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[STABSABTEILUNG DER FES]
TITELINFO


Cuba / von Dietmar Dirmoser. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 28 S. = 97 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: Bibliothek der FES, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT






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Zusammenfassung

Cuba hat sich vom Schmuddelkind der internationalen Staatengemeinschaft zum Geheimtip der Business-Community gemausert.

Im letzten Moment und gerade noch rechtzeitig, um einen totalen Kollaps der cubanischen Wirtschaft zu verhindern, hat die Regierung Reformen eingeleitet und das Land auf Transformationskurs gesetzt.

Die rasante Talfahrt der Wirtschaft ist gestoppt. Es stellt sich sogar bescheidenes Wachstum ein, getragen von der sog. economía emergente; einem Sektor, in dem marktwirtschaftliche Elemente inkorporiert und dem Transaktionen in Devisen erlaubt sind.

Die Freigabe des Dollars bei gleichzeitiger Beibehaltung des nicht-konvertierbaren Peso hat ein Dickicht von Segmenten, Sektoren und Transaktionstypen entstehen lassen, die sich nur schwer überschauen und kaum noch koordinieren lassen.

Ohne die Investitionen aus dem Ausland, die seit 1993 verstärkt nach Cuba strömen, hätte das Land die Durststrecke der letzten Jahre kaum überlebt.

Das neue Investitionsgesetz von 1995 kann als Einladung gelesen werden, in bislang unbeachtete Wirtschaftssektoren zu investieren, und markiert zweifellos einen Schritt nach vorn bei der Konsolidierung der wirtschaftlichen Öffnung.

* Das Regime wird vermutlich versuchen, die weitere allmähliche Liberalisierung von Märkten voranzutreiben, welche die einzige realistische Wachstumsquelle darstellt.

Mit der Konsolidierung (begrenzt) freier Märkte tritt eine Schicht neuer Selbständiger auf den Plan, und die soziale Pyramide ist in Bewegung geraten: Einige steigen nach oben, viele fallen nach unten, und das Gros sinkt en bloc auf das Niveau einer "unteren unteren Mittelschicht".

Am Sozialismus aber wird nicht gerüttelt; weder von den Reformern noch von der Bevölkerung. Reformen in der Wirtschaft hätten, so Castro, mit einer politischen Öffnung nichts zu tun.

Cuba hat sich vom Schmuddelkind der internationalen Staatengemeinschaft zum Geheimtip der Business-Community gemausert. Und dies ausgerechnet in einer Zeit, als das Land immer tiefer in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Revolution versank.

Es ist nicht einmal zwei Jahre her, da galt die Karibikinsel als sicherer Kandidat für wirtschaftlichen Verfall, politisches Chaos und interne Konflikte. Inzwischen aber sind die Grabgesänge auf den cubanischen Kommunismus Schnee von gestern. Seit das Regime in Habana 1989 erste vorsichtige Reformschritte einzuleiten begann, interessierte sich die internationale Geschäftswelt viel mehr für die lukrativen Investitionsmöglichkeiten und das enorme Potential der Insel als für die ideologischen Vorbehalte der Politiker. Die Risikoanalysen der Unternehmen fielen weit optimistischer aus als die Szenarios der internationalen Presse, und nachdem westliche Unternehmen in Cuba nunmehr fest Fuß gefaßt haben, schlagen auch viele Politiker neue Töne an. Offenbar beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, daß eine Wirtschaftsreform von oben, wie in China oder Vietnam, auch ohne politische Liberalisierung nicht notwendig zum Scheitern verurteilt ist.

So herrscht im politischen Europa dank des spanischen Drängens bereits seit Beginn des Wandels die Ansicht vor, daß die cubanische Transition nur mitgestalten kann, wer involviert ist, nicht der, der vor dem Tor bleibt. Und wirtschaftlich involviert ist Europa ohnehin: 45% des cubanischen Außenhandels werden bereits mit EU-Staaten abgewickelt. Als Geste guten Willens erhält Cuba seit 1993 von der Europäischen Union humanitäre Hilfe in der Größenordnung von 20 Mio US$ im Jahr. Und im Pariser Club drängen europäische Gläubigerländer auf eine Entlastung Cubas vom Druck seiner Auslandsschulden, obwohl das eigentlich gar nicht geht, denn der Club gewährt nur IWF-Mitgliedern günstige Umschuldungen. Doch selbst Vertreter der internationalen Währungs- und Finanzbehörde werden in letzter Zeit häufiger in Habana gesichtet, auch wenn IWF-Chef Camdessus offizielle Gespräche dementiert.

Die eingeleiteten Reformen haben unterdessen Bewegung in die Wirtschaft und mit ihr auch in das Sozialgefüge Cubas gebracht. Am Sozialismus aber wird - so die zentrale Losung der Partei - nicht gerüttelt, Reformen hin oder her. Was damit vor allem gemeint ist, hat Castro immer wieder deutlich gemacht: Reformen in der Wirtschaft hätten mit einer politischen Öffnung nichts zu tun, und weder die Partei noch das politische System stünden zur Disposition. Zwar gibt es innerhalb der Partei einen unübersehbaren Trend, die Begriffe zu dehnen und Dogmatismen und ideologische Rigiditäten aufzubrechen. Doch ob dieser Prozeß weit genug gedeihen kann, um Repression zu verhindern - sollte der Druck der Bevölkerung zu politischem Wandel zunehmen -, wird sich weisen. Weisen wird sich dann auch, wie weit der an Castro so hochgelobte Pragmatismus geht.

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1. Externer Schock und erste Reformschritte (1989 - 1993)

Der Zusammenbruch der osteuropäischen Planwirtschaften bewirkte in der cubanischen Ökonomie einen externen Schock. Von einem Tag auf den anderen verlor die Insel die extrem günstigen Handelsbedingungen mit der Sowjetunion und den RGW-Staaten, die einen bemerkenswerten Ausbau des Sozialsystems und bescheidenen sozialistischen Wohlstand ermöglicht hatten.

Der cubanische Außenhandel hatte sich seit Mitte der 70er Jahre immer stärker auf den COMECON und vor allem auf die UdSSR konzentriert, mit der schließlich 75% des gesamten Handels abgewickelt wurden. Als Gegenleistung für seine Zuckerlieferungen (und weil das Land sich als ein verläßlicher militärischer Vasall erwiesen hatte) wurde Cuba von der Sowjetunion mit 700 Produkten zu Vorzugsbedingungen versorgt. Lebenswichtig waren insbesondere die sowjetischen Öllieferungen, die nicht nur die Energieversorgung sicherstellten, sondern so großzügig bemessen waren, daß der Inselstaat einen Teil weiterverkaufen konnte, was 40% der Deviseneinnahmen einbrachte. O-Ton Castro: "... das Öl, das wir reexportierten, war zu einem bestimmten Zeitpunkt der wichtigste Posten an Deviseneinnahmen, über den das Land verfügte. (...). All das lehrte uns Verschwendung".

Gerade weil Cuba über eine für ein Entwicklungsland vernetzte Produktionsstruktur verfügt, die überdies mit den sozialistischen Bruderökonomien in Osteuropa arbeitsteilig differenziert verflochten war, hatte der Verlust der Ost-Märkte, der Wegfall der COMECON-Zulieferungen sowie der Kreditquellen und der sozialistischen Entwicklungshilfe verheerende Folgen. Nicht nur mußte das gesamte Netz der wirtschaftlichen Außenbeziehungen neu geknüpft, sondern auch der gesamte Produktionsapparat auf ein neues technologisches Paradigma, westliche Investitionsgüter, Inputs und Ersatzteile, umgestellt werden. Kein Wunder, daß zunächst nichts mehr zusammenlief; überall standen die Räder still.

Die makroökonomischen Daten ergeben ein Bild, das an Länder erinnert, die per Schockbehandlung Strukturanpassung betreiben: Nach Angaben der Nationalbank schrumpfte das Sozialprodukt 1990 um 2,9%, 1991 um 10,7%, 1992 um 11,6% und 1993 um 14,9%; eine Ökonomie im freien Fall. Die Exporte und damit die Importkapazität sackten zwischen 1989 und 1993 auf 1,1 Mrd. US$ (-80%); die Öleinfuhren fielen um die Hälfte, was auf die gesamte Ökonomie durchschlug, da Öl der wichtigste Energieträger ist. Die Bruttoinvestitionen reduzierten sich um 60%, die Bautätigkeit um 80%, das Transportangebot um 75%; die Industriekapazitäten wurden nur noch zu 10 - 20% genutzt. Die Inlandsproduktion von Lebensmitteln ging um die Hälfte zurück, und die Nahrungsmittellieferungen aus dem Ostblock, die 40% der konsumierten Lebensmittel ausgemacht hatten, fielen zum größten Teil ersatzlos weg. Nach offiziellen Angaben reduzierte sich der Kalorienverbrauch zwischen 1989 und 1993 um mehr als ein Drittel auf 1.780 kcal.

Auch der strategische Zuckersektor, der traditionell 75% der Exporteinnahmen einspielt, blieb nicht ungeschoren, und dies just in einer Situation, wo Zucker für Barter-Geschäfte gegen (weiterhin russisches) Öl mehr denn je gebraucht wird. Daß in der Erntekampagne 1993/94 nur vier Millionen Tonnen zusammenkamen, nannte Castro öffentlich eine Katastrophe. Die Kampagne 1994/95 brachte mit 3,3 Millionen Tonnen das schlechteste Ergebnis der letzten 50 Jahre.

Diese Malaise war durchaus vorhersehbar. Dennoch befand sich die Regierung zu Beginn der Krise zunächst in der Defensive; ihre Maßnahmen und der politische Diskurs hinkten hinter den Ereignissen her, und eine Strategie war nicht zu erkennen. Zunächst galten weiterhin die Prinzipien der "Rektifikationskampagne", die die Kommunistische Partei 1986 in Gang gesetzt hatte, um bürokratische Exzesse abzubauen und die Effizienz der Produktion zu steigern, ohne allerdings die Strukturen der Kommandowirtschaft im geringsten anzutasten. Die einzige wirkliche Innovation (ohne nennenswerten praktischen Effekt bis 1993) bestand in der Öffnung für westliches Investitionskapital, das die sozialistische Bruderhilfe ersetzen sollte. Daß die Substitution von Traktoren durch Zugochsen, die Umstellung des Nahverkehrs auf Fahrräder und die drakonische Rationierung der mageren Ressourcen die Probleme würden lösen können, dürften selbst die Verantwortlichen nicht geglaubt haben.

Im Oktober 1991 beschloß der 4. Kongreß der Kommunistischen Partei Cubas eine neue Politik, die auf eine verhaltene wirtschaftliche Dezentralisierung unter grundsätzlicher Beibehaltung des Planungssystems abzielte. Im Jahr darauf setzte die Nationalversammlung den neuen Kurs in Maßnahmen und Regelungen um: Der Eigentumsbegriff wurde umdefiniert, um ausländischen Investoren die nötigen Garantien zu bieten, und sogar die Verfassung wurde geändert. Das staatliche Außenhandelsmonopol fiel. Ein neues Großhandelspreissystem ersetzte das bisherige mit dem Ziel, die Kosten externer Inputs besser zu erfassen.

Der Akzent der Reformen von 1991 lag auf dem externen Sektor. Nach dem strategischen Kalkül sollte die Importkapazität durch die Steigerung der Deviseneinnahmen vergrößert werden, wodurch das Land quasi von selbst auf den Wachstumspfad zurückkehren würde. Als wichtigste Devisenbringer hatte man den Fremdenverkehr, den Export biotechnologischer Produkte und ausländische Investoren im Auge. Darüber hinaus wollte man durch wachsende Selbstversorgung mit Lebensmitteln die Importe reduzieren und Mittel für den Import von Investitions- und Zwischengütern freimachen.

Doch die Rechnung ging nicht auf: 1992 und 1993 signalisierten sämtliche Indikatoren eine weitere Verschlechterung der Situation. Einer rasant wachsenden Geldmenge stand ein zusehends geringeres Warenangebot gegenüber; die Subventionen für defizitäre Staatsunternehmen explodierten; der Schwarzmarkt boomte. Auf der anderen Seite hatten die 47 Joint-Venture-Verträge, die bis Ende 1992 abgeschlossenen worden waren, keine spektakulären Kapitalzuflüsse zur Folge, die Einnahmen aus dem Tourismus waren zu gering, um die Lücken zu stopfen, und der Bedarf an Lebensmittelimporten ging nicht nennenswert zurück. Bei Fortschreibung der bisherigen Politik war der Kollaps unvermeidlich.

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2. Zuspitzung der Krise und Radikalisierung der Reform (1993 - 94)

Zur Abwendung einer Katastrophe wurden zwischen Juli 1993 und Oktober 1994 einschneidende Maßnahmen ergriffen, die den Einfluß des Staates auf die Wirtschaft reduzierten und neue Spielräume für Marktmechanismen eröffneten.

- Der bis dahin strafbare Besitz ausländischer Hartwährung wird freigegeben; vor allem Dollars beginnen frei zu zirkulieren (Juli 1993).

- Im Rahmen einer diskreten, aber durchaus radikalen Agrarreform wird ein großer Teil des Staatslandes 400.000 Kooperativenbauern zum Nießbrauch übergeben. Die 2600 neuen Kooperativen (UBPCs) kontrollieren seitdem zusammen mit den früher geschaffenen Solidarbetrieben (CPAs) 70% der Nutzfläche. Auch der größte Teil des Zuckerrohranbaus wird in die neue Rechtsform überführt. Der Staat behält sich allerdings weiterhin die Entscheidung darüber vor, was in welcher Menge anzubauen ist, und setzt die Abnehmer- und Inputpreise fest (ab Juli 1993).

- "Arbeit auf eigene Rechnung" im Handwerk und im Dienstleistungsbereich wird legalisiert. Über 100 Gewerbe werden freigegeben, doch es bestehen Zugangsbeschränkungen für Akademiker, Führungskräfte und Parteikader (Juli 1993).

- Die Nationalversammlung kündigt die Sanierung der Staatsfinanzen durch Preissteigerungen und Subventionsabbau an (Mai 1994).

- Die Grundlinien eines Steuersystems erhalten im August 1994 Gesetzeskraft. Mit der Implementierung wird Anfang 1995 begonnen.

- Bauernmärkte für Agrarprodukte mit freier Preisbildung werden zugelassen, wo private Parzellenbauern, Kooperativen und Staatsfarmen nach Erfüllung der Ablieferungspflichten verbleibende Überschüsse vermarkten können (September 1994).

- Der Direktverkauf bestimmter Industrie- und Handwerksprodukte bei freier Aushandlung der Preise zwischen Käufer und Verkäufer wird Privatleuten und auch Staatsunternehmen gestattet (Oktober 1994).

- 52 Zentralbehörden werden entweder aufgelöst oder in eines der sieben neuen Ministerien eingegliedert. Die wirtschaftlichen Zuständigkeiten sind nun erheblich übersichtlicher gebündelt.

- Die mexikanische CEMEX kann in Rahmen der Übernahme eines 49%-Anteils am Zementkomplex von Mariel als erstes ausländisches Unternehmen Land erwerben (Dezember 93).

- Eine holländische Bank erhält für ein Joint-Venture-Unternehmen mit der cubanischen ACEMEX-Gruppe als erstes ausländisches Geldinstitut seit der Revolution eine Banklizenz (März 94).

- Ein 49%-Anteil an der staatlichen Telefongesellschaft EMTEL wird an die mexikanische Domos-Gruppe verkauft (Juni 94).

- Cuba schließt mit dem kanadischen Minenkonzern Sherrit einen Assoziationsvertrag zur Ausbeutung, Verarbeitung und Vermarktung von Nickel und Kobalt ab (Juni 94).

- Allein im Jahr 1994 nehmen 74 Joint-Ventures mit ausländischen Unternehmen die Arbeit auf, was deren Gesamtzahl auf 181 bringt.

Einige der wesentlichen Neuerungen waren alles andere als erfinderisch, sondern legalisierten lediglich, was ohnehin bereits massiv praktiziert wurde. So zielte die Freigabe des Devisenbesitzes darauf ab, den Dollar-Untergrund kontrollierbar zu machen und die 500 Mio US$, die nach diversen Schätzungen jedes Jahr ins Land strömen, in den offiziellen Wirtschaftskreislauf einzuspeisen. Die Einrichtung der Bauern- und Handwerkermärkte sollte zusammen mit der Arbeit auf eigene Rechnung den Schwarzmarkt formalisieren und gleichzeitig die schlimmsten Versorgungsengpässe überbrücken. In einem Interview Ende 1994 spielte Armeechef Raúl Castro unzweideutig darauf an, daß eine hungrige Bevölkerung politisