einschätzung Lateinamerikas in Europa und den USA pendelt stets zwischen Manie und Depression. Auf die „verlorene Dekade" der 80er Jahre folgte zu Beginn der 90er eine Phase der Euphorie, die mit dem Mexiko-Fiasko Ende 1994 ihr vorläufiges Ende fand. Nachdem in den übrigen Ländern der Zusammenbruch ausblieb, war letzthin wieder Manie angesagt. Was fehlt, ist eine abgewogene, nüchterne Sichtweise, die sich von den Extremen fernhält.

Auch Brasilien war von den Manie-Depression-Zyklen nicht ausgenommen. Die wirtschaftlichen Strukturreformen von 1990, insbesondere die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt und der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, erzeugten bei ausländischen Beobachtern eine Hochstimmung, die angesichts der weiter zunehmenden Inflation und makroökonomischen Instabilität in eine tief skeptische Sichtweise umschlug. Diese wiederum wurde von der Euphorie nach der erfolgreichen Inflationsbekämpfung ab 1994 verdrängt. Zyklustechnisch ist jetzt also wieder Depression, auch wenn die bisherige Performance der Regierung Cardoso dazu nicht unbedingt Anlaß gibt.

Das Kernargument dieses Papiers ist, daß bei der Beurteilung Brasiliens Depression übertrieben wäre, jedoch auch kein Anlaß zur Euphorie besteht. Die Qualität des Standorts Brasilien hat sich – im Vergleich zur Hochinflation, ganz zu schweigen vom Umfeld einer geschlossenen Volkswirtschaft, wie es bis 1990 vorherrschte – ohne Frage dramatisch verbessert. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Brasilien heute ein außergewöhnlich attraktiver Standort wäre. Negativ ist zweierlei zu verbuchen. Erstens: Die makroökonomische Stabilität ist nicht konsolidiert. Eine wichtige Ursache für die früher hohe Inflation, das staatliche Haushaltsdefizit und seine Schließung durch kurzfristige Kreditaufnahme, konnte nur vorübergehend beseitigt werden. Eine grundlegende Reform der Staatsfinanzen steht aus. Einigen zentralen Reforminitiativen der Regierung Cardoso waren bislang kein Erfolg beschieden, und es gibt strukturelle Faktoren, die schnellen Reformerfolgen entgegenstehen. Zweitens: Unternehmen leiden in Brasilien unter einer Reihe von spezifischen Kostenfaktoren („Custo Brasil") – ein ineffizientes, intransparentes und unfaires Steuersystem, hohe Kosten von Bürokratie, Regulation und Unsicherheit, teure Häfen, hohe Transportkosten und hohe Lohnnebenkosten. Nur wenige dieser Kostenfaktoren werden sich kurzfristig beseitigen lassen.

Auf der positiven Seite ist – neben der Tatsache, daß alles schon schlimmer war und es aufwärts geht – zu verbuchen, daß sich die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Industrie insgesamt verbessert hat und insofern ein zunehmend leistungsfähiges Umfeld existiert. Verschiedene Beispiele deuten darauf hin, daß Brasilien kein ungünstiger Standort für den Einsatz neuer Organisationskonzepte ist (schlanke Produktion, extrem devertikalisierte Fabrik). Überdies gelingt es einzelnen Bundesstaaten, günstige Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen.

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1. Makroökonomische Stabilisierung: Kosten und Perspektiven


1.1 Nutzen und Kosten der Stabilisierung

Das wirtschaftliche Umfeld hat sich in Brasilien seit 1990 grundlegend verändert. Die Regierung Collor setzte einen Kurswechsel in der entwicklungspolitischen Grundorientierung durch – von der Importsubstitution zur Weltmarkt- und Wettbewerbsorientierung. Sie scheiterte jedoch mit ihren Versuchen zur Inflationsbekämpfung und makroökonomischen Stabilisierung. Dies gelang erst ihrer Nachfolgerin, der Regierung Itamar Franco mit dem seinerzeitigen Finanzminister Fernando Henrique Cardoso. Er legte Ende 1993 einen Stabilisierungsplan (Plano FHC II) vor, der im Kern zwei Komponenten vorsah: erstens die Einführung einer Verrechnungseinheit, die für einen bestimmten Zeitraum neben der eigentlichen Währung benutzt werden und die Signalwirkung von Preisen wiederherstellen sollte, und zweitens die Einrichtung eines Fundo Social de Emergência (Sozialer Notfonds). Dieser war – anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern – kein Sonderfonds zur Finanzierung von Sozial- und Beschäftigungsprogrammen, sondern ein mit etwa 15 Mrd. US$ ausgestatteter Feuerwehrfonds zur Schließung von Haushaltslücken. Damit wurde die wichtigste Ursache für die starke Zunahme der Inflation, das über kurzfristige Kredite geschlossene staatliche Haushaltsdefizit, beseitigt – allerdings nur vorübergehend, denn der Fundo existierte nur bis zum 31.12.1995.

Die Inflationsbekämpfung war erfolgreich. Zum 1.7.1994 wurde die seit einigen Monaten genutzte Verrechnungseinheit in die neue Währung Real umgewandelt (Plano Real), und in der Folgezeit sank die monatliche Inflationsrate von über 40% auf unter 1%. Ein unmittelbarer Effekt der Preisstabilisierung war ein Konsumboom, der u.a. durch die Wiedereinführung von Konsumentenkrediten ermöglicht wurde. Um eine Überhitzung der Konjunktur und die damit verbundenen Inflationsgefahren zu vermeiden sowie aufgrund der außenwirtschaftlichen Probleme (v.a. des Vertrauensproblems) nach der Mexiko-Krise zur Jahreswende 1994/95, verfolgte die brasilianische Regierung ab Anfang 1995 eine Hochzinspolitik, die mit verschiedenen regulativen Maßnahmen zur Bremsung des Konsums und zur Begrenzung von Konsumgüterimporten verknüpft wurde.

