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Südostasien : der Boom in einer kritischen Phase / von Rolf Hanisch. - Bonn, 1997. - 15 S. = 58 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT








[Essentials:]


* Nach dem steilen Anstieg der letzten Jahrzehnte scheint sich der Wirtschaftsboom in den fünf ASEAN-Gründerstaaten – Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien und Philippinen – jetzt zu verlangsamen.
* Das BSP der ASEAN 5 wuchs immerhin von nominal ca. 20,5 Mrd. Dollar (1965) auf 521 Mrd. Dollar (1994), damit verdoppelte sich der Anteil der 330 Millionen Einwohner (6 Prozent der Weltbevölkerung) am Weltsozialprodukt auf 2 Prozent. Das BSP der ASEAN 5 entspricht damit freilich auch heute erst dem Canadas (29 Mill. Einw.) und liegt bei etwa einem Viertel desjenigen Deutschlands (82 Mill. E.) – aber es ist fast doppelt so hoch wie dasjenige Afrikas südlich der Sahara (572 Mill. E.).
* Konjunkturelle Schwierigkeiten in der Elektronikindustrie sowie Lohnkostenprobleme in der Elektronik- und Bekleidungsindustrie deuten strukturelle Engpässe an: Löhne und Lohnstückkosten, die ihre Wettbewerbsfähigkeit zunehmend einbüßen, infrastrukturelle und Umweltprobleme, die kaum noch ignoriert werden können.
* Die Unternehmen reagieren durch eine Multilateralisierung ihrer Produktionsstandorte, Südostasien exportiert nun auch Risikokapital. Thailand und Malaysia und – von einem deutlich höheren Niveau – Singapur müssen nun auch technologisch anspruchsvollere Produkte exportieren. Hier macht sich jetzt jedoch der Mangel an Facharbeitern, Technikern, Ingenieuren und Managern sowie an eigenen Forschungskapazitäten bemerkbar.
* Wachstum basierte bisher weitgehend auf billigen örtlichen Produktionsfaktoren (Land, Rohstoffe, Arbeitskräfte) und ihrer effizienten Kombination, nicht aber auf technologischer Innovation. Die materielle Infrastruktur und die Humanressourcen entsprechen den neuen Anforderungen nicht mehr und werden effektiv immer teurer. Ein Industriewachstum auf der Basis niedriger Löhne und Lohnkosten stößt in Thailand und Malaysia zunehmend an Grenzen und ist wegen des hohen Lohnniveaus in Singapur schon lange nicht mehr möglich, zumal in China, Vietnam, zukünftig vielleicht auch Myanmar, noch billigere Konkurrenten auftreten.
* Die Zuwachsrate der Exporte sowie der Gesamtwirtschaft hat sich abgeflacht, die Anlagebereitschaft des ausländischen Risikokapitals ist rückläufig, die Leistungsbilanzdefizite von Thailand (1995: 8% des BSP, 1996: 7,8%) und Malaysia (1995: 8,7%, 1996: 6%) werden immer gravierender und als Problem nun thematisiert. In diesen Ländern herrscht Kater-, in Thailand sogar Krisenstimmung.
* Arbeitskonflikte häufen sich in der Region. Sie sind Ausdruck eines immer notwendiger werdenden Paradigmenwechsels in der Wirtschaftsstrategie. Mißtrauen herrscht gegenüber den parlamentarisch instabilen Mehrparteienregierungen. In Indonesien formiert sich die Opposition, da die Nachfolgefrage des alternden autoritären Staatschefs zwar nicht akut, aber existent ist.

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Überblick

Südostasien hat in den vergangenen Jahren ein bemerkenswertes Wachstum zu verzeichnen, das sonst nur noch in Ostasien anzutreffen ist. Trotz dieser Leistung sollte allerdings nicht übersehen werden, daß die Wirtschaftskraft der gesamten Region gerade diejenige einer mittelgroßen (alten) Industrienation erreicht hat. Dieses Wachstum wurde von den einzelnen Teilen der Region ungleichmäßig vorangetrieben. In einigen Ländern war es lange Zeit, meist aus politischen Gründen, blockiert. Diese Blockaden wurden inzwischen aufgehoben, so daß es auch hier mittlerweile zu einem beachtlichen Wachstum kommt. Die Länder SO-Asiens befinden sich gegenwärtig auf einem unterschiedlichen Entwicklungsniveau. Sie weisen einige Gemeinsamkeiten, aber auch erhebliche Unterschiede auf.

Nur der ressourcenarme Stadtstaat Singapur begann seine Entwicklung gleich mit der Forcierung der Exportindustrialisierung von Leichtindustrien (zunächst) auf der Basis niedriger Löhne und Lohnkosten. Die ressourcenreichen Flächenstaaten vertrauten zunächst auf die Inwertsetzung ihrer natürlichen Reichtümer für den Export und setzten auf die volkswirtschaftlich problematische binnenorientierte Industrialisierung. Auch bei der Rohstoffexportproduktion zeigten einige Länder schon eine beachtliche Innovationskraft bei der Entdeckung neuer Märkte für Agrarprodukte, so daß sie die Produktpalette für den Weltmarkt zu diversifizieren vermochten. Erst später gingen sie zum Aufbau von Exportindustrien (insbesondere Elektronik, Bekleidung) auf der Basis von Niedriglöhnen über, die ihren Exporten lange Jahre zweistellige Zuwachsraten ermöglichten.

Wachstum ist nur möglich, wenn investiert wird, ein hohes Wachstum bedarf hoher Investitionen, die effizient durchgeführt werden. Die Effizienz der Investitionen und die Nachhaltigkeit der durch sie erzielten Wertschöpfung hängt wesentlich von der Art der Finanzierung ab. Die Boomländer weisen extrem hohe Investitions-, aber auch sehr hohe Sparraten auf, durch die der größte Teil der Investitionen im Lande finanziert werden kann. Die Sparlücke kann zu einem größeren Teil als in anderen Ländern durch den Zufluß von ausländischem Risiko- und Anlagekapital gedeckt werden. Während die ausländische Kreditfinanzierung zu nicht-kommerziellen Bedingungen („Entwicklungshilfe") in den drei wichtigsten Boomländern allenfalls eine untergeordnete Rolle spielte, ist die Aufnahme kommerzieller Auslandskredite von unterschiedlicher Bedeutung.

SO-Asien hat mit seiner weltmarktorientierten Entwicklungsstrategie ein lange Zeit einflußreiches Paradigma in der Entwicklungspolitik widerlegt, das vor einer über den Weltmarkt vermittelten wachstumshemmenden „Abhängigkeit" anstelle einer „autozentrierten Entwicklung" warnte. Zwar wurden die Möglichkeit eines außenorientierten Wachstums nicht bestritten, doch unterstellte man eher ein „Verelendungswachstum" für die Masse der Bevölkerung, ein weiteres Auseinanderdriften der Regionen und Wirtschaftssektoren und die Unmöglichkeit eines Fortschritts auf der technologischen Stufenleiter in diesen „peripheren" Ländern. Vom langanhaltenden Wachstum haben die einzelnen Bevölkerungsgruppen tatsächlich unterschiedlich profitiert, die Erträge des Wachstums wurden ungleich und ungerecht verteilt. Wichtiger ist allerdings die Tatsache, daß sich nicht nur breitere Mittelschichten zu entwickeln vermochten, sondern auch die Armutsgruppen ihre Einkommenssituation grosso modo, wenn auch z.T. auf einem noch sehr niedrigen Niveau, verbessern konnten. Alternative Entwicklungsstrategien in der Region haben in dieser Hinsicht keine besseren Ergebnisse erzielt.

In den letzten beiden Jahren stottert der Boom in einigen Ländern. Es gibt konjunkturelle Schwierigkeiten in der Elektronikindustrie sowie Lohnkostenprobleme in der Elektronik- und Bekleidungsindustrie. Dahinter werden in den einzelnen Ländern unterschiedlich relevante Probleme sichtbar: Löhne und Lohnstückkosten, die ihre Wettbewerbsfähigkeit zunehmend einbüßen, infrastrukturelle Engpässe, Umweltprobleme, die kaum noch ignoriert werden können. Immer mehr Unternehmen reagieren durch eine Multilateralisierung ihrer Produktionsstandorte, Südostasien exportiert nun auch Risikokapital. Thailand und Malaysia und – allerdings von einem deutlich höheren Niveau – Singapur sind gezwungen, nun auch technologisch anspruchsvollere Produkte zu exportieren. Es fehlen dafür gegenwärtig weithin Facharbeiter, Techniker, Ingenieure und Manager sowie eigene Forschungskapazitäten, um angewandte Produktinnovationen und Verbesserungen auch im Lande betreiben zu können. Diese Defizite sind erkannt und an ihrer Lösung wird gearbeitet.

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Wirtschaftsboom seit drei Jahrzehnten

Südostasien fasziniert – neben Nordostasien – seit mehreren Jahrzehnten als die dynamischste Wachstumsregion in der Welt. Das Bruttosozialprodukt stieg über drei Jahrzehnte (1965–94) um über 7% pro Kopf und Jahr in Singapur, um etwas mehr als 5% in Thailand und Indonesien und etwas weniger als 5% in Malaysia. Eine ähnliche Erfolgsbilanz läßt sich nur noch für Korea, Taiwan, Hong Kong und China (5–7%) sowie annähernd für Japan (fast 4%) sowie für die afrikanischen Sonderfälle Botswana (7,5%) und Mauritius (3,9%) konstatieren. Nicht alle Länder SO-Asiens waren jedoch an diesem langanhaltenden Boom beteiligt. Dies gilt für die Philippinen und Myanmar, beides eigentlich Frühstarter in der Kolonialzeit und (die Philippinen) auch danach (in den 50er Jahren), sowie die indochinesischen Staaten Vietnam, Laos und Kambodscha. In diesen Ländern gab es längere Wachstumsdellen, Wirtschaftsblockaden, die sie relativ bzw. absolut zurückwarfen. Vietnam, Kambodscha, Laos und Myanmar gehören heute noch zu den ärmsten Ländern der Welt. Im letzten Jahrzehnt konnte auch in den zurückgebliebenen Ländern eine wirtschaftliche Wachstumsdynamik entfaltet werden, in Thailand, Malaysia und Indonesien wurde diese auf hohem Niveau noch weiter gesteigert, lediglich in Singapur flachte sie auf sehr hohem Niveau etwas ab.

Weltwirtschaftlich läßt sich die Relevanz Südostasiens folgendermaßen verdeutlichen: Das BSP der fünf ASEAN-Gründerstaaten (ASEAN 5) – Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien, die Philippinen – wuchs von nominal ca. 20,5 Mrd. Dollar (1965) auf 521 Mrd. Dollar (1994). Der Anteil am Weltsozialprodukt verdoppelte sich damit von 1% auf 2% – bei einem Anteil (mit 330 Mill. Einw.) von fast 6% an der Weltbevölkerung. Das BSP der ASEAN 5 entspricht damit auch heute gerade dem Canadas (mit 29 Mill. Einw.) und liegt bei etwa einem Viertel desjenigen Deutschlands (82 Mill. E.) – aber es ist fast doppelt so hoch wie dasjenige Afrikas südlich der Sahara (mit 572 Mill. E.). 1965 lag das BSP der ASEAN 5 noch bei etwa drei Viertel desjenigen Afrikas.

Die vergleichende Betrachtung der Wirtschaftsleistung verschiedener Länder und Regionen ist nur möglich, wenn die in nationalen Währungen erfaßten Ökonomien in die internationale Leitwährung, den US-Dollar, umgerechnet werden. Die dabei benutzten Wechselkurse entsprechen jedoch durchaus nicht immer den Kaufkraftparitäten, die man seit einigen Jahren auch zu errechnen und zu berücksichtigen sucht (ausgedrückt in PPP Dollar). Der Abstand zwischen den ärmeren und reicheren Ländern wird dadurch meist etwas vermindert. 1994 lag der PPP Dollar BSP p.c. in Singapur bei 85% desjenigen der USA (1987: 60%) und übertraf damit den Wert für das wiedervereinigte Deutschland (um 12%). Der Wert Malaysias lag immerhin schon bei einem Drittel des US-Werts (1987: 24%), derjenige Thailands bei 27% (1987: 16%), Indonesiens bei 11,4% (1987: 10%) und der Philippinen bei knapp 11% (1987: 10%).

Aus dieser Sicht gehört Singapur – wie auch das benachbarte Hong Kong – schon zu den Ländern mit hohem Einkommen. Die politischen Entscheidungsträger Thailands und Malaysias suchen bis zum Jahr 2020 mit den entwickelten Industrieländern gleichzuziehen, die Philippinen wollen – etwas ambitiös – bis zum Jahr 2000 dem Club der Schwellenländer beitreten. Indonesien und Vietnam haben das Jahr 2019 im Visier.


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Die weltmarktorientierte Entwicklungsstrategie in Asien


Alternative Entwicklungsstrategien

Es galt lange als eine Binsenweisheit, daß ein hohes Wachstum und hohe BSP-Werte p.c. nicht notwendigerweise mit „Entwicklung" gleichzusetzen sind, daß es sich möglicherweise um ein „Verelendungswachstum", nur um die „Entwicklung der Unterentwicklung" und um die Vertiefung der „Abhängigkeit" der Entwicklungsländer von den Industriestaaten, handeln würde. Dabei wurde unterstellt, daß ein durch die Nachfrage und möglicherweise aktive Nachhilfe der Metropolen induziertes Außenhandelswachstum in den Peripherien dort nur zur Ausbeutung der Rohstoffe, der Menschen und der Ökologie führen würde. Dies werde eine Spaltung dieser peripheren Ökonomien in teilmodernisierte Weltmarkt- und krypto-traditionale Binnensektoren bewirken, d.h. die Entfaltungsbedingungen der peripheren Regionen und der armen Menschen in den Peripherien würden noch weiter eingeschränkt und verschlechtert. Diese gespaltenen peripheren Ökonomien sollten von dem durch die kapitalistischen Metropolen dominierten Weltmarkt in dem Sinne abhängig sein, daß es ihnen an Selbststeuerungskapazitäten nahezu völlig ermangele sowie an den Fähigkeiten, entsprechende Kapazitäten aufzubauen bzw. zu erweitern.

Empirische Hinweise, die diese Paradigmen bestätigen bzw. zu bestätigen schienen, gab und gibt es allenthalben in der Dritten Welt, nicht zuletzt auch in Südostasien. Ein Ausbruch aus diesem Teufelskreis des „abhängigen kapitalistischen Verelendungswachstums" schien daher nur durch die revolutionäre Entmachtung der kleinen sog. „Kompradoren-Bourgeoisien" möglich, die als privilegierte Brückenköpfe des Weltkapitals politisch und militärisch diesen Kurs in ihren Ländern abzusichern schienen und daran ganz gut verdienten. Damit sollte eine Abkoppelung vom Weltmarkt und eine Restrukturierung der Wirtschaftsprozesse im Hinblick auf eine binnenorientierte (autozentrierte) und regionale Ausrichtung ermöglicht werden. In Südostasien vermochten die Kommunistischen Parteien nach ihrem Machtantritt in Vietnam, Kambodscha und Laos eine Wirtschaftspolitik durchzusetzen, die diesem Paradigma sehr nahe kam, gleichfalls die sozialistischen Militärs in Birma. Am „konsequentesten" ist hierbei das Pol-Pot-Regime in Kambodscha vorgegangen: Dieses Regime war verantwortlich für eine der großen Tragödien dieses Jahrhunderts, der vermutlich 20% der Bevölkerung (2 Mill. Menschen) zum Opfer fielen.

Heute wissen wir, daß es sich bei diesen Entwicklungswegen um Sackgassen handelte, daß Entwicklungschancen vertan wurden, daß die vielen menschlichen Opfer und Leiden nicht der Preis für eine bessere Zukunft waren, sondern sinnlos vergeudet worden sind.

Der asiatische Weg

Entwickelt hat sich hingegen die erste Generation der ostasiatischen Schwellenländer – Taiwan, Süd-Korea, Hong Kong und Singapur –, die damit das Abhängigkeitsparadigma widerlegten und nebenbei die Entwicklungstheorie in die Krise stürzten. Es handelte sich hierbei auffallenderweise um ressourcenarme Länder. Sie konnten damit nicht in die Entwicklungsfalle tappen, dem viele durch „Reichtum" an natürlichen Ressourcen gesegnete – oder besser – belastete Länder offenbar nicht auszuweichen vermochten: die Konzentration auf ein leichtes Wachstum durch einfache Inwertsetzung von brachliegendem Boden bzw. von Arbeitskräften, auf die Realisierung von Renten bei der Ausbeutung von nicht-erneuerbaren Rohstoffen und die Konzentration auf die Aneignung, Verteilung und Konsumtion dieser Renten, ohne daß ernsthafte Anstrengungen unternommen wurden, dieses fragile Wachstum auf ein stabiles Niveau zu führen. Die afrikanischen Länder und die Ölländer des Orients bieten instruktive Beispiele für derartige Fehlentwicklungen. Der letztgenannte Typus ist mit dem kleinen Sultanat Brunei auch in Südostasien vertreten.

Die bevölkerungsreichen Flächenstaaten in Südostasien stützten ihre Entwicklungsstrategie auch auf die Ausbeutung und Inwertsetzung ihrer natürlichen Ressourcen, auf den Export von Erdöl/Erdgas (Indonesien, Malaysia), von Metallen, Edelhölzern, von Nahrungsmitteln und agrarischen Rohstoffen. Die Länder Südostasiens waren nicht weniger abhängig von der wechselnden Weltmarktentwicklung als andere Rohstoffanbieter. Anders als die meisten afrikanischen Staaten vermochten sie jedoch, ihre Angebotspalette im Agrarsektor erheblich zu diversifizieren und verminderten damit die Verwundbarkeit durch einzelne Monokulturen. Dabei wurden auch neue Wachstumsmärkte erschlossen (wie zeitweise die Cassavaausfuhr als Viehfutter von Thailand nach Europa), durch Senkung der Produktionskosten verschaffte man sich Zutritt in andere Märkte (wie Malaysia und Indonesien in den Kakaomarkt). Thailand und Malaysia waren hierbei wohl die erfolgreichsten und innovativsten Länder, weniger die Philippinen. Für Indonesien blieb zwar, bis zum Preisverfall Mitte der 80er Jahre, der Erdöl-/Erdgassektor dominant, gleichwohl wurde auch hier der Agrarsektor nicht so vernachlässigt und in seiner Entwicklung behindert wie etwa in Venezuela und Nigeria.

Auch in Südostasien folgte man zunächst dem lateinamerikanischen und afrikanischen Irrweg einer sog. importsubstituierenden binnenmarktorientierten Industrialisierung für Konsumgüter (ISI), den die ostasiatischen Schwellenländer (plus Singapur) weitgehend vermieden hatten. Diese Industrialisierungsstrategie erlaubt hinter hohen Schutzzöllen zunächst auch hohe Wachstumsraten der Industrieproduktion, die jedoch bald an die Grenzen des zu engen Binnenmarktes stoßen und dann abflachen. Die Binnenmärkte werden durch diese Industrien selbst verknappt: Ihre Finanzierung erfolgt z.T. über gespaltene Wechselkurse, also durch indirekte Subventionen durch die (agrarischen) Exportsektoren, ihr Beitrag zur produktiven Beschäftigung (und damit zu den Masseneinkommen) ist gering aufgrund des begünstigten kapitalintensiven Charakters der Produktion. Die Produkte sind oft minderwertig und teuer, da ohne Binnenwettbewerb Oligopolpreise durchgesetzt werden können, auf Produktinnovationen und Kostenrationalisierungen verzichtet werden kann. Die ISI bestimmte die Industrialisierung in den Philippinen in den 50er und 60er Jahren, in Thailand in den 60er Jahren, in Malaysia bis in die 70er und in Indonesien bis in die 80er Jahre. Ab Anfang der 70er Jahre in den Philippinen und in Thailand, etwas später in Malaysia und eigentlich erst in den 80er Jahren in Indonesien begann man mit der Exportindustrialisierung mit lohnintensiven Leichtindustrien auf der Basis niedriger Lohnkosten. Diesen Weg hatte Singapur praktisch seit Beginn seiner Industrialisierung eingeschlagen. Die Exportindustrien konnten sich weder aus den ISI-Betrieben entwickeln, noch vermochten sie sich mit diesen zu vernetzen (z.B. als Abnehmer von Zwischengütern), da die minderwertigen und zu teuren Produkte der ISI-Betriebe auch die Wettbewerbsfähigkeit der Exportfabriken auf dem Weltmarkt beeinträchtigt hätten. Diese wurden daher parallel – in den Philippinen und Malaysia zum Teil in exklusiven Exportzonen – aufgebaut. Maschinen und Zwischenprodukte konnten kaum aus dem Lande bezogen, sondern mußten importiert werden. Der Verkauf der besseren Produkte auf dem Binnenmarkt wurde administrativ unterbunden oder stark eingeschränkt, um die für ihre Betreiber profitablen, aber ineffizienten ISI-Betriebe zu schützen. Die tatsächliche Wertschöpfung im Lande ist daher relativ gering, der Nettoexportwert liegt erheblich unter dem Bruttoexportwert, den die Außenhandelsstatistik ausweist. Gleichwohl gelang auch durch diese Exportindustrialisierung eine beeindruckende dynamische Entwicklung in einigen ASEAN-Staaten.

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Sparen = Investieren = Wachstum

Ein hohes wirtschaftliches Wachstum über einen längeren Zeitraum ist nur möglich, wenn zuvor in aussichtsreiche Unternehmungen effizient investiert wird. Die Investitionsrate (bezogen auf das BSP) ist in den südostasiatischen Wachstumsökonomien extrem hoch. Während sie in Lateinamerika bei nur etwa 20%, in Afrika sogar noch niedriger bei etwa 16% angenommen wird, liegt sie in Indonesien und Malaysia bei deutlich über 30%, in Singapur und inzwischen auch Thailand um die 40%. Mit diesen Spitzenwerten können in Asien lediglich die Philippinen (um 20%) und bisher auch noch die indochinesischen Staaten, die allerdings in den letzten Jahren einen Investitionsboom erleben (Vietnam: 1989: 11,6%, 1994: 20%; Kambodscha: 1991: 9,4%, 1995: 22,4%), sowie Myanmar (ca. 13%), nicht mithalten. Nicht jede Investition fördert jedoch das wirtschaftliche Wachstum. Kathedralen, „weiße Elefanten" dienen symbolischen, nicht jedoch wirtschaftlichen Zwecken. Investitionen können im Preis-Leistungsverhältnis kostengünstig oder überteuert realisiert werden, u.a. in von vornherein aussichtslose oder doch riskante Unternehmen, die sich nicht materialisieren lassen und nur Investitionsruinen hinterlassen.

Als eine vereinfachte Faustregel kann gelten: Die Rentabilität und Nachhaltigkeit staatlicher und staatlich vermittelter Investitionen kann geringer als die von privaten Unternehmen unter Marktbedingungen angenommen werden, da soziale, politische sowie klientelistische Motive die rein wirtschaftlichen Ziele der Investitionsentscheidungen überlagern und beeinträchtigen können. Investitionen, die durch Ersparnisse im Ausland finanziert werden, werden einen Teil ihrer Wertschöpfung als Zinsen, Dividenden und Gewinntransfers wieder ins Ausland abgeben müssen. Nur wenn es sich dabei um Investitionen ausländischer Unternehmen handelt, die dazu möglicherweise noch technologische Kompetenzen, Marktübersicht sowie Marktkontrolle einbringen, stehen den Zuflüssen auch Rücktransfers der wirtschaftlich produktiven Investitionen gegenüber. Das ist nicht notwendigerweise bei der Aufnahme kommerzieller und auch nicht-kommerzieller Kredite („Entwicklungshilfe") der Fall. In Afrika werden die knappen Investitionen im modernen Sektor vornehmlich durch Entwicklungshilfe finanziert und durch staatliche und öffentliche Träger realisiert, in Lateinamerika durch eigene Ersparnisse und über kommerzielle Kredite.

In SO-Asien vermögen die Boomländer, sehr hohe eigene Ersparnisse zu bilden und ausländische Unternehmen zu Direktinvestitionen zu motivieren. Daneben spielt auch die kommerzielle und nicht-kommerzielle Kreditaufnahme eine unterschiedliche Rolle.

Singapur dürfte (in den 90er Jahren) mit einer Bruttosparrate von fast der Hälfte des BSP einen Spitzenplatz in der Welt einnehmen, auch Malaysia, Thailand und Indonesien mit ungefähr 34-35% liegen deutlich über den Werten der europäischen Industrieländer sowie Lateinamerikas (jeweils etwa 20%) oder gar Afrikas (etwa 15%). In SO-Asien finden wir nur in den Philippinen (18%) ähnlich niedrige, in Vietnam und Myanmar (jeweils 12%) und Kambodscha (vielleicht 7%) extrem niedrige Werte.

Nach SO-Asien flossen 1990-95 im Jahresdurchschnitt mehr als 14 Mrd. Dollar Investitionskapital privater Unternehmen – das war nominal fünfmal mehr als Anfang der 80er (2,9 Mrd. Dollar) und über dreimal mehr als in der zweiten Hälfte der 80er Jahre (4,4 Mrd. Dollar). Im Weltmaßstab ist dieser Betrag immer noch relativ bescheiden (7%), da die meisten Direktinvestitionen in Industrieländern getätigt werden. Unter den Entwicklungsländern war SO-Asien allerdings eine der wichtigsten Anlageregionen und wird an Dynamik neuerdings nur von der VR China übertroffen, in der die ausländischen Kapitalanlagen erst seit 1993 diejenigen in SO-Asien übertreffen.

Singapur ist in SO-Asien nach wie vor das wichtigste Anlageland für ausländisches Risikokapital, wird allerdings seit den 90er Jahren von Malaysia dicht bedrängt (1990-95: 4,8 bzw. 4,4 Mrd. Dollar p.a.). Setzt man die Direktinvestitionen ins Verhältnis zur Bruttokapitalbildung, so ergeben sich für beide Länder extrem hohe Werte (28,4 bzw. 22,4%). Auf die bevölkerungsreichen Flächenstaaten Indonesien, Thailand und mit einigem Abstand die Philippinen entfallen zusammen kaum mehr Direktinvestitionen als auf den Stadtstaat Singapur. In Thailand wird heute deutlich über die Hälfte der verarbeitenden Industrie von ausländischen Unternehmen kontrolliert (1986: 49%), in den Philippinen (1987: 41%) und Malaysia (1990: 38%) kann man von nur leicht schwächeren Anteilen ausgehen. Bezogen auf das Anlagevermögen ausländischer Unternehmen finden sich – nach der VR China – Singapur (2.), Indonesien (3.), Malaysia (4.) und Thailand (10.) in der kleinen Spitzengruppe von zehn Anlageländern, auf die zwei Drittel des gesamten ausländischen Anlagevermögens in Entwicklungsländern entfällt.

Der größte Teil der ausländischen Investitionen kommt inzwischen aus benachbarten asiatischen Staaten, aus Japan, den fortgeschrittenen Schwellenländern Hong Kong, Taiwan, Süd-Korea und aus Singapur selbst. Auch Unternehmen aus Malaysia und Thailand, vereinzelt aus den Philippinen und Indonesien investieren inzwischen im Ausland, in den anderen ASEAN- und den indochinesischen Staaten sowie in China.

Zuflüssen von Privatkapital stehen aber auch Abflüsse von Investitionserträgen gegenüber. In der Region wurden so z.B. 1990-94 63,7 Mrd. Dollar von ausländischen Unternehmen investiert und 115,8 Mrd. Dollar an Gewinnen und Dividenden wieder abgezogen. Das eigene Investitionseinkommen (im Ausland) betrug immerhin schon 59 Mrd. Dollar (und ging zu 2/3 nach Singapur). Eine Gegenrechnung dieser Kapitalströme – wie nicht selten praktiziert, um „Ausbeutungsverhältnisse" und „Kapitalabflüsse" zu dokumentieren – ist nicht möglich, da die Wertschöpfung und Exporte der so errichteten Betriebe ignoriert werden.

Nicht-kommerzielle Kredite und verlorene Zuschüsse spielen in den Philippinen und Indonesien und neuerdings in den indochinesischen Staaten eine gewisse Rolle bei der Finanzierung der öffentlichen Investitionen, in Thailand und Malaysia sind sie inzwischen von marginaler Bedeutung. Während in den afrikanischen Staaten der Anteil der Entwicklungshilfe am BSP meist über 10% beträgt, liegt er in den Philippinen nur bei 1,6%, in Indonesien bei 1%, in Vietnam und Kambodscha – mit stark steigender Tendenz – inzwischen schon bei 7,5% (1995).

Die Philippinen, Indonesien und auch Thailand und Malaysia haben auch zunehmend kommerzielle Kredite im Ausland aufgenommen. Während der Anteil (aller) Auslandsschulden in Afrika etwa 79%, Lateinamerika etwa 37% des BSP entspricht, liegt dieser Wert für Malaysia bei 37%, Thailand 43%, Indonesien und die Philippinen immerhin bei 57% bzw. 60%. Der Schuldendienst stellt lediglich für die Philippinen und Indonesien immer wieder ein Problem dar, das durch Umschuldungen bereinigt werden muß (Quote des Schuldendienstes zu den Exporten 1994: 21,9% bzw. 32,4%). Für Thailand kann die Schuldendienstquote (1994: 16,4%) als normal gelten. Malaysia vermochte seine Auslandsschulden sogar z.T. schon vorzeitig zurückzuzahlen (Quote 1994: 7,9%).


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Gewinner und Verlierer des Wirtschaftsbooms

Die Reichen und Superreichen sind gewiß die sichtbarsten Gewinner. Alte begüterte Familien konnten ihre Vermögen erheblich ausweiten, viele wurden sogar von Aufsteigern quasi aus dem Nichts überflügelt. Die großen privaten Vermögen von Familienclans werden in die hunderte von Millionen Dollar, in Einzelfällen in die Milliarden Dollar taxiert. Es handelt sich bei ihnen notwendigerweise um einen kleinen Kreis, in der wirklichen Spitze um einige Dutzend bis einige hundert Familien in den großen Ländern. Sie dürften ihren Abstand zur übrigen Bevölkerung ausgebaut haben. Verteilungsgerechtigkeit ist nicht nur für Moralisten ein Problem. Es ist zudem vor allem von entwicklungspolitischem Interesse, wie sich mittlere und untere Einkommen, wie sich Mittelschichten und Armutsgruppen unter den Bedingungen des Booms entwickelt haben. Allein die Abwesenheit großer Privatvermögen bzw. die Nivellierung der Einkommen der Eliten verbessert nicht die Situation der unteren und mittleren Schichten. Die sozialistischen indochinesischen Staaten haben dies eindrucksvoll demonstriert, was von ihren politischen Führungen inzwischen eingesehen wird.

In den Boomländern können wir für die mittleren und unteren Einkommensbezieher eine Verbesserung ihrer Lage feststellen. Diese erfolgte durch Aufstieg via besserer Ausbildung in qualifiziertere und besser entlohnte Tätigkeiten im sekundären und tertiären Sektor, durch die Diversifizierung der Einkommensmöglichkeiten etwa für arme und unterbeschäftigte Landbewirtschafter, schließlich zuletzt auch durch den Anstieg der Reallöhne auch für untere Lohngruppen. Singapur ist am weitesten vorangeschritten und hat inzwischen ein Lohnniveau erreicht, das dem in westeuropäischen Ländern nahekommt und eine Beschäftigung von (akademisch ausgebildeten) Europäern zu den örtlichen Bedingungen (und ohne Auslandssubventionen) für diese durchaus attraktiv erscheinen läßt. Die Folge daraus ist: Die Mittelschichten klagen – und sprechen von einem „middle class squeeze" –, daß sie aufgrund der staatlich verteuerten und steigenden Preise immer größere Schwierigkeiten hätten, sich einen privaten PKW und eine (moderne) Eigentumswohnung zu leisten. Auch in Malaysia sind die mittleren Einkommen für europäische Betrachter inzwischen interessant geworden. In beiden Ländern herrscht inzwischen Vollbeschäftigung. Für harte, schmutzige und relativ schlecht bezahlte Tätigkeiten (im Plantagensektor, auf dem Bau, im Haushalt) fehlen Arbeitskräfte und werden Gastarbeiter aus den Philippinen, Indonesien, Bangladesch beschäftigt.

In den großen Flächenstaaten Thailand, Indonesien und die Philippinen haben sich die Verhältnisse noch nicht so weit entwickelt. Die Gruppe der mittleren Einkommensbezieher ist schmaler, deren Einkommen geringer, Arbeitslosigkeit und vor allem Unterbeschäftigung ist noch ein Problem, auch die Einkommen der ärmeren Schichten sind generell niedriger als in den beiden erstgenannten Ländern. Das Gefälle zwischen diesen drei Ländern wird auch durch die Betrachtung der transnationalen Wanderarbeit deutlich: Während aus den Philippinen ein Millionenheer in der Diaspora Arbeit zu bekommen versucht, ist die Arbeitsmigration aus Indonesien und vor allem Thailand (inzwischen) eher bescheiden. Thailand ist hingegen selbst Aufnahmeland für meist illegale Arbeitsmigranten aus seinen ärmeren Nachbarstaaten. Versuchen wir die Mittelschichten zu quantifizieren, so ergibt sich folgendes Bild: Wenn man diese Gruppe soziologisch faßt und zu ihr Manager, Verwaltungsbeamte und Techniker sowie die Angestellten zählt, so umfaßt sie 48,7% aller Beschäftigten in Singapur, 22,4% in Malaysia, 11,5% in den Philippinen, 9,5% in Thailand und 8,8% in Indonesien.

Die Philippinen fallen hier etwas aus dem Rahmen, da die z.T. sehr niedrigen Einkommen auch dieser Berufsgruppen hier nicht berücksichtigt werden. Wenn man die Meßlatte sehr hoch anlegt (30.000 Dollar Jahreseinkommen 1992), so sind nur 0,05% aller Haushalte in den Philippinen, 0,1% in Indonesien, 0,8% in Thailand, 2,1% in Malaysia und 11,5% in Singapur von der Einkommensseite her zur Mittelschicht zu rechnen. Dennoch geht auch in SO-Asien das Prestigedenken dahin, daß jeder versucht, einen Fernseher und einen eigenen privaten PKW zu besitzen. Autos sind hier teurer als in den OECD-Ländern, in Singapur werden sie – zugunsten eines reibungslos fließenden Verkehrs und hervorragend funktionierender öffentlicher Verkehrsmittel – extrem verteuert. Wenn man den Sonderfall Singapur außer acht läßt, kann man davon ausgehen, daß Autohalter und auch die Besitzer der billigeren Motorräder einen Lebensstil pflegen werden, der sich nicht nur auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse beschränken läßt. Bezieht man die Haltung privater PKW und Motorräder (ohne Taxen und dergleichen) auf die Zahl der Beschäftigten, so verfügen in Malaysia 1994 84% (1990: 72%), in Thailand 31% (21%), in Singapur 27% (25%), in Indonesien 10% (1990) und in den Philippinen 3,6% (2,9%) über ein eigenes Fahrzeug.

Wenn wir das Ergebnis des Booms am Fuß der gesellschaftlichen Pyramide betrachten, gibt es erhebliche Probleme. Über die Höhe der „Armutslinie" läßt sich trefflich streiten, es gibt meist für jedes Land verschiedene Auffassungen, methodische Berechnungen, unterschiedliche Probleme der Datenerhebung, so daß man allenfalls von einer eingeschränkten Vergleichbarkeit der Länderdaten ausgehen kann. Gleichwohl scheint der Trend eindeutig zu sein: Die Armut wurde in den Boomstaaten vermindert. In Singapur wird seit 1982 keine Armut mehr ausgewiesen (1972: 7%). In Malaysia wurde der Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 49% (1970) auf 19% (1989), in Indonesien von 39% (1976) auf 14% (1993) gedrückt. Unerfreulicher scheint die Entwicklung in Thailand verlaufen zu sein, wo die 80er Jahre keine Verminderung der Armut gebracht haben. In den Philippinen fluktuierte die Armutsrate in den Jahren des Verfalls, den 80er Jahren, um die 50%-Marke, mittlerweile soll sie auf 41% (1994) gefallen sein. Für die übrigen Staaten der Region existiert keine Tradition der Armutsstatistik. Für Laos und Vietnam hat die Weltbank 1992 eine Armutsquote von 46% bzw. 51% ermittelt. In Kambodscha und Myanmar dürften die Verhältnisse noch schlimmer sein. Über den Daten, die einen Rückgang der gemessenen Armut in den Flächenstaaten zutreffend signalisieren, soll aber nicht übersehen werden, daß auch viele Menschen oberhalb dieser Schwelle noch recht arm sind, in relativ ungesicherten Verhältnissen leben, sich erheblich einschränken müssen. In Indonesien und Thailand nehmen die Arbeitskonflikte in den letzten Jahren zu und z.T. archaische Formen an, da eine geregelte Konfliktbewältigung durch institutionalisierte (autonome) Tarifpartner be- oder verhindert wird. Diese Proteste, Streiks und Ausschreitungen signalisieren in der Regel jedoch nicht eine zunehmende Verarmung der betroffenen Arbeitnehmer, wie es in der journalistischen Berichterstattung suggeriert wird, sondern finden auf der Basis zwar niedriger, aber steigender Reallöhne bzw. Einkommen statt. Sie erfolgen allerdings in einer schwierigen Situation des Umbruchs und eines immer notwendiger werdenden Paradigmenwechsels in der Wirtschaftsstrategie.


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Der Boom am Ende?

Seit 1995/96 stottert der Boom. Die Bekleidungsindustrie (in Thailand) und die Elektronikindustrie erlebten 1996 z.T. reale Einbrüche. Die Zuwachsrate aller Exporte sowie der Gesamtwirtschaft flachte sich damit etwas ab (um 2–3% gegenüber dem hohen Niveau der Vorjahre). Die Anlagebereitschaft des ausländischen Risikokapitals ist zudem gleichfalls rückläufig, allerdings auch immer noch auf einem hohen Niveau. Die Leistungsbilanzdefizite von Thailand (1995: 8% des BSP, 1996: 7,8%) und Malaysia (1995: 8,7%, 1996: 6%) werden immer gravierender und als Problem nun thematisiert. In Singapur weist die Leistungsbilanz hingegen einen Überschuß von 18% des BSP (1995) auf. In Thailand müssen sie zunehmend durch kurzfristige Auslandskredite finanziert werden. In diesen Ländern herrscht Kater-, in Thailand sogar Krisenstimmung. In Bangkok werden vereinzelt Fabriken geschlossen, Arbeiter entlassen, die Gewinnmargen nehmen ab, die Börse schrumpfte 1996 wie keine andere auf der Welt (um 30%). Den parlamentarisch instabilen Mehrparteienregierungen traut man keine Problemlösungskompetenzen zu.

Eine politische Verunsicherung ist auch in Indonesien festzustellen. Die Nachfolgefrage des alternden (autoritären) Staatschefs ist zwar nicht aktuell, gleichwohl existent. Oppositionskräfte versuchen sich zu positionieren und liefern sich blutige Straßenschlachten mit den Ordnungskräften. Ausschreitungen richten sich wieder zunehmend auch gegen die chinesische Minderheit, die eigentlichen Leistungsträger im Lande, die sich ihrer Position in einer möglicherweise unruhigen Transitionsphase und post-Suharto-Zeit nicht mehr ganz sicher sein kann.

Auch die politischen Entscheidungsträger sind sich darüber im klaren, daß sie es nicht nur mit einer Konjunkturflaute und temporären Überhitzungserscheinungen zu tun haben, sondern mit strukturellen Problemen. Einige Kritiker weisen darauf hin, daß auch in Südostasien das Wachstum bisher weitgehend durch die Inwertsetzung billiger örtlicher Produktionsfaktoren (Land, Rohstoffe, Arbeitskräfte) und ihrer effizienten Kombination erfolgte, nicht aber durch technologische Innovationen. Der Ausbau der materiellen Infrastruktur und der Humanressourcen hielt nicht mit dem Boom mit, im Gegenteil, er wird ihm immer weniger gerecht und damit effektiv immer teurer. Ein Industriewachstum auf der Basis billiger Löhne und niedriger Lohnkosten stößt inzwischen in Thailand und Malaysia zunehmend an seine Grenzen und ist aufgrund des hohen Lohnniveaus in Singapur schon lange nicht mehr möglich, da inzwischen auch die Löhne z.T. über den Produktivitätsfortschritt gestiegen sind und in China, Vietnam, zukünftig vielleicht auch Myanmar, noch billigere Konkurrenten auftreten.

Die Umweltkosten wurden bisher weitgehend vernachlässigt bzw. ignoriert, diese Politik wird in Zukunft kaum mehr durchzuhalten sein. All dies bedeutet, daß gewaltige Investitionen in die Infrastruktur und die Umwelt vorgenommen werden müssen, daß die Exportproduktion von lohnintensiven einfachen Produkten auf höherwertige anspruchsvollere Produkte umgestellt werden muß, daß Technologien nicht nur importiert und adaptiert, sondern auch kreativ weiter- oder neu entwickelt werden müssen. SO-Asien wird immer weniger angelernte Arbeiter, mehr Facharbeiter, Techniker und Ingenieure sowie Forscher und Produktentwickler in seinen Fabriken beschäftigen müssen, will es nicht von den nachrückenden Billiglohnländern vom Markt verdrängt werden, ohne die vor ihm liegenden Schwellenländer herausfordern zu können.

Die Probleme stellen sich in der Region allerdings unterschiedlich dar: Das fortgeschrittene Singapur ist mit seiner hervorragenden Infrastruktur längst nicht nur Industriestandort, sondern Dienstleistungs- und Kommunikationszentrum für die gesamte Region. Es besitzt hohe Devisenreserven und schon beträchtliche eigene Auslandsinvestitionen und auch einen hohen Ausbildungsstand seiner Bevölkerung sowie eine handlungsfähige Regierung von Technokraten. Thailand wird die größten Probleme in der Region haben, einen hohen Wachstumskurs beizubehalten. Hier sind zu nennen: die Infrastrukturprobleme der Mega-Metropole Bangkok, die Beschränkung der weiteren Expansion der Großstadt und die Entwicklung des Hinterlandes und schließlich die Umstellung der Industrien von „low tech" auf „high tech" unter den Bedingungen einer immer noch schlecht ausgebildeten Bevölkerung.

Malaysia liegt vielleicht zwischen beiden Ländern, während die übrigen Länder der Region Nachzügler mit den noch vertrauten Problemen und Wachstumspotentialen sind.

Wenn wir die Qualifikation der Arbeitskräfte betrachten, um die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu verdeutlichen, so ergibt sich folgendes Bild: In Indonesien haben etwa 2% der Arbeitskräfte eine tertiäre Ausbildung (Hochschule, College) genossen, in Thailand etwa 5%, in Malaysia 10% und in Singapur mehr als 15%. Das ist jedoch nur die formal-quantitative Seite. Eine 1996 durchgeführte Untersuchung des Erziehungsministeriums Singapurs ergab, daß die Studienabgänger gute analytische Fähigkeiten besitzen würden, aber nicht kreativ und innovativ seien, nicht mit Problemen umgehen könnten, die nicht genau definiert würden. Um diese Kreativität will man sich nun durch ein „Thinking Skills Programme" bemühen. Die spannende Frage wäre aber, ob diese „kompetenten, aber nicht kreativen Studenten und Akademiker" ein Produkt der spezifischen Form der praktizierten Lehre, des Lernens und der Prüfungen sind (was man prinzipiell kurzfristig reformieren könnte), hier ihre (jahrhundertealte) Kultur („Konfuzianismus") durchschimmert (was allenfalls langfristig abzubauen wäre) oder die aktuellen politischen Verhältnisse des semi-autoritären Staates, in dem eine Interessenartikulation zwar möglich ist, aber durch (meist wirtschaftliche) Sanktionen entmutigt wird, nicht nur die politische, sondern auch die allgemeine akademische Selbständigkeit in Mitleidenschaft zieht (was man ändern könnte, aber wohl nicht will).

