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Beamtenstaat Japan? / von Michael Ehrke. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1997. - 18 S. : graph. Darst. = 60 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT








Essentials:


* Fast 40 Jahre Dauerherrschaft der LDP haben zu einer eigenartigen Symbiose zwischen Politik und Beamtenschaft geführt. Japan ist das einzige entwickelte Industrieland, das nie eine Regierung links von der Mitte hatte. Da die großen Linien konservativer Wirtschaftspolitik nie zur Disposition standen, konnten die Beamten bisher in einem dauerhaften Bezugssystem agieren.
* Japan hat im internationalen Vergleich einen „schlanken" Regierungsapparat. Kosten und Personalumfang werden strikt kontrolliert. Nur 7,9% aller Beschäftigten Japans standen (1990) im Dienst des Staates (Deutschland 15,2%, USA 15,5%, Frankreich 22,6%).
* Das Problem der japanischen Administration ist gerade nicht ihre Größe, sondern die beanspruchte allumfassende Regulierungskompetenz. Gerade weil die japanische Bürokratie im Ruch der Allmacht steht, weil sie den Eindruck eines allzuständigen Managements erzeugt hat, werden ihr die wirtschaftlichen Rückschläge angelastet – nicht den Politikern.
* Das japanische Verwaltungshandeln ist sehr viel stärker durch Kompromisse als durch eine in sich konsistente Strategie bestimmt. Selbst das MITI vermochte seine industriepolitische Strategien – wenn überhaupt – nur in einer durch Kompromisse verwässerten Form zu verwirklichen.
* Die im Ausland oft bewunderte „Kultur des Dialogs" zwischen Staat und Wirtschaft basiert auf der permanenten Rückversicherung beider Seiten über Gültigkeit und Reichweite der bestehenden Regeln. Das kontinuierliche Bemühen um Konsens mit den privaten Unternehmen ersetzt transparente und im Zweifelsfall auch mit rechtlichem Zwang durchgesetzte Regeln.
* Bisher kann die Macht der Beamten lediglich von denjenigen auf die Probe gestellt werden, die über einen privilegierten Zugang zu wichtigen Politikern oder über ausreichende Mittel verfügen, um ein aufwendiges Gerichtsverfahren durchzustehen (z.B. Großunternehmen und der LDP nahestehende Interessengruppen).
* Eine wirkliche Reform der japanischen Verwaltung wird nur dann realisiert werden, wenn sich die regierende LDP in ihrer Position ernstlich bedroht sieht. Es hängt davon ab, ob die LDP-Politiker die derzeitige politische Situation nach ihrem Wahlsieg als Rückkehr zum business as usual verstehen, oder ob sie sie infolge des Verfehlens der absoluten Mehrheit noch als Krise empfinden.

[Einleitung]

Als die neu ernannten Minister des Kabinetts Hashimoto ihre Erklärungen zur Amtseinführung abgaben, folgten sie einem bekannten Ritual: Sie betonten die Verantwortung und Bedeutung der ihnen jeweils unterstellten Behörde, wobei sie fast ohne Ausnahme nicht für sich selbst sprachen, sondern Statements verlasen, die ihre Beamten angefertigt hatten. Außerdem versprachen alle eine grundlegende Reform des Beamtenapparats. Ein Beobachter vermerkte, daß dies eigentlich nur als schlechter Witz verstanden werden könne: Das Versprechen einer Verwaltungsreform, vorgetragen von Ministern, die sich mehrheitlich darauf beschränkten, von der Verwaltung verfaßte Loblieder auf die Behörden nachzusingen?

Die Reform der Verwaltung war im Grunde das einzige Wahlversprechen gewesen, das die Parlamentskandidaten in den Unterhauswahlen vom Oktober 1996 abgegeben hatten – praktischerweise stimmten alle Parteien hierin überein. Die Politiker konnten auf ein mittlerweile weit verbreitetes Ressentiment gegen die Bürokraten Japans bauen. Das einstige Elitekorps, dessen Leistungsfähigkeit als Grundlage des „japanischen Wirtschaftswunders" galt – der amerikanische Historiker Chalmers Johnson etwa sah in den Beamten des MITI die wichtigsten Protagonisten des Wirtschaftserfolgs –, hat an Ansehen verloren. Anlässe hierfür gab es genug. Sie reichen von der Verwicklung hoher Beamter in die Recruit-Affäre und der Unfähigkeit des Finanzministeriums, die Exzesse der bubble economy in den Griff zu bekommen, über die skandalöse Inkompetenz der Behörden nach dem Erdbeben von Kobe, die jahrelange Duldung der Aum-Sekte durch die Polizei und den Skandal um HIV-verseuchte Blutkonserven bis hin zu einer Reihe von Bestechungsaffären im MITI und im Gesundheitsministerium, die das Publikum im Vorfeld des Wahlkampfs von 1996 erregten. Muß – so wäre zu fragen – das Loblied auf die japanische Beamtenschaft umgeschrieben werden in eine Skandalchronik? Haben sich Autoren wie Chalmers Johnson geirrt, oder haben sich die Bedingungen so verändert, daß aus einer einst leistungsfähigen Beamtenschaft eine Belastung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung wurde?

Im folgenden sollen Strukturen, Personal und Rechtsstellung des japanischen Beamtenapparats sowie sein Verhältnis zur privaten Wirtschaft und zur Politik skizziert werden. Dabei wird zu zeigen sein, daß sich einige Charakteristika der japanischen Bürokratie – ihr Aktivismus, ihre Flexibilität, ihre partielle Autonomie –, die oft als Vorzüge gerühmt wurden, auch als Nachteile erweisen können, insbesondere unter der Voraussetzung eines instabilen politischen Umfeldes und einer stagnierenden Wirtschaft.