Für die privaten Unternehmen brachte die Inflationsbekämpfung Licht und Schatten. Die Wirtschaft wuchs wieder, der Absatz nahm zu, und wirtschaftliche Transaktionen wurden kalkulier- und vorhersehbar. Die Kehrseite bildeten die direkten Kosten der Stabilisierung sowie die Verhaltensänderungen, die durch die Beseitigung der Inflation erzwungen wurden.

Direkte Kosten entstehen durch teure Kredite und die Überbewertung der Währung. Die hohen Zinsen (die nicht nur die Politik der Konsumdämpfung und die Notwendigkeit einer konservativen Politik nach dem Mexiko-Schock, sondern auch das Risiko-rating des Staates widerspiegeln) verteuern die Finanzierung von Umlaufkapital; Investitionskredite werden von Geschäftsbanken weiterhin kaum vergeben. Im Laufe des Jahres 1996 hat die Zentralbank die Zinsen sukzessive gesenkt (Abbildung 1), doch bleiben sie auf einem hohen Niveau; zudem werden die Zinssenkungen von den Geschäftsbanken nur zögerlich weitergegeben. Die Überbewertung entstand durch die Spanne zwischen der Inflation im ersten Jahr des Plano Real (rd. 30%) und der Aufwertung des Real gegenüber dem Dollar (von anfänglich 1:1 auf 0,83:1). Seither hat es eine graduelle Abwertung gegeben (bis Februar 1997 auf 1,05:1), doch gilt der Real nach wie vor als überbewertet. Eine der Konsequenzen von hohen Zinsen, Überbewertung und zunehmendem Wettbewerbsdruck war eine steile Zunahme der Zahlungsunfähigkeit (Abbildung 2).

Abbildung 1: Entwicklung der Realzinsen kurzfristiger Staatsanleihen (Over)

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Quelle: BNDES

Abbildung 2: Notleidende Kredite

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Obere Linie: Anteil der notleidenden an den gesamten Krediten (nur privater Sektor), untere Linie: dito, privater Sektor und Staat. Quelle: BNDES.

Verhaltensänderungen lassen sich vor allem bei der Praxis der unternehmerischen Preisbildung beobachten. Während der Phase der Importsubstitution gab es in vielen Segmenten des abgeschotteten Binnenmarkts nur wenige Anbieter (z.B. drei Bushersteller, zwei Hersteller von hochwertigen Sanitärarmaturen etc.), die den Markt unter sich aufgeteilt hatten und zwischen denen ein meist stillschweigendes Übereinkommen existierte, sich keine Marktanteile abspenstig zu machen. Entsprechend gering war der Druck, sich über Preis, Qualität, Liefertreue oder andere Faktoren Wettbewerbsvorteile zu sichern. Aufgrund der hohen Inflation war es überdies praktisch kaum möglich, durch eine Niedrigpreisstrategie Marktanteile zu erobern, denn Niedrigpreisstrategien waren für die Kunden kaum zu erkennen. Bei monatlichen Inflationsraten von 10 bis 20% paßten die Unternehmen in einem Rhythmus von ein bis drei Monaten ihre Preise an. Der Anpassungsrhythmus war im allgemeinen nicht synchronisiert, so daß es für einen Käufer nicht ohne weiteres ersichtlich war, ob ein niedrigerer Preis für ein gegebenes Produkt das Ergebnis einer aggressiven Preisstrategie oder einer länger zurückliegenden Inflationsanpassung war. Das rationale Verhalten sah für Unternehmen in diesem Umfeld so aus, daß sie ihre Gewinngestaltung im Rahmen der Inflationsanpassung betrieben – sank der Absatz, so wurde die Gewinnmarge angehoben, indem der Preis stärker heraufgesetzt wurde als die Inflation der letzten Monate betragen hatte. Dieses Verhalten war im neuen, nahezu inflationsfreien Umfeld nicht länger durchzuhalten. Früher konnten die Unternehmen ihre technologischen und organisatorischen Defizite leicht verbergen. Heute werden diese schonungslos offengelegt, und die Unternehmen werden zu dramatischen Effizienzsteigerungen gezwungen.

1.2 Perspektiven der Stabilisierung

In der brasilianischen Diskussion wird der Sieg über die Inflation als endgültig betrachtet. Das stimmt auch insofern, als die Wirtschaftssubjekte sich mittlerweile auf ein inflationsfreies Umfeld eingestellt haben und nur noch wenige ein Interesse an der Inflation haben (an der sich früher gut verdienen ließ). Doch sind nicht alle Ursachen der Inflation beseitigt. Ein wichtiges Ursachenbündel hing mit der mangelnden Funktionsfähigkeit der Gütermärkte zusammen; hier existieren heute zunehmend wettbewerbliche Strukturen. Das andere Ursachenbündel hing mit der staatlichen Budgetpraxis zusammen, und hier sind kaum Fortschritte zu beobachten.

Sucht man die Ursachen des staatlichen Haushaltsdefizits, so muß man auf strukturelle und aktuelle Faktoren schauen. Die wichtigsten strukturellen Faktoren sind die Veränderungen, die mit der Verfassung von 1988 eingeführt wurden, und die vorherrschende Art der politischen Legitimationsbeschaffung.

Die Verfassung von 1988 führte vier wichtige neue Elemente ein, die alle die Ausgabenseite belasten:

– Eine weitgehende Mitbestimmung des Parlaments bei der Festsetzung des Staatshaushalts, ohne daß jedoch die letztendliche Verantwortung des Präsidenten bzw. der Exekutive für das Budget bestritten wurde. Es entwickelte sich nicht ein verantwortungsvoller, sondern ein klientelistischer, populistischer und mitunter auch krimi-neller Umgang des Parlaments mit seiner Budgetkompetenz. Die Exekutive reagierte darauf mit repressão fiscal – der Haushalt wurde nicht indexiert, und gezahlt wurde häufig erst dann, wenn der reale Wert einer nominal festgelegten Finanzzuweisung stark gesunken war.