Für Malaysia geht man von einer Verschlechterung des Niveaus der akademischen Ausbildung aus. Hier kann man eindeutig politische Ursachen lokalisieren: Um die wirtschaftlich rückständigen Malaien an die wirtschaftlich dominierenden Chinesen heranzuführen, hat die von Malaien geführte multi-ethnische Regierung u.a. Bahasa Malaysia als verbindliche Unterrichts- und Amtssprache durchgesetzt und sucht den Malaien durch Quoten einen bevorzugten Zugang zu den Hochschulen (und später zum öffentlichen Dienst) zu verschaffen. Damit diskriminiert man jedoch nicht nur die Chinesen und Inder im Lande, sondern auch die bisher weit verbreitete ehemalige Kolonial- und Amtssprache Englisch, die heutige weltweite Geschäfts- und Wissenschaftssprache. Die Chinesen fanden dennoch einen Weg, ihre akademischen Karrieren zu absolvieren, nachdem ihnen der Zutritt zu den öffentlichen Hochschulen im Lande verwehrt wurde. Die Begüterten schickten ihre Söhne und Töchter ins (englischsprachige) Ausland, die etwas weniger Vermögenden zunächst an private Hochschulen im Lande und erst dann, in der Examensphase, ins (teuere) Ausland. Auch die malaiischen Studenten an den malaiischen Hochschulen sehen sich mit Problemen konfrontiert. In der von ihnen beherrschten Sprache findet sich kaum wissenschaftliche Literatur – diese erscheint eben überwiegend in Englisch. Das Ergebnis ist, daß viele malaiische Studenten nur aus ihren Vorlesungsskripten lernen und sich auf ihre Prüfungen vorbereiten und auch ihre Examensarbeiten praktisch ohne die Lektüre der Fachliteratur schreiben. Die chinesischen Akademiker können durch ihre bessere Sprach- (Englisch) und allgemeinen akademischen Kenntnisse ihren Wettbewerbsvorsprung vor ihren malaiischen Konkurrenten auf dem privaten internationalisierten Arbeitsmarkt nun wieder ausbauen.

Die Regierung sah sich daher 1995 gezwungen, Englisch als Unterrichtssprache begrenzt wieder einzuführen, außerdem sollen die privaten Universitäten im Lande Prüfungsrechte bekommen, und die staatlichen Universitäten sollen als Korporationen effizienter geführt und an die Privatwirtschaft angebunden und kommerzialisiert werden.

Bevor diese Maßnahmen aber überhaupt greifen können, wird man in Malaysia, wie in Singapur und Thailand mit einer akuten Nachfragelücke nach qualifizierten Ingenieuren und Managern auskommen müssen, um die ein harter Konkurrenzkampf der Unternehmen tobt, ein vergleichender Investitionsreport spricht von einer „grimmigen Kopfjagd". Für die Dekade 1990–2000 hat man in Malaysia allein bei Ingenieuren einen Bedarf von 153.000 neuen Stellen (Stand 1990: 99.000) prognostiziert, dem ein Potential von nur 125.000 ausgebildeten Landeskindern gegenübersteht. Um den Marktzugang von Universitätsabsolventen aller Fächer zu beschleunigen, hat der Erziehungsminister im August 1996 kurzerhand das Grundstudium von vier auf drei Jahre verkürzt. Gleichwohl kommt man nicht umhin, qualifizierte Akademiker auch im Ausland anwerben zu müssen. Singapur scheint auch in dieser Frage am zielstrebigsten vorzugehen. Die Regierung sucht in aller Welt per Anzeige und durch die Entsendung von Anwerbemissionen (1995: sieben in die USA, Großbritannien, Indien und Australien) Interessenten für offene Stellen zu gewinnen und bietet diesen gegebenenfalls auch das Bürgerrecht an. Man sucht auch Personal für die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (F + E), ein Gebiet, in dem bisher Singapur seinen Nachbarstaaten vorausgeeilt ist, das in allen Ländern aber weiter aus- oder aufgebaut werden muß. Singapur wendet 1991 immerhin schon 1% des BIP für F + E auf, 1995 sollten es 2% sein, was etwa dem Niveau der anderen Schwellenländer (z.B. Koreas) entspricht und damit auch in die Reichweite der relativen Forschungsausgaben in den alten Industrieländern rückt. Malaysia versucht, Singapur zu folgen und strebt für das Jahr 2000 eine Quote von 2% des BIP für F + E an (1990: 0,8%), während Thailand und die übrigen Länder der Region noch deutlich zurückliegen. Die Fortsetzung des Wirtschaftsbooms in Singapur, Malaysia und Thailand hängt nicht nur davon ab, daß mehr für die Ausbildung ihrer Arbeitskräfte und für die Forschung ausgegeben wird, sondern von der Verbesserung der Qualifikation der Beschäftigten und der angewandten Forschung. Bisher wird in Malaysia und Thailand vorwiegend durch staatliche und universitäre Einrichtungen Geld für F + E ausgegeben (85% bzw. 93% der gesamten Mittel). Notwendig ist die Ausweitung der (möglicherweise staatlich geförderten) privaten Forschung, deren Praxisrelevanz vermutlich höher einzuschätzen ist als die der öffentlichen Forschung. In Singapur wie in anderen fortgeschrittenen Schwellenländern (etwa Süd-Korea) wird schon heute mehr in den privaten Unternehmen für Forschung ausgegeben als im öffentlichen Sektor (ca. 60%). Das ist vielleicht auch ein Indikator für die Reife dieser Volkswirtschaften. Thailand und Malaysia müssen dieser Entwicklung noch folgen.

Die südostasiatischen Wachstumsökonomien stehen damit gegenwärtig in einer nicht einfachen Umbruchphase. Obwohl die zu bewältigenden Probleme schwierig und offensichtlich sind, ist ein zu großer Pessimismus oder auch Häme in Hinblick auf ihren zukünftigen Wachstums- und Entwicklungskurs nicht angebracht.


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