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1. Ein kleiner Regierungsapparat

Im Zentrum des japanischen öffentlichen Dienstes stehen 12 Ministerien und 34 nachgeordnete Behörden (agencies), von denen 13 dem Büro des Premierministers unterstellt sind; die Generaldirektoren von acht dieser 13 Behörden haben den Rang eines State Minister. Der oberste Beamte jedes Ministeriums ist der Administrative Vice Minister, der dem Minister untergeordnet ist, aber als der eigentlich mächtige Mann jeder Behörde gilt. Die Ministerien sind in jeweils sechs bis 12 Büros aufgeteilt; die Büros gliedern sich entweder direkt in Sektionen oder in Abteilungen, die wiederum in Sektionen aufgeteilt sind. In den Sektionen, den Arbeitseinheiten der Behörden, sind üblicherweise 30 bis 40 Beamte tätig. – Dem nationalen öffentlichen Sektor hinzuzurechnen sind 92 „öffentliche Korporationen" sowie eine geringe Anzahl staatlicher Unternehmen.

Ministerien und Zentralbehörden beschäftigten 1992 (ohne Selbstverteidigungskräfte und Staatsanwälte) ca. 820.000 Personen, davon 320.000 in einer rechtlichen Sonderstellung, u.a. als Angestellte des Post- und Forstdienstes. In den „öffentlichen Korporationen" waren 600.000 Bedienstete tätig. Hinzukommen 2,8 Millionen lokaler Regierungsangestellter. Der öffentliche Sektor insgesamt beschäftigte 1992 5 Millionen Vollzeit-Arbeitskräfte. Gemessen an der Gesamtbeschäftigung war er damit der kleinste öffentliche Dienst unter den entwickelten Industrieländern: Nur 7,9% aller Beschäftigten Japans standen 1990 im Dienst des Staates – etwa die Hälfte des Anteils öffentlich Bediensteter in den USA und Deutschland. In den Zentralbehörden ging die Beschäftigung zudem seit 1967 kontinuierlich zurück (von 900.000 auf 820.000); demgegenüber stieg die öffentliche Beschäftigung auf der lokalen Ebene im selben Zeitraum von 2 auf 2,8 Millionen.

Das Image Japans als eines „bürokratisierten" Landes wird durch den Umfang seines öffentlichen Sektors nicht belegt. Die Daten zur Beschäftigung werden untermauert durch den Anteil des öffentlichen Verbrauchs (in erster Linie Löhne und Gehälter) am Sozialprodukt. Auch nach diesem Kriterium ist der öffentliche Sektor Japans deutlich kleiner als der der westlichen Industrieländer. Undisplayed Graphic

Undisplayed Graphic

Ein der Bürokratie oft zugeschriebenes Verhaltensmuster, ihr „Ausufern", der scheinbar unausweichliche Anstieg der Beschäftigung und der Kosten, läßt sich in Japan nicht beobachten. Japan unterhält kein big government, sondern einen im internationalen Vergleich „schlanken" Regierungsapparat, der einen nur begrenzten Teil der wirtschaftlichen und personellen Ressourcen des Landes absorbiert und einen entsprechend größeren Teil der privaten Verwendung beläßt.

In instrumenteller Hinsicht geht diese Beschränkung auf zwei Faktoren zurück:

Zum einen setzt das Finanzministerium jedem Ministerium (und damit den nachgeordneten agencies) in jedem Haushaltsjahr eine Obergrenze (budget ceiling) der Kostenexpansion. In den 80er Jahren lag diese Obergrenze mehrfach bei Null bzw. war negativ. Die Ministerien waren gezwungen, Budgets vorzulegen, deren Gesamtumfang in mehreren Jahren schrumpfte bzw. nicht anstieg. Von einigen Ausnahmen (Entwicklungshilfe, Forschung, Umweltschutz) abgesehen waren die budget ceilings in der Regel für alle Behörden dieselben, d.h. das Finanzministerium beugte dem Kampf der Behörden um Haushaltsmittel dadurch vor, daß es allen dasselbe Opfer auferlegte.

Zweitens hielten mehrere Verwaltungsreformen, die in unregelmäßigen Abständen initiiert wurden, die Expansion der Bürokratie in engen Grenzen. Die erste dieser Reformen wurde Ende der 40er Jahre im Rahmen des von den amerikanischen Besatzungsbehörden auferlegten Stabilisierungsprogramms (Dodge Line) realisiert; über 300.000 Angestellte der (gewerkschaftlich stark organisierten) Eisenbahnen, der Post und der Telefongesellschaft NTT wurden entlassen. 1964 wurde mit dem Law on the Total Number of Public Personnel die Zahl der öffentlichen Bediensteten per Gesetz limitiert; 1967 wurden alle Ministerien angewiesen, ein Büro aufzulösen, wobei ihnen überlassen blieb, welches. In den 80er Jahren wurde unter Einfluß des Unternehmerverbandes Keidanren ein weiteres Reformprogramm aufgelegt. Die staatlichen Eisenbahnen, das Telekommunikationsmonopol NTT, das staatliche Salz- und Tabakmonopol, Teile von Japan Airlines und mehrere Staatsunternehmen wurden privatisiert, die den Ministerien auferlegte Disziplin der budget ceilings wurde verschärft.

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2. Kompetenz, Konkurrenz, Kreativität

Anwärter auf den öffentlichen Dienst müssen ein Eintrittsexamen absolvieren, das, gegliedert in drei Examensklassen, die spätere Karriere bestimmt. Erfolgreiche Kandidaten der Klasse I – ausschließlich Männer zwischen 20 und 25 Jahren – sehen einer Karriere in den Spitzenämtern des japanischen Staatsdienstes entgegen, während sich die Absolventen der Klasse II mit mittleren Positionen und die der Klasse III mit dem Rest der öffentlichen Posten begnügen müssen. Es gibt keine Möglichkeit, die Prüfung zu wiederholen. Das Verhältnis von Anwärtern und erfolgreichen Absolventen in der Klasse I schwankte in den letzten Jahrzehnten zwischen 10 zu 1 und 42 zu eins, d.h. der höhere öffentliche Dienst hatte immer die Möglichkeit, sein Personal aus einem breiten Angebot hochqualifizierter Anwärter zu rekrutieren. Es waren the best and brightest eines jeden Jahrgangs, die eine öffentliche Karriere einschlugen. Höhere Beamte haben in ihrer Mehrheit ein Jurastudium absolviert und rekrutieren sich aus wenigen Spitzenuniversitäten. Nur 15 der etwa 450 Universitäten des Landes stellen einen nennenswerten Anteil erfolgreicher Anwärter auf den öffentlichen Dienst; 30 bis 40% sind Absolventen der Tokyo University, und hiervon studierte die große Mehrheit an der Juristischen Fakultät.

Das Eintrittsexamen wird bei allen Anwärtern auf den öffentlichen Dienst von einer von den einzelnen Ministerium unabhängigen Behörde, der National Personnel Authority, überwacht, die auch für Fragen der Beamtenbesoldung zuständig ist. Nach dem Examen verbleiben die erfolgreichen Absolventen im Verlaufe ihrer Karriere in einer einzigen Behörde; ein Wechsel ist so gut wie ausgeschlossen. Nur in den wenigen Fällen, in denen neue Behörden gebildet wurden (1955 die Economic Planning Agency, 1970 die Environment Agency und 1974 die National Land Agency), wurden diese aus dem Personalbestand der etablierten Ministerien besetzt. Innerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Behörde, von der sie eingestellt wurden, sind die Beamten Generalisten. Sie werden im Durchschnitt alle zwei Jahre versetzt, in langjähriger Tätigkeit erfahrene Spezialisten können sich nicht herausbilden.

Die Qualität der jeweils neuen Positionen – vor allem die mit ihr verbundenen Aufstiegs- und Weiterbildungschancen, die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, internationale Erfahrungen zu machen usw. – hängt von den in der Vergangenheit erbrachten Leistungen ab. Das bedeutet, daß die Beamten des höheren Dienstes unablässig miteinander um Aufstiegschancen konkurrieren und sich in den Augen ihrer Vorgesetzten immer wieder auszeichnen müssen. Der (höhere) öffentliche Dienst Japans ist „aktivistisch". Die Rivalität der Individuen setzt sich fort in der Rivalität der Sektionen, Abteilungen, Büros und schließlich der Ministerien selbst.

Die erfolgreichsten Beamten können nach 15 Jahren Dienst damit rechnen, zum Sektionschef aufzusteigen; nach 22 bis 25 Jahren steht ihnen der Posten eines stellvertretenden Büroleiters und nach 25 bis 28 Jahren der eines Büroleiters offen. Der Posten des Administrative Vice Minister, den in der Regel nur ein oder zwei Mitglieder einer Altersgruppe erreichen, setzt 28 bis 32 Dienstjahre voraus. Er wird zwei Jahre lang von einem Beamten besetzt, der danach – meist im Alter von unter 55 Jahren – aus dem Dienst scheidet. Mit ihm ziehen sich alle Mitglieder seines Jahrgangs aus dem aktiven Dienst zurück. Die Karriere eines höheren Beamten ist also nicht nur mit häufigen Wechseln verbunden, sondern auch vergleichsweise kurz.

Nach der Pensionierung wechseln höhere Beamte auf hochdotierte Posten entweder im privaten Sektor, in die erwähnten öffentlichen Korporationen oder auf hohe Posten in den Präfekturen und lokalen Verwaltungen. Der Übergang in den privaten Sektor ist durch eine Zwangspause (in der Regel zwei Jahre) eingeschränkt; außerdem sollen Beamte nicht in Unternehmen wechseln, für die sie in den letzten Jahren ihres Dienstes zuständig waren. Die Wirkung dieser Einschränkungen ist aber begrenzt. Der Übergang zu den öffentlichen Korporationen ist nicht beschränkt; die meisten höheren Verwaltungsposten dieser Einrichtungen werden automatisch durch ehemalige Beamte besetzt, ein Verfahren, das auf Kritik gestoßen ist, zum einen, weil die Aufstiegschancen für die Angestellten der Korporationen blockiert werden, zum anderen – und dies ist der eigentliche Vorwurf –, weil zumindest einige Korporationen geschaffen wurden bzw. aufrechterhalten werden, um pensionierten Beamten einen sicheren Landeplatz zu verschaffen.

Die Qualität der Beschäftigung nach der öffentlichen Karriere – sowohl das Einkommen als auch die Beschäftigungsdauer – hängt vom erreichten Rang in der Behördenhierarchie ab. Die Konkurrenz um Aufstiegschancen wird also nicht nur durch das während der öffentlichen Karriere zu erzielende Einkommen (die Gehälter richten sich nach der Zahl der Dienstjahre und liegen um etwa 10% unter denen vergleichbarer Posten in der Privatwirtschaft) motiviert, sondern vor allem durch die Aussicht auf eine besonders attraktive Stellung nach Abschluß der Karriere. Die Praxis des Übergangs hoher Beamter in den privaten Sektor oder in öffentliche Korporationen gleicht einer „aufgeschobenen Kompensation".

Kompetenz, Konkurrenz und – in dem von den Strukturen eingeschränkten Umfang – Kreativität sind die Stichworte, mit denen sich der höhere öffentliche Dienst Japans in der Vergangenheit kennzeichnen ließ. Die Kompetenz ist durch das hohe formale Qualifikationsniveau der Anwärter, durch strenge, aber transparente Auswahlkriterien sowie einen lebenslangen Lernprozeß in häufig wechselnden Positionen gewährleistet – freilich unter Verzicht auf Vorteile der Spezialisierung. Für Konkurrenz unter den Beamten sorgt ein streng meritokratisches Karrieremuster, in dem die Leistung eines jeden kontinuierlich geprüft und an der seiner Rivalen gemessen wird. Zur Kreativität zwingt nicht nur die Konkurrenz, sondern auch die Knappheit an Haushaltsmitteln und Personal. Es gab wenig Möglichkeiten, neu auftretende Probleme dadurch anzugehen, daß man sie mit Geld und neuen Posten zudeckte.