– Eine deutliche Steigerung der automatischen Zuweisungen des Bundes an Bundesstaaten und Kommunen, ohne daß damit jedoch eine Umverteilung von Aufgaben und Zahlungsverpflichtungen vorgenommen wurde. Die Verwendung dieser Mittel ist den Bundesstaaten und Kommunen in hohem Maße freigestellt; der Spielraum wird mitunter für effektive Entwicklungsprogramme, häufiger jedoch für klientelistische oder sogar kriminelle Aktivitäten genutzt.

Verschiedene Veränderungen des Beschäftigungs- und Vergütungsrechts im Bundesdienst. Bundesbedienstete werden nach dem fünften Jahr ihrer Beschäftigung unkündbar. Es wurden Regelungen zur isonomia, d.h. der automatischen Übertragung von Reallohnsteigerungen von einer auf andere Gruppen von Beschäftigten eingeführt; Steigerungen der Bezüge der Militärs werden automatisch auf die zivilen Angestellten übertragen, Steigerungen der Bezüge der Abgeordneten werden automatisch auf die bundesstaatlichen Parlamentarier und die Stadträte angewandt usf.

Die Ausweitung der Leistungen sowie der Zahl der Anspruchsberechtigten der Sozialversicherung (Renten-, Krankenversicherung, Sozial-, Arbeitslosenhilfe) und die Etablierung von Beträgen, die nicht unterschritten werden dürfen. Überdies wurde 1992 in einem Verfassungszusatz festgelegt, daß die Bezüge der Ruheständler und Pensionäre des Bundes (zu denen neben den Angestellten und Richtern auch ehemalige Parlamentarier und Minister gehören; Parlamentarier haben nach acht Jahren der Zugehörigkeit Anspruch auf eine volle Pension) nicht aus der allgemeinen Sozialversicherung gezahlt werden dürfen, sondern aus dem laufenden Budget bestritten werden müssen. Und die Dynamik dieses Ausgabepostens ist groß. Die beiden Kernprobleme sind hier die Tatsache, daß die Pensionierung dienstzeit- und nicht altersabhängig ist, sowie Kumulationsmöglichkeiten und eine fehlende Kappungsgrenze. Üblicherweise haben brasilianische Arbeitnehmer nach 35 Arbeitsjahren ein Anrecht auf den Bezug von Ruhestandsbezügen; bei einer Reihe von Berufsgruppen liegt diese Grenze niedriger, zum Teil bei 25 Jahren. In der Praxis bedeutet dies, daß Arbeitnehmer mit Mitte 40 bis Anfang 50 in den Ruhestand gehen können und dann – bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 67 Jahren – 20-25 Jahre lang Ruhestandsbezüge beziehen. Spezielle Berufsgruppen, etwa Parlamentarier und andere politische Funktionsträger, erwerben durch wenige Jahre dauernde Tätigkeiten zusätzliche Rentenansprüche. Durch Kumulation von Rentenansprüchen erreichen nicht wenige Personen Ruhestandsbezüge, die pro Jahr weit über 100.000 US$ betragen. Versuche, hier Kappungsgrenzen einzuführen (z.B. nach dem Prinzip: Kein pensionierter Beamter darf mehr Bezüge haben als der Staatspräsident), sind bislang gescheitert. Im Ergebnis wenden viele Gebietskörperschaften heute mehr Geld für Ruhestandsbezüge auf als für die Gehälter ihrer Beschäftigten. Reformbemühungen der Regierung, die etwa auf eine lebenszeitbezogene Pensionierungsgrenze zielten, sind bislang an der politischen Organisationsfähigkeit der Pensionäre, der beachtlichen Popularität der bisherigen Regelungen und nicht zuletzt an den Eigeninteressen der Parlamentarier gescheitert.

Die zweite wichtige Ursache des Budgetdefizits ist die Budgetpolitik des Parlaments, die dem Prinzip folgen, das die Amerikaner pork barrel politics nennen: Gegenüber den Wählern zählen unmittelbare Vorteile – eine neue Asphaltdecke hier, ein wenig Be- oder Entwässerung dort – weit mehr als eine Haushaltsdisziplin, die bestenfalls mittelfristig die Inflation verringert. Mittelzuweisungen, die der Wählerbasis der Abgeordneten direkt zugute kommen, sind ein, wenn nicht das zentrale Legitimationsinstrument für die Letzteren. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der Budgetkompetenz würde mithin direkt zu einer Unterminierung der Legitimation führen, kann also nicht im unmittelbaren Interesse der Abgeordneten sein.

Verschärft werden die Probleme dadurch, daß dieser Mechanismus auf der Ebene der Bundesstaaten und Kommunen genauso funktioniert; dies war der Hintergrund für das starke Interesse an automatischen Mittelzuweisungen, wie es in der Verfassung verankert wurde. Doch trotz dieser Regelung hat sich das Haushaltsgebaren nicht entscheidend verbessert. Bis vor kurzem zwangen Gouverneure ihre bundesstaatliche Bank – insbesondere in Wahlkampfzeiten – zur Gewährung von Krediten, die dann nicht zurückgezahlt wurden, was nicht selten damit endete, daß die Bank zahlungsunfähig wurde und von der Zentralbank saniert werden mußte. Die Regierung hat in den letzten Jahren mehrfach bundesstaatliche Banken saniert – immer mit der Auflage, daß diese Praxis ein Ende haben müsse, aber selten mit nachhaltigem Erfolg.

Ergebnis dieser Regelungen und Praktiken ist das, was in Brasilien als rigidez orçamentária diskutiert wird, d.h. die Minimierung der verfügbaren Haushaltsmasse; diese kann leicht weniger als 1% des BIP betragen. Davon müssen dann alle Ausgaben bestritten werden, die nicht durch gesetzlich festgelegte Zwangszuweisungen (z.B. für das Ausbildungssystem) abgedeckt werden. Dazu gehören laufende Kosten der Bundesverwaltung, Infrastrukturinvestitionen, Ausgaben zur Erhaltung und Instandsetzung, Unterhalt und Neubeschaffung von militärischem Gerät, Subventionen für Unternehmen usf. Diese Ausgaben liegen in der Regeln jedoch deutlich höher als 1%, und dies impliziert öffentliche Kreditaufnahme.

Die wichtigsten aktuellen Faktoren hängen mit der Inflationsbekämpfung zusammen. Am bedeutsamsten ist hier die Bankenkrise, die sich als Chronik eines angekündigten Desasters ausnimmt: Es war seit langem klar, daß die Banken zu den wichtigen Profiteuren der Inflation zählten (der Anteil des Finanzsektors am BIP verdoppelte sich im Verlauf der 80er Jahre – Ergebnis eines Systems, in dem die Liquiditätshaltung minimiert wurde, weil nur bei Banken angelegtes Geld gegen Entwertung geschützt war). Ihre Haupteinnahmequelle war der spread zwischen der Verzinsung der Einlagen und der Anlage dieser Mittel in Staatspapieren. Mit der Geldwertstabilisierung fiel diese Einnahmequelle weg, und das Fehlen anderer Einnahmequellen in Verbindung mit der unzureichenden organisatorischen Effizienz stürzte zahlreiche Banken in akute Krisen (die mitunter allerdings auch dadurch zustande kamen, daß im neuen Umfeld gewohnte Praktiken des Versteckens von Defiziten nicht mehr funktionierten).

Der Finanzierungsbedarf, der durch die Krise im Finanzsystem ausgelöst wurde, ist groß. Die US-Fachzeitschrift Institutional Investor kommt auf einen Gesamtbetrag von 123 Mrd. US$ (wobei allerdings Zahlungen, Kreditschöpfung und Refinanzierung zusammengezählt werden), der sich wie folgt zusammensetzt:

• 6 Mrd. an Feuerwehrkrediten für notleidende Banken,

• 28 Mrd. Zuwendungen an bundesstaatliche Banken,

• 15 Mrd. zur Rekapitalisierung der größten staatlichen Bank Banco do Brasil, die häufig zur „politischen" Kreditvergabe gezwungen wurde und überdies ein enorm großes Zweigstellennetz unterhält, also viele faule Kredite im Portfolio hat und insgesamt nicht sehr effizient ist,

• 13,2 Mrd. an Sonderkrediten zur Rettung der drei großen, zahlungsunfähigen Privatbanken,

• 15,5 Mrd. an Staatsanleihen zur Begleichung der Schulden der Bundesstaaten,

• 7,5 Mrd. von der nationalen Entwicklungsbank BNDES an den Staat São Paulo als Vorfinanzierung für erwartete Privatisierungseinnahmen,

• 13 Mrd. an offiziell ausgewiesenem Defizit der Zentralbank,

• 13 Mrd. an Bundeskrediten an Landesregierungen, um ihnen die Privatisierung oder Schließung von bundesstaatlichen Banken zu ermöglichen,

• 12 Mrd. an revolvierenden Krediten, überwiegend für die praktisch bankrotte Bank des Bundesstaats São Paulo (Banespa) zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen.

Angesichts dieser Zahlen ist es bemerkenswert, wie gering die Auswirkungen der Bankenkrise auf die brasilianische Volkswirtschaft sind. Dies spricht erstens für ein professionelles Krisenmanagement, ist zweitens ein Indikator für das Vertrauen in die Ökonomie und das makroökonomische Management, indiziert aber drittens auch beachtliche Reserven in der Ökonomie. Die brasilianische Volkswirtschaft hat mithin ein beeindruckendes Maß an Krisenresistenz entwickelt. Zugleich aber bleibt der Finanzsektor, krisengeschüttelt und unter hohen Anpassungslasten, ein Risikofaktor für die makroökonomische Entwicklung; und neue Milliardenlöcher können sich jederzeit auftun, etwa durch Altlasten im Bereich der Wohnungsbaufinanzierung.

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2. Schwierige Rahmenbedingungen trotz makroökonomischer Stabilisierung: Custo Brasil"

Der „Custo Brasil" bezeichnet die spezifischen Kostennachteile für Unternehmen, die in Brasilien Geschäfte tätigen. Seine wichtigsten Komponenten sind ein ineffizientes, intransparentes und unfaires Steuersystem, Kosten von Bürokratie, Regulation und Unsicherheit, teure Häfen, hohe Transportkosten und hohe Lohnnebenkosten.

2.1 Steuersystem

Das brasilianische Steuersystem ist außerordentlich intransparent. Es gibt viele Arten von Steuern und eine unübersehbare Zahl von Ausnahmen und Sonderregelungen. Die effektive Steuerlast variiert damit von Branche zu Branche. Zum Teil werden Steuern kumuliert, d.h. bereits gezahlte Steuern in die Bemessungsgrundlage einbezogen. Zugleich wird eine große Zahl wirtschaftlicher Aktivitäten nicht besteuert – sei es, weil dies vom Gesetzgeber so vorgesehen ist (z.B. im Agrarsektor), sei es, weil Unternehmen in der Schattenwirtschaft operieren (brasilianische Bekleidungsunternehmen beispielsweise klagen, ihre wichtigste Konkurrenz seien nicht Billigimporte, sondern informelle Kleinbetriebe).

Versuche der Vereinheitlichung und Vereinfachung der Besteuerung haben bislang nur begrenzte Erfolge gehabt, und auch künftig sind die Aussichten für die Durchsetzung der notwendigen radikalen Steuerreform ungünstig. Dies hängt mit zwei Faktoren zusammen, zum einen mit der Funktionsweise der Zentralregierung und Legislative: Solange die Regierung rote Zahlen schreibt, besteht wenig Spielraum für Reformen, die etwa über eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage bei gleichzeitiger Senkung der Steuersätze auf eine aufkommensneutrale Reform zielen. Die Regierung braucht mehr Einnahmen – und die Einführung neuer Steuern ist ein seit langem praktiziertes Instrument, das aber der Straffung diametral entgegensteht. Hinzu kommt die Neigung der Regierung, makroökonomische und sektorpolitische Feinsteuerung zu betreiben – häufig über Steueranreize, die das Gesamtsystem noch komplizierter machen.

Zum anderen erhebt nicht nur der Zentralstaat Steuern. Abgesehen davon, daß ein großer Teil seiner Einnahmen an Bundesstaaten und Kommunen weitergeleitet werden muß, haben diese eine eigene Steuerhoheit – und nutzen diese auch, insbesondere um ihr notorisches Defizit zu schließen, das insbesondere durch einen aufgeblähten Personalbestand erzeugt wird. Und zu den Steuern der Bundesstaaten gehören solche, die Transaktionen zwischen Unternehmen stark belasten, insbesondere die Umsatzsteuer ICMS.

2.2 Kosten von Bürokratie, Regulierung und Unsicherheit

Wie anderswo in Lateinamerika ist auch in Brasilien die Regulierungsdichte bemerkenswert. Unternehmen und Unternehmer müssen viel Zeit darauf verwenden, mit Behörden umzugehen. Abbildung 3 gibt einen Eindruck, wieviel Zeit darauf verwandt wird; der Vergleich mit Chile zeigt, daß es auch anders geht. Die Grafik zeigt auch, daß die Situation sich trotz der Deregulierungsbemühungen der Regierung bislang nicht nachhaltig gebessert hat.

Abbildung 4 gibt einen weiteren Hinweis darauf, daß die Situation in Brasilien ungünstig ist. Abgebildet ist hier der Rang, den Brasilien bei den Erhebungen für den World Competitiveness Report des IMD Lausanne bei regulierungs- und bürokratierelevanten Indikatoren einnimmt. Hier wird deutlich, daß sich die Situation des Landes im Vergleich zu anderen Ländern zu Beginn der 90er Jahre verschlechtert hat.

Abbildung 3 (liegt nicht vor)

Abbildung 4 (liegt nicht vor)

Die Beispiele für unternehmensfeindliche Regulierung und Bürokratie sind Legion. Brasilianische Bekleidungshersteller müssen in ihre Produkte Etiketten einnähen, die u.a. die genaue textile Zusammensetzung angeben – und dies wird mitunter kontrolliert. Wenn die Zahlenangaben um einen Prozentpunkt von der tatsächlichen Qualität abweichen, ist ein Bußgeld fällig. Für Bekleidungsimporte hingegen gilt diese Regulierung praktisch nicht. – In einer Weltbankstudie wird ein Unternehmer zitiert, der von unterschiedlichen Bundes- und Landesregulierungen der Höhe der Befestigung von Feuerlöschern berichtet. Seine Lösung war, für jeden Feuerlöscher zwei Halter zu installieren und den Löscher je nach dem, welcher Kontrolleur erschien, umzuhängen. Die Kontrolleure reagierten mit einer Absprache: Sie erschienen gleichzeitig, so daß einer von ihnen ein Bußgeld verhängen konnte. – Brasilianische Unternehmer im formellen Sektor beklagen sich darüber, daß sie regelmäßig von Prüfern des Finanzamts, der Umweltbehörden und anderer staatlicher Stellen aufgesucht werden, daß diese Prüfer aber keine Anstrengungen unternehmen, Firmen im informellen Sektor aufzuspüren und zu prüfen. – Die Zollsätze für Güterimporte ändern sich häufig. Dies erschwert eine Investitionsplanung nachdrücklich. Unternehmer reagieren darauf, indem sie mit der Zollbehörde aushandeln, daß beim effektiven Import der Zollsatz, der zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags galt, angewandt wird. Dies wird jedoch auf hoher Ebene verhandelt, d.h. zwischen Generaldirektor oder Eigner und hohen Zollbeamten, die damit ihre Zeit mit einer Routinetransaktion verplempern.

Abbildung 5 (liegt nicht vor)

Abbildung 6 (liegt nicht vor)

2.3 Teure Häfen

Brasiliens Häfen sind überwiegend langsam und teuer; Abbildung 5 und Abbildung 6 illustrieren dies. Auffällig ist zweierlei: Erstens der große Effizienzrückstand gegenüber anderen Häfen in der Region (Montevideo, Buenos Aires), der dazu führt, daß nicht wenige Unternehmen dazu übergegangen sind, ihre Exporte über diese Häfen abzuwickeln – trotz des ineffizienten Transportsystems (dazu unten mehr). Zweitens zeigt das Beispiel Itajaí, daß es auch anders geht. Itajaí ist ein kleiner Hafen im Bundesstaat Santa Catarina, der hauptsächlich davon profitiert, daß die Kommune, die den Hafen betreibt, vor einigen Jahren ein Programm zur Effizienzsteigerung implementiert hat. Dies Beispiel zeigt, daß trotz der weiterhin bestehenden Regulierungen, insbesondere bei Arbeitsregeln, große Spielräume zur Effizienzsteigerung bestehen.

Gleichwohl ist unstrittig, daß erst eine drastische Reform der Arbeitsregeln zu einem Effizienzniveau führen wird, das näher am international üblichen liegt. In Europa braucht man heute zur Entladung eines Containerschiffes mit zwei Stauräumen etwa 12 Arbeiter. In Santos, dem größten Hafen Brasiliens, erzwingen die Arbeitsregeln beim Entladen den Einsatz von 26 Stauern an Bord, 22 Stauern an Land und 10 Vorarbeitern; beim Beladen sind es sogar insgesamt 66 Arbeiter. Weil der Organisationsgrad dieser Arbeiter hoch ist, stoßen Reformvorstöße bislang auf Granit. Die implizite Exportsteuer, die mit den ineffizienten Häfen verbunden ist, wird auf 6% geschätzt.

2.4 Hohe Transportkosten

Das brasilianische Transportsystem ist insgesamt wenig effizient. Hauptgrund dafür ist ein hoher LKW-Anteil (fast 60% des gesamten Güterverkehrsaufkommens). Bei längeren Strecken ist Eisenbahntransport halb so teuer wie LKW-Transport; aber das brasilianische Eisenbahnsystem war bislang in einem tragischen Zustand. In diesem Bereich verspricht der aktuelle Privatisierungsprozeß partiell Besserung – partiell deshalb, weil er zunächst nichts daran ändern wird, daß es in Brasilien zu wenig Eisenbahnlinien gibt.

2.5 Hohe Lohnnebenkosten

Brasilianische Unternehmen klagen über hohe Lohnnebenkosten, die sich auf mehr als 100% des Nettolohns belaufen können; dabei werden allerdings Elemente wie das (beim Monatsgehalt) mitbezahlte Wochenende, Urlaub und Feiertage mitgezählt. Insgesamt gehört zu den Lohnnebenkosten eine Reihe von sehr unterschiedlichen Posten – von Zahlungen für Nichtarbeitszeit über Sozialversicherungsbeiträge bis hin zu den Beiträgen für die soziale Infrastruktur der Wirtschaft (SESI), die berufliche Bildung (SENAI/SENAC) und die KMU-Beratung (SEBRAE).

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In der brasilianischen Diskussion werden große Hoffnungen auf eine Kostenentlastung der Unternehmen durch eine Reduzierung der Lohnnebenkosten gesetzt. Tatsächlich ist hier jedoch weniger zu holen als in anderen Bereichen – ganz abgesehen davon, daß auch hier jede Reform starke politische Widerstände zu überwinden hat. Eine deutliche Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge ist unrealistisch – zumindest solange keine radikale Reform der Rentenversicherung gelingt. Kürzung oder Streichung der Beiträge zu SENAI/SENAC und SEBRAE würden wenig bringen und wären überdies töricht, denn diese Organisationen funktionieren recht gut.

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3. Standortpolitik in Brasilien: Hauptsächlich Subventionswettlauf

Die Qualität eines Standorts bemißt sich nicht allein an den Kosten wichtiger Produktionsinputs und der materiellen Infrastruktur. Wenn in einer Region die technologische Infrastruktur schwach ist (z.B. keine funktionierende Metrologie), ist dies schwer meßbar, aber gleichwohl für Unternehmen ungünstig. Es ist daher unstrittig, daß Unternehmen bei der Standortwahl mehr als nur die einfach quantifizierbaren Faktoren in ihr Entscheidungskalkül einbeziehen; und es gibt starke Hinweise darauf, daß es letzten Endes „weiche" Faktoren sind (ein unternehmerfreundliches Klima, eine reaktionsschnelle und flexible öffentliche Verwaltung, staatliche Programme zur beruflichen Bildung), die im Standortwettbewerb zählen.

Diese Faktoren sind in Brasilien eher selten anzutreffen. Die öffentliche Verwaltung ist meist inflexibel, langsam und oft wenig kompetent. Organisatorische Neuerungen wie one-stop agencies oder first-stop agencies sind selten. Entscheidungen werden unter politischen Opportunitätsgesichtspunkten gefällt und folgen selten einer ökonomischen Rationalität. Im politischen Raum hat die Einsicht, daß Brasilien im internationalen Standortwettbewerb seine Position behaupten muß, noch nicht Raum gegriffen; zwar gibt es Standortmarketing, doch eher im Stile von Waschmittelreklame – das, was Investoren interessiert, nämlich solide sozioökonomische Daten, ist nur schwer zu bekommen. Der Globalisierungsdiskurs, der derzeit die Diskussion in den OECD-Ländern prägt, hat in der brasilianischen politischen Diskussion noch nicht recht eingeschlagen. Noch immer gibt es Gouverneure, die potentielle ausländische Investoren wie lästige Bittsteller behandeln; und gezielte Programme zur Stärkung des unternehmensbezogenen Umfelds sind die Ausnahme.

Der Standortwettbewerb zwischen brasilianischen Bundesstaaten kennt im wesentlichen ein Instrument: den „Steuerkrieg" (guerra fiscal), d.h. einen Subventionswettlauf, der insbesondere über das großzügige Verteilen von tax credits ausgetragen wird. Andere Instrumente sind z.B. Beteiligungen; dem Staat Paraná beispielsweise gelang es u.a. deshalb, den französischen Autokonzern Renault anzulocken, weil er einige lokale Unternehmen überredete, eine Beteiligung an dem neu zu gründenden Unternehmen zu übernehmen. Darüber hinausgehende Bemühungen um die Schaffung „weicher" Faktoren sind bislang noch die Ausnahme. Eine dieser Ausnahmen ist der Nordost-Bundesstaat Ceará, der in den letzten Jahren deshalb viel Publizität bekam, weil es hier einer Regierung gelang, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen und ein einigermaßen stabiles Umfeld zu schaffen. Ein überproportionaler Zustrom von Neuinvestitionen ist der Lohn. Ähnliche Erfahrungen haben u.a. der Staat Paraná und einige Regionen im Staat Minas Gerais gemacht.


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4. Strukturwandel und Veränderungen im Unternehmensverhalten –
Konsequenzen für Transaktionen mit brasilianischen Unternehmen


Im geschützten Binnenmarkt wiesen brasilianische Unternehmen einen großen Rückstand gegenüber international führenden Unternehmen auf (Abbildung 7). Die Investitionsschwäche
in der Krisendekade der 80er Jahre war nur
ein Grund dafür. Wichtiger war die schon angesprochene Tatsache, daß sich im hochinflationären Umfeld Ineffizienzen leicht verbergen ließen und der Wettbewerbsdruck niedrig war.

Als „Erbe" der Ära der Importsubstitution weisen brasilianische Unternehmen spezifische Charakteristika auf:

• extreme Fertigungstiefe

• Zentralisierung von Entscheidungsstrukturen

• kaum Erfahrung mit detaillierter Kostenrechnung

• geringe Kundenorientierung

• überzogene Gewinnerwartungen

• Widerstände bei Kooperation mit Unternehmen und Institutionen

Abbildung 7

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Seit dem Übergang vom geschützten Binnenmarkt zur Wettbewerbsorientierung verfolgen brasilianische Unternehmen Anpassungsstrategien, um ihren Effizienz- und Qualitätsrückstand gegenüber der internationalen Konkurrenz wettzumachen. Wichtigste Maßnahmen sind Kostenreduzierung (Entlassungen, outsourcing von produktionsfernen Dienstleistungen), Investition in neue Maschinen und Anlagen und Qualitätsprogramme.

Die Anpassung der Unternehmen an das neue Umfeld ist überwiegend „passiv", d.h., die Unternehmen suchen über Entlassungen nach einer Erhöhung der Produktivität, versuchen jedoch nicht, neue Wachstumspotentiale zu realisieren. Sie setzen mehr auf Technik als auf Organisation; moderne Managementmethoden, insbesondere Japan-inspirierte Konzepte, werden trotz großer Erfolge in Pionierunternehmen nur zögerlich eingeführt. Die Fertigungstiefe, die sehr viel höher ist als in den Industrieländern, wird nur langsam verringert, und die Beziehungen zu anderen Unternehmen bleiben distanziert.

Im Kontrast zur defensiven Grundhaltung der „typischen" Unternehmen stehen die Bemühungen einzelner Unternehmen, in Brasilien Produktionskonzepte zu erproben, die selbst in den Industrieländern noch nicht genutzt werden. Die meiste Publizität hat letzthin das neue Kleinlastwagen-Werk von Volkswagen in Rezende im Bundesstaat Rio de Janeiro gefunden. Doch gilt auch das General Motors-Werk als Testfeld für organisatorische Innovationen, und auch brasilianische Unternehmen experimentieren heute mit neuen Organisationsmustern; das größte brasilianische Gießereiunternehmen beispielsweise hat seine Organisation auf nur noch drei Hierarchieebenen verschlankt.

Das Besondere an der VW-Fabrik in Rezende ist die Art der Integration der Systemzulieferer, die die sieben Subsysteme für die Lastkraftwagen montieren: Sie werden alle unter einem Dach untergebracht. Es ist eine Fabrik entstanden, in der bei voller Auslastung 1.200 Beschäftigte arbeiten werden – 200 von VW, 1.000 von den Systemzulieferern. Ein anderer Punkt fällt auf: Die Systemzulieferer sind überwiegend Töchter von ausländischen Unternehmen (Tabelle 2).

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5. Perspektiven für den Standort Brasilien: Catch-22 oder Wachstumsschub?

Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, als steuere die brasilianische Regierung auf ein klassisches Catch-22 zu. Ausgangspunkt war das Bestreben des Präsidenten, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die seine Wiederwahl ermöglichen würde – ein Schritt, der angesichts des Prestiges Präsident Cardosos von vielen Bürgern und den weitaus meisten Unternehmen gutgeheißen würde. Der Catch-22 funktionierte hier wie folgt: Eine nachhaltige Stabilisierung, so die Sichtweise der Regierung und vieler Beobachter, hat Kontinuität in der Politik zur Voraussetzung. Dies impliziert die Wiederwahl Cardosos. Um jedoch die Verfassungsänderung durchsetzen, müßte die Regierung – angesichts der klientelistischen Funktionsweise der brasilianischen Politik – an so viele Parlamentarier Vergünstigungen verteilen (Posten, zusätzliche Investitionen, Einstellung unliebsamer Reformprojekte), daß der Staatshaushalt vollends aus den Fugen geriete und damit die makroökonomische Stabilisierung hinfällig würde.

Mittlerweile sieht es freilich so aus, als könne es auch anders kommen. Die Kernfrage bleibt: Wie stellt die Regierung sicher, daß sie in den jeweils zwei Abstimmungen im Senat und Repräsentantenhaus jeweils 60% der Abgeordneten auf ihrer Seite hat? „Stimmenkauf" ist eine übliche Praxis von Brasilien, und auch die Regierung Cardoso hat wohl davon Gebrauch gemacht – z.B. vor der Abstimmung über eine (letztlich vollständig verwässerte und wertlose) Reform der Rentenversicherung im März 1996. Heute tendieren brasilianische Beobachter allerdings eher zu der Sichtweise, daß die Regierung weit eher auf die Peitsche denn auf das Zuckerbrot setzen wird. Ein wichtiger Baustein ist hier eine parlamentarische Untersuchungskommission, die Ende 1996 eingerichtet wurde, um Unregelmäßigkeiten bei der Ausgabe von bundesstaatlichen Schuldverschreibungen zu durchleuchten. Es ist im Kern unstrittig, daß hier ein beliebig großes Skandalpotential schlummert; und es ist wohl auch so, daß etliche der wichtigsten Gegner Cardosos in diese Praxis verstrickt sind.

Doch auch wenn es der Regierung gelänge, die Verfassungsänderung auf „preiswerte" Weise durchzusetzen, blieben die anderen makroökonomischen Risiken bestehen. Das staatliche Haushaltsdefizit weist eine beunruhigende Dynamik auf; Zahlen sind in diesem Kontext immer mit Vorsicht zu genießen, und der offiziell für 1996 zugegebene Wert (3,5% des BIP) zeigt die untere Grenze des möglichen tatsächlichen Defizits an. Zur Lösung dieses Problems stehen drei Schlüsselreformen an: Rentenversicherung, Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst, Steuersystem. Alle drei stoßen auf hartnäckige Widerstände.

Gefahren drohen der makroökonomischen Stabilisierung auch noch von anderer Seite. In den letzten zwei Jahren ist die brasilianische Leistungsbilanz weit in die roten Zahlen gerutscht. Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger in Brasília werden nicht müde, darauf hinzuweisen, daß dies erstens zu erwarten war und zweitens nicht kritisch ist. Es war zu erwarten, weil die hohen Handelsbilanzüberschüsse der 80er Jahre hauptsächlich auf eine Unterdrückung der Importe zurückzuführen waren, es also einen starken Nachholbedarf gibt, insbesondere für Kapitalgüter. Hinzu kommt, daß die angenehmen ersten Jahre nach dem Brady-Abkommen über die Auslandsschulden langsam vorbei sind und der Finanzierungsbedarf hier wieder zunimmt. Zudem ist das Defizit nicht kritisch, weil es zu einem beachtlichen Teil durch langfristige Kapitalzuflüsse, insbesondere ausländische Direktinvestitionen, geschlossen wird und Brasilien überdies über hohe Devisenreserven verfügt. Dennoch ist nicht auszuschließen, daß entweder das Leistungsbilanzdefizit oder die Diskussion darüber aus dem Ruder läuft und die Regierung zu Feuerwehrmaßnahmen gezwungen wird. Die psychologische Bedeutung der Leistungsbilanz ist für brasilianische Akteure wie für internationale Anleger groß: Die Leistungsbilanz war seit dem 19. Jahrhundert eine der Schlüsselvariablen der wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens, und Leistungsbilanzkrisen haben wiederholt tiefgreifende wirtschaftspolitische Einschnitte nach sich gezogen. Man liegt sicher nicht falsch, wenn man der Leistungsbilanz in der Psychologie brasilianischer Wirtschaftspolitiker eine ähnliche Bedeutung zumißt wie der Preisstabilität in der Psychologie deutscher Wirtschaftspolitiker. Auf Seiten der internationalen Anleger spielen Erfahrungen wie der letzte Mexiko-Schock eine wichtige Rolle; Leistungsbilanzdefizite in Lateinamerika werden im Zweifelsfall anders bewertet als anderswo in der Welt.

Wenn die Regierung sich gezwungen sähe, Maßnahmen zur Begrenzung des Defizits zu ergreifen, insbesondere eine drastische Begrenzung der Importe, so hätte dies vielfältige negative Wirkungen – inländische Anbieter würden die ausbleibenden Importe zu Preissteigerungen nutzen, die Partner im Mercosur wären verprellt, die Industrieländer wären verärgert, die Kapitalmärkte wären beunruhigt, und vor allem: das Prestige des Landes, auf dessen Wiederherstellung Cardoso unendliche Energie verwandt hat, wäre auf einen Schlag zerstört – Brasilien wäre wieder irgendeine merkwürdige lateinamerikanische Republik.

Eine zentrale Variable für die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Jahre ist die Fortsetzung des Privatisierungsprozesses. Die erste Privatisierungsrunde zu Beginn der 90er Jahre führte zu einer nachhaltigen Steigerung der Effizienz, Flexibilität und Qualität in der Stahl- und Chemieindustrie. Die zweite Privatisierungsrunde, die derzeit läuft, bezieht sich (neben dem Verkauf des Bergbaugiganten Companhia Vale do Rio Doce) vor allem auf den Dienstleistungssektor – Transportwesen (Eisenbahnnetze, Straßen und Brücken), Energieversorgung und Telekommunikation. Mit Spannung erwartet wird vor allem der Verkauf der staatlichen Telekommunikationsunternehmen Telebrás (Fern- und Auslandsgespräche), Telesp (im Staat São Paulo) und der drei weiteren regionalen Betreiberunternehmen, die durch die Zusammenfassung der bislang in jedem einzelnen Bundesstaat existierenden Telefonunternehmen entstehen werden. Angesichts des notorischen Nachfrageüberhangs auf dem Telefonmarkt steht zu erwarten, daß die neuen Betreiber Milliardeninvestitionen vornehmen werden, um die Netze zu erweitern und damit der seit langem artikulierten kaufkräftigen Nachfrage gerecht zu werden. Die Privatisierung kann mehrere Probleme auf einmal lösen: Sie bringt dem Staat zusätzliche Einnahmen (Telekommunikationsunternehmen müssen mit „echtem Geld" bezahlt werden, nicht mit irgendwelchen alten, im Grunde längst abgeschriebenen staatlichen Schuldverschreibungen); sie kann eine zusätzliche Belebung der ausländischen Investitionstätigkeit nach sich ziehen und damit helfen, das Leistungsbilanzdefizit zu verringern; und sie verbessert insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Wirtschaft, insbesondere durch die Beseitigung der Transportkostenkomponente des „Custo Brasil".

Deutsche Unternehmen sprachen in der Vergangenheit im Zusammenhang mit ihren Investitionen in Brasilien gerne von „Risikokapital" – eine Begriffsschöpfung, die die Tatsache verschleiern sollte, daß im geschlossenen Markt das unternehmerische Risiko recht gering war. Heute bekommt dieser Begriff eine ganz neue Bedeutung: Brasilien ist ein Standort, der mit einem höheren Risiko behaftet ist als andere emerging countries; und es ist ein Standort, der dies durch eine entsprechende Risikoprämie wettmacht. Aber auch für ausländische Unternehmen gilt, daß die Zeiten eines laschen Wettbewerbsdrucks vorbei sind. Wer diese Risikoprämie einstecken will, muß effizient, flexibel und schnell sein. Wer dies schafft, kann mit etwas Glück von einem schnell wachsenden Markt profitieren.


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