Es gibt auch eine andere Seite der Medaille: Die enge Bindung jedes Beamten an seine Behörde und die Konkurrenz der Behörden um knappe Posten und Mittel haben nicht nur das Aufkommen eines behördenübergreifenden Korpsgeistes verhindert, sondern auch dazu geführt, daß die Koordination zwischen den Ministerien schwach ist und die Rivalität der Ministerien zuweilen absurde Formen annimmt. Wenn ein neues gesellschaftliches oder wirtschaftliches Problem auftaucht, nutzen die Ministerien oder die Büros ihre Kreativität auch, um dieses Problem dem eigenen Kompetenzbereich einzuverleiben. Als in den 70er Jahren die „Senioren" als Gruppe entdeckt wurden, die der behördlichen Fürsorge bedurften, überboten sich Arbeits-, Wohlfahrts- und andere Ministerien mit „Altenprogrammen". In Erinnerung ist der „Telekom-Krieg" zwischen MITI und Postministerium um die Regulierung der Telekommunikation. Eine konsequente Deregulierung des Finanzsektors scheiterte nicht zuletzt an der Rivalität des Banking Bureau und des Security Bureau innerhalb des Finanzministeriums.

Die schwache innere Koordination des japanischen öffentlichen Sektors ist allerdings nicht dem öffentlichen Dienst selbst zuzuschreiben, sondern den Defiziten eines politischen Systems geschuldet, das über das Kabinett und das Amt des Premierministers die Aufgabe der behördenübergreifenden Koordination übernehmen sollte. Doch die Politik freilich trägt nicht nur nichts zur Überwindung des behördlichen Partikularismus bei, sondern tendiert eher dazu, ihn zu verstärken.

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3. Der Mythos der Allmacht

Die japanischen Beamten besaßen in der Vergangenheit und besitzen auch heute noch ein hohes Maß an Autorität. Ein anekdotisches Beispiel: Der Leiter eines europäischen Unternehmens hat sich zu jedem Jahreswechsel bei seiner zuständigen Behörde einzufinden, muß sich in die Schlange der Wartenden einreihen, sich vor einem leeren Schreibtisch verbeugen und seine Visitenkarte auf einem Tablett hinterlegen. Auf die Frage, was geschehe, wenn er sich diesem Ritual nicht unterziehe, wurde ihm bedeutet, der Versuch, dies herauszubekommen, sei keine gute Idee.

Der Eindruck der bürokratischen Allmacht ergibt sich zum einen aus der offensichtlichen Dominanz der Beamten im Gesetzgebungsprozeß. Über 90% aller Gesetzesvorlagen einschließlich der jeweiligen Ausführungsbestimmungen werden in den Ministerien erarbeitet – ein Anteil, der das japanische System von den USA, nicht aber von den meisten kontinentaleuropäischen Ländern unterscheidet. Die Dominanz der Ministerien in der technischen Vorbereitung der Gesetzgebung bedeutet freilich ebensowenig wie in anderen parlamentarischen Systemen, daß die Beamten die Gesetze „machen". Checks and balances sind erstens die regierende LDP, deren Mitglieder von Anfang an an der Gesetzesvorbereitung mitwirken, und deren Policy Affairs Research Council jeder Gesetzentwurf zu passieren hat, bevor er das Kabinett erreicht, zweitens die ungewöhnlich große Zahl an Beratungsgremien und gemischten Komitees, die den Vertretern des privaten Sektors formelle Mitwirkungsmöglichkeiten an der Vorbereitung der Gesetzgebung eröffnen, und drittens der parlamentarische Prozeß selbst. Die Intensität, in der sich die Politiker und privaten Interessenten an der Gesetzesvorbereitung beteiligen, hängt natürlich davon ab, inwieweit politische und wirtschaftliche Interessen von dem jeweiligen Gesetz tangiert werden können; auf jeden Fall aber ist der Gesetzgebungsprozeß von dem Versuch begleitet, schon lange vor der Verabschiedung eines Gesetzes durch das Parlament den Konsens aller Interessenten und Betroffenen herbeizuführen. Die „Autonomie" der Verwaltung in der Vorbereitung des Gesetzgebung ist also durchaus begrenzt.

Eine zweite Grundlage des Eindrucks bürokratischer Allmacht liegt in dem besonderen Verhältnis zwischen dem Staatshaushalt und den Haushalten der Kommunen. Die Kommunen ziehen zwar eigene Steuern ein, diese reichen aber nicht aus, um die ihnen obliegenden Aufgaben zu finanzieren. Der zentrale Staatshaushalt nimmt 60% der in den Kommunen jährlich gezahlten Steuern ein und zahlt hiervon etwa die Hälfte wieder an die Kommunen zurück. Diese Rückzahlung kann in dreierlei Form erfolgen. Entweder erhalten vor allem ärmere Kommunen eine Art Finanzausgleich aus dem generellen Staatshaushalt, über die sie nach Gutdünken verfügen können; die Vergabe erfolgt nach strikten Regeln, der Umfang der Mittel richtet sich nach dem Einkommen der Kommunen. Eine zweite Form der Steuerumverteilung verläuft über öffentliche Arbeiten und Bauprojekte aus dem generellen Staatshaushalt; die Verteilung der verfügbaren Mittel hängt zu einem hohen Anteil von der subjektiven Bewertung der zuständigen Beamten ab. Die dritte Form erfolgt über den „zweiten Staatshaushalt" bzw. den öffentlichen Investitionshaushalt (FILP – Fiscal Investment and Loan Program) und besteht aus vergünstigten Krediten, die durch die zuständigen öffentlichen oder halböffentlichen Korporationen und Unternehmen kanalisiert werden. Mittel aus dem FILP werden auf Nachfrage vergeben, d.h., die Kommunen müssen miteinander um die Gunst der zentralen Behörden konkurrieren. Auch hier verfügen die Beamten über weite Ermessensspielräume. Eingeschränkt wird der Spielraum behördlicher Willkür bei den beiden letztgenannten Mechanismen der Steuerumverteilung weniger durch transparente Regeln als durch die „Vermittlung" der Politiker, der Repräsentanten der Wahlkreise im Unterhaus.

Die dritte Ursache des Eindrucks bürokratischer Allmacht ist die „Allzuständigkeit" der Ministerien, die in deren Gründungsstatuten niedergelegt ist. So ist das MITI laut Gesetz von 1952 verantwortlich für die ‘Förderung’ von und den ‘Ausgleich’ in Industrie und Handel, ihm obliegt es, die Produktion, die Verteilung und den Konsum von Industriegütern und Bergbauprodukten zu ‘überwachen’, zu ‘fördern’ und ‘auszugleichen’. Das Ministerium soll die ‘Rationalisierung’ und den ‘Ausgleich’ der industriellen, kommerziellen und Bergbauaktivitäten fördern, ihm obliegt die Planung und Anpassung von Angebot und Nachfrage, insbesondere im Energiebereich, es soll kleine und mittlere Unternehmen ‘anleiten’. Es kontrolliert den Devisenverkehr, ist verantwortlich für Industriestandards, öffentliche Unternehmen und das Alkoholmonopol und überwacht die technischen Ausbildungsstätten. Diese allumfassende Zuständigkeit ist nicht nur in den Statuten des Ministeriums niedergelegt, sie wird auch von einer aktivistischen, auf das möglichst umfassende Management „ihres" Wirtschaftsbereichs zielenden Beamtenschaft kontinuierlich bestätigt.

Der allumfassenden Zuständigkeit widerspricht allerdings die Tatsache, daß die gesetzlichen Mittel der Behörden zur Durchsetzung gesetzlicher oder administrativer Vorgaben beschränkt sind. Ein Beispiel ist wiederum das MITI. Es gelang dem MITI nie, den Kompetenzen, die es in der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewonnen hatte, eine gesetzliche Grundlage zu verschaffen. 1958 scheiterte es mit einem Gesetz, das seine Politik der Rezessionskartelle legalisieren sollte, am Widerstand der Gewerkschaften, der Vereinigungen der kleinen und mittleren Industrie, Agrarkooperativen und Verbraucherorganisationen, die sich im Vorfeld der Gesetzgebung bei der LDP Gehör zu verschaffen wußten. Und auch 1963 scheiterte es mit einem Gesetz zur Förderung ausgewählter Industrien (Designated Industries Promotion Special Measures Bill), das Konzentrations- und Rationalisierungsmaßnahmen für die Stahl-, Automobil- und petrochemische Industrie vorsah. Da zudem die Devisenkontrollen eingeschränkt und schließlich aufgehoben wurden, fehlte dem Ministerium auch ein wirksames extralegales Instrument, um den privaten Unternehmen seine Vorstellungen aufzuzwingen. Es war zunehmend darauf angewiesen, den Konsens mit den Unternehmen zu finden. Die Bemühung um Konsens ist zwar kein Kennzeichen nur der japanischen Administration; eine Besonderheit ist jedoch, daß auch die Drohung mit rechtlichen Zwangsmitteln als ultima ratio der Durchsetzung administrativer Vorgaben in Japan nicht glaubwürdig ist.

Die Praxis der „administrativen Anleitung" (administrative guidance), d.h. des einer gesetzlichen Grundlage entbehrenden Verwaltungshandelns, wird meist als Indiz für die starke Position der japanischen Behörden angesehen; sie verweist auf große Ermessensspielräume in der Interpretation der oft vage formulierten Gesetze. Sie enthält aber auch ein Element der Schwäche, da die Nichtbefolgung administrativer Anleitungen letztlich nicht sanktioniert werden kann. Im Konfliktfall können sich die Betroffenen entweder an die Politiker oder an die Gerichte wenden. In beiden Fällen besteht zumindest die Gefahr, daß die Behörden ins Unrecht gesetzt und die Grenzen ihrer Zuständigkeit sichtbar werden. Die Beamten versuchen daher zu vermeiden, daß die Politiker oder die Gerichte in einen Konflikt hineingezogen werden. Im Ergebnis war und ist das Verwaltungshandeln sehr viel stärker durch Kompromisse bestimmt als durch eine in sich konsistente Strategie.

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4. Behörden und Unternehmen

Die Regulierung in der Form der administrative guidance beläßt den Behörden weite Ermessensspielräume, die jedoch jederzeit rechtlich oder politisch eingeengt werden können. Für die Unternehmen bedeutet dies, daß die staatliche Regulierung trotz der beklagten Vielzahl von Vorschriften nicht die Form einer unüberwindlichen Barriere annimmt, sondern im Einzelfall modifiziert werden kann. Ob eine Vorschrift gilt oder nicht bzw. wie sie gilt, kann Verhandlungssache sein. Die im Ausland oft bewunderte „Kultur des Dialogs" zwischen Staat und Wirtschaft gründet auf dem Zwang zur permanenten Rückversicherung beider Seiten über Gültigkeit und Reichweite der bestehenden Regeln. Das System ist flexibel, seine Entscheidungen sind allerdings schwer kalkulierbar – was insbesondere von ausländischen Unternehmen beklagt wird. Die hohe Flexibilität ist auch für die Unternehmen mit Kosten verbunden: Sie müssen die Beziehungen zu den für sie zuständigen Beamten systematisch „pflegen". Als Spezialisten hierfür wirken die aus dem aktiven Dienst ausgeschiedenen Staatsdiener, die in das Management der privaten Firmen übernommen wurden.

Das kontinuierliche Bemühen um Konsens mit den privaten Unternehmen ersetzt transparente und im Zweifelsfall auch mit rechtlichem Zwang durchgesetzte Regeln. Es ist nicht in jedem Fall vom Erfolg gekrönt: Die japanische Wirtschaftsgeschichte ist voller Konflikte zwischen Behörden und Unternehmen, in denen sich die Behörden oft nicht durchsetzen konnten. Das MITI vermochte seine industriepolitischen Strategien – wenn überhaupt – nur in einer durch Kompromisse verwässerten Form zu verwirklichen. Es gelang ihm weder, die Autoindustrie durch Konzentration zu rationalisieren, noch, die sechs großen Elektronikunternehmen zu drei Gruppen zusammenzufassen (bürokratische Mißerfolge, die der industriellen Entwicklung aller Wahrscheinlichkeit nach eher genutzt als geschadet haben). Der Einfluß des MITI war selbst dort begrenzt, wo das Ministerium eine besonders starke Stellung hätte haben müssen: Bei der Bildung und Überwachung von Kartellen. Die starke Position der Behörde liegt hierbei in dem gemeinsamen Interesse der Kartellmitglieder an einer neutralen Instanz, die „Trittbrettfahrertum", den Bruch von Kartellabkommen durch einzelne Firmen, verhindern kann. Doch auch in der Position als Kartellwächter konnte sich das MITI oft nicht gegen einzelne Unternehmen durchsetzen, die das Kartell offen durchbrachen. Der Versuch, den Abbau niedergehender Industrien – der Baumwollspinnerei, der Kunstfaserproduktion, des Kohlebergbaus, des Schiffbaus, der nicht-integrierten Eisen- und Stahlindustrie – durch Kartelle zu regeln, verlief weitaus konfliktreicher, unharmonischer und irrationaler, als westliche Beobachter oft annehmen. In anderen Fällen – der Erdölraffinerie, der Zement- und Glasindustrie, – konnten und können Kartelle aufrechterhalten werden, weil auch die Zahl der Anbieter „künstlich" niedrig gehalten wird. Auch in der Bauwirtschaft, der Domäne des Ministry of Construction – ein Wirtschaftssektor mit 520.000 Unternehmen –, werden große öffentliche Projekte nur an Konsortien vergeben, an deren Spitze einer der 11 großen Baukonzerne (General Contractors) steht. Die niedrige Zahl der möglichen Bewerber um öffentliche Bauaufträge erleichtert deren Zusammenspiel bei der Bildung eines de facto-Kartells.

Trotz der technokratischen Präferenzen der MITI waren hinsichtlich sowohl der vom Parlament verabschiedeten Gesetze als auch der involvierten staatlichen Mittel (Steuererleichterungen, Kredite, Subventionen) die Großunternehmen traditioneller Industrien (Stahl, Petrochemie) und kleine und mittlere Unternehmen die im Vergleich zu den Wachstumsbranchen weitaus bevorzugten Empfänger staatlicher Vergünstigungen. Auch in Japan wurde Wirtschaftspolitik zu einem hohen Anteil als Sozial- oder Regionalpolitik betrieben – um den Arbeitskräfteabbau in niedergehenden Industrien zu verlangsamen oder um die sehr große Zahl von Kleinunternehmern politisch zu befrieden. Natürlich gab es auch eine Reihe beachtlicher industriepolitischer Erfolge, etwa die vom MITI geförderte Stärkung der kleinen Zulieferfirmen für die Automobilindustrie oder die Forschungskooperationen in der Computerindustrie. Gleichwohl konnte selbst das MITI konsistente Strategien nur in Ausnahmefällen durchsetzen, sei es, weil es schon im Vorfeld Kompromisse mit den privaten Interessen eingehen mußte, sei es, weil die Opponenten im Verein mit den Politikern und rivalisierenden Behörden eine interessenpolitisch motivierte Verwässerung durchsetzen konnten. Und was für das MITI gilt, gilt in weit größerem Ausmaß für die weitaus stärker politisierten Ministerien für Landwirtschaft, Bau und Transport.

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5. Beamte und Politiker

Der öffentliche Dienst Japans gilt als nicht politisiert, als parteipolitisch neutral. In der Tat obliegt die Auswahl der höheren Beamten, wie erwähnt, einer unabhängigen Prüfungsbehörde, und der Aufstieg erfolgt nach streng meritokratischen Regeln. Offene Interventionen der Politiker in die „inneren Belange" der Ministerien, insbesondere in die Personalpolitik, sind die Ausnahme. „Parteipolitische Neutralität" ist allerdings ein Euphemismus, da fast 40 Jahre lang dieselbe Partei die Regierung besetzte und an alternative Loyalitäten ohnehin nicht gedacht werden konnte. Erst mit dem Regierungswechsel 1993 wurde dieser stabile politische Rahmen brüchig.

Fast 40 Jahre Dauerherrschaft der LDP haben zu einer eigenartigen Symbiose zwischen Politik und Beamtenschaft geführt. Japan ist das einzige entwickelte Industrieland, daß nie eine Regierung links von der Mitte hatte. Die großen Linien konservativer Wirtschaftspolitik standen daher nie zur Disposition; insofern konnten die Beamten in einem dauerhaften Bezugssystem agieren. Gleichzeitig sahen die Politiker ihre Hauptaufgabe nicht im Entwurf politischer Strategien auf nationaler Ebene, sondern in der Versorgung ihrer Wahlkreise mit staatlichen Mitteln und Vergünstigungen, von der ihre Wiederwahl abhing. So konstatierte der ehemalige Premierminister Takeshita in seltener Deutlichkeit: „Politics are roads and roads are politics". Die Politiker waren in erster Linie an den Behörden interessiert, die für die Wahlkreisversorgung relevant waren: den Ministerien für Landwirtschaft, Transport und vor allem Bau. Die Parteiausschüsse für Bau, Transport und Landwirtschaft erfreuten sich daher einer weitaus größeren Mitgliedschaft von LDP-Politikern als etwa die Ausschüsse für Arbeit oder Äußeres. Dies ist weiterer ein Grund dafür, daß einige japanische Ministerien wie das MITI eine unübliche Autonomie zu genießen schienen: All die Bereiche, die für die wahlpolitischen Interessen der LDP-Politiker sekundär waren, konnten die Beamten weitgehend ohne äußere Einmischung verwalten. Nur in Ausnahmefällen kam es zum Konflikt zwischen den technokratischen Strategien der Behörden und den Wahlinteressen der Politiker. In diesen Situationen freilich hatten die Politiker, die die Gesetze letztlich verabschieden müssen, auch immer das letzte Wort. Darüber hinaus verfügten sie über zwei weitere Mechanismen, um sich der Loyalität der Beamtenschaft zu versichern. Zum einen entscheiden die Politiker über die „Landeplätze" pensionierter Beamten in den öffentlichen Korporationen; zum andern konnten die LDP-Politiker die Rivalität zwischen den Behörden ausnutzen, um die Konfliktfähigkeit der Beamtenschaft zu unterminieren. Mitunter waren auch die verschiedenen administrativen Reformen (s.o.) Mechanismen, die den Einfluß der Beamtenschaft in Schach halten sollten.

Das Verhältnis zwischen Politikern und Beamten erfuhr im Verlauf der Nachkriegsentwicklung zwei relevante Veränderungen. Zum einen nahm der Einfluß der Behörden auf die Politik nach seit den 70er Jahren schrittweise ab; in den 50er und 60er Jahren rekrutierte sich ein relevanter Teil der Parlamentarier aus der hohen Beamtenschaft. Erst in den 70er Jahren begannen die den materiellen Interessen ihrer Wahlkreise verpflichteten Berufspolitiker, das Parlament zu dominieren. Diese Berufspolitiker schoben sich als „Vermittler" zwischen Bürokratie und privaten bzw. lokalen Interessen und bezogen aus dieser Vermittlungstätigkeit einen Teil ihres Einflusses und ihrer Einkommen. Insofern setzte sich eine Repolitisierung vor allem der ausgabenintensiven Ministerien (Bau, Transport, Landwirtschaft) durch.

Die zweite Veränderung ist das erwähnte Ende der LDP-Alleinherrschaft. Auch wenn sich die LDP in den Unterhauswahlen von 1996 wieder als Regierungspartei durchgesetzt hat, gibt es heute eine Opposition, die die Regierungsmacht anstrebt; die Politik ist mit anderen Worten kompetitiv geworden, die LDP muß um ihre Wiederwahl kämpfen. Eine politisch instabile Situation aber erweitert fast automatisch die Spielräume der Beamtenschaft. Je mehr die Politiker damit beschäftigt sind, Parteien und Fraktionen zu gründen und aufzulösen, zu spalten und zusammenzuschließen, instabile Machtgleichgewichte herzustellen und zu zerstören, desto freier können die Staatsdiener in den Sachbereichen der Politik agieren. Die Perspektive eines Wechsels der Regierungspartei ist für die Verwaltung wenig bedrohlich, da nicht damit zu rechnen ist, daß in Zukunft eine neue Regierung neue Projekte durchzusetzen und hierbei die Routine der Administration – einschließlich der Personalpolitik – außer Kraft setzen könnte. Im Gegenteil: Wie die Regierung Hosokawa bereits zeigte, wären die Minister einer neuen Regierungspartei oder Regierungskoalition noch mehr auf die Routine und Expertise der von ihnen formell geführten Behörden angewiesen als die Veteranen der LDP.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich zumindest ein Motiv der von den Politikern aller Parteien geforderten administrativen Reform: Einer zersplitterten, fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigten Politikerkaste geht es zumindest auch darum, gegen die mit den politischen Stürmen im Wasserglas wachsende Macht der Beamten ein Gegengewicht zu schaffen. Die Situation hierfür ist günstig, da das öffentliche Ansehen der Beamtenschaft in den letzten Jahren gelitten hat, und zwar nicht nur wegen der oben erwähnten Fälle von Behördenversagen, sondern weil mit der seit Beginn der 90er Jahre herrschenden wirtschaftliche Stagnation auch die einstigen (und überschätzten) Manager des wirtschaftlichen Aufstiegs in Mißkredit geraten sind. Vorher hatte der Glanz eines außergewöhnlichen wirtschaftlichen Aufholprozesses automatisch auch auf den öffentlichen Dienst ausgestrahlt – wobei sich allerdings nicht mehr genau ausmachen läßt, ob dieser Aufstieg dank, unabhängig von oder trotz der Bürokratie zustandekam. Heute ist die Bürokratie Gefangener ihres (scheinbaren) Mißerfolgs. Gerade weil die japanische Bürokratie im Ruch der Allmacht steht, weil sie den Eindruck eines allzuständigen Managements erzeugt hat, werden ihr die wirtschaftlichen Rückschläge angelastet – nicht den Politikern, an denen es ja läge, die überkommene Routine durch neue Projekte zu verändern.

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6. Chancen einer administrativen Reform

Viele Beobachter sehen in der nun von der Regierung Hashimoto angekündigten administrativen Reform ein realistisches Projekt, das der Stagnation der japanischen Wirtschaft ein Ende setzen könnte. Was die Reichweite dieses Projekts angeht, ist jedoch Skepsis angebracht. Es ist möglich und wahrscheinlich, daß die Behörden, wie mehrfach in der Vergangenheit, reorganisiert und verkleinert werden. Im Land des kleinsten öffentlichen Dienstes ist die Parole small government bis hin zu den Gewerkschaften populär. Das Problem der japanischen Administration ist aber nicht ihre Größe, gemessen an der Zahl der öffentlich Bediensteten, der Zahl der Behörden und dem Umfang des öffentlichen Verbrauchs, sondern die beanspruchte allumfassende, wenn auch nur schwach mit rechtlichen Zwangsmitteln bewehrte Regulierungskompetenz.

Das Problem der japanischen Beamtenschaft liegt im Allmachtsmythos der Bürokratie. Es handelt sich um einen Mythos, aber Mythen können erhebliche Wirksamkeit entfalten. Die Macht der Beamten kann von denjenigen auf die Probe gestellt werden, die über einen privilegierten Zugang zu wichtigen Politikern oder über ausreichende Mittel verfügen, um ein aufwendiges Gerichtsverfahren durchzustehen – d.h. durch Großunternehmen und der LDP nahestehende Interessengruppen. Die große Mehrheit der Bevölkerung verfügt nicht über diese Ressourcen. Für den einzelnen Bürger ist das Verwaltungshandeln nicht oder nur schwer rechtlich zu überprüfen. Erst 1994 wurde ein „Verwaltungsverfahrensgesetz" verabschiedet, das die Administration zwingen soll, ihre Entscheidungen transparent zu machen. Doch zum einen weist das Gesetz, wie Rechtsexperten kritisieren, eine Vielzahl von Unklarheiten und Schlupflöchern auf; zum andern – und dies ist der wichtigere Aspekt – gibt es in Japan nicht die Rechtskultur, in der es selbstverständlich wäre, daß die Bürger auch gegenüber der Verwaltung ihr Recht zu erstreiten suchen. In einem Land, in dem pro Jahr exakt 700 Anwälte neu zugelassen werden, sind gerichtliche Verfahren langwierig und teuer, so daß das Gefühl erlittenen Unrechts schon sehr ausgeprägt sein muß, bevor sich jemand an die rechtliche Überprüfung der Verwaltung wagt.

Es ist wenig wahrscheinlich, daß die LDP-Politiker, die von der Regulierung der Wirtschaft und Gesellschaft profitieren, indem sie ihre Dienste als „Vermittler" anbieten, und deren Chancen der Wiederwahl von den Interessengruppen abhängen, die durch Regulierungen geschützt werden (Einzelhändler, Bauunternehmer, Kleinindustrielle, Bauern usw.), die Quellen ihres Einflusses und ihrer Einnahmen trockenlegen. Eine wirkliche Reform der Verwaltung wird nur dann realisiert werden, wenn sich die regierende LDP in ihrer Position ernstlich bedroht sieht. Wie weit die LDP-Politiker zu gehen bereit sind, hängt davon ab, ob sie die derzeitige politische Situation nach ihrem Wahlsieg als Rückkehr zum business as usual verstehen, oder ob sie sie, infolge des Verfehlens der absoluten Mehrheit, noch als Krise empfinden. Wenn sich bei den LDP-Hinterbänklern der Eindruck durchsetzt, die guten alten Zeiten seien zurückgekehrt, können alle Reformansätze, die mehr als Kosmetik sind, erst einmal ad acta gelegt werden.

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Anhang: Der japanische Regierungsapparat

Behörde (* unter der Leitung eines Minister of State) Beschäftigte

Board of Audit 1.206

National Personnel Authority 701

Cabinet 174

Cabinet Legislation Bureau 68

Prime Minister’s Office 555

Fair Trade Commission 460

Imperial Household Agency 1.057

Environmental Disputes Coordination Agency 40

National Public Safety Commission/National Police Agency 7.968

Management and Coordination Agency* 3.739

Hokkaido Development Agency* 8.413

Economic Planning Agency* 496

Science and Technology Agency* 2.084

Environment Agency* 883

Okinawa Development Agency* 1.103

National Land Agency* 454

Defense Agency* [274.652]

Defense Facilities Administration Agency 92

Ministry of Justice* 45.919

Public Prosecutors [2.049]

Public Security Examination Commission 4

Public Security Investigation Agency 1.785

Ministry of Foreign Affairs* 4.239

Ministry of Finance* 14.348

Mint Bureau 14 (1.481)

Printing Bureau 16 (6.162)

National Tax Administration Agency 54.447

(6.162)

Ministry of Education* 129.983

Agency for Cultural Affairs 724

Ministry of Health and Welfare* 58.498

Social Insurance Agency 16.961

Ministry of Agriculture, Forestry and Fisheries* 22.804

Food Agency 12.903

Forestry Agency 1.241

(19.348)

Fisheries Agency 2.047

Ministry of International Trade and Industry* 5.436

Agency for Industrial Science and Technology 3.543

Agency for National resources and Energy 582

Patent Agency 2.266

Small and Medium-sized Enterprise Agency 190

Ministry of Transport* 18.351

Central Labour Relations Commission for Seafarers 51

Marine Safety Agency 11.730

High Marine Accidents Inquiry Agency 246

Meteorlogical Agency 6.277

Ministry of Post and Telecommunications* 2.747

(296.483)

Ministry of Labor* 24.820

Central Labor Relations Commission 120

Ministry of Construction* 24.820

Ministry of Home Affairs* 324

Fire Defense Agency 128

Total 497.122

(323.439)

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Ministerien und „Public Corporations" (3 Beispiele)

Beschäftigte

1. Ministry of Finance (1992)

Central Bank for Commercial and Industrial Cooperatives 5.643

People’s Finance Corporation 4.702

Housing Loan Corporation 1.146

Export-Import Bank of Japan 523

Japan Development Bank 1.086

Agriculture, Forestry and Fisheries Finance Corporation 927

Small Business Finance Corporation 1.721

Fund for Promotion and Development of Amami Islands 27

Hokkaido-Tohoku Development Corporation 288

Finance Corporation of Local Public Enterprise 76

Small Business Credit Insurance Corporation 403

Environmental Sanitation Business Finance Corporation 56

Okinawa Develeopment Finance Corporation 223

Japan Tobacco Inc. 24.150

2. Ministry of International Trade and Industry

Central Bank of Commercial and Industrial Cooperatives 5.643

Electric Power Development Co. Ltd. 2.739

Small Business Finance Corporation* 1.721

Japan Bicycle Racing Corporation 273

Small Business Credit Insurance Corporation* 403

Japan External Trade Organization 876

Institute of Developing Economies 259

Water Resource Development Corporation 1.905

Japan Motorcycle Racing Association 77

Metal Mining Agency of Japan 215

Coal Mine Damage Corporation 330

Environment Pollution Control Service Corporation 180

Japan National Oil Corporation 343

Pollution-related Health Damage Compensation Association 71

Japan Regional Development Corporation 722

Japan International Cooperation Agency 1.064

Japan Small Business Corporation 742

New Energy and Industrial Technology Development Organization 742

3. Ministry of Labor

Labor Welfare Corporation 13.084

Japan Institute of Labor 133

Small Enterprise Retirement Allowance Mutual Aid Corporation 229

Employment Promotion Corporation 4.710

Retirement Allowance Mutual Aid Association for Construction, the Sake Brewing Industry

and Forestry 68

Japanese National Railway Settlement Corporation 2.515

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* Zuständigkeit zwischen MITI und Finanzministerium geteilt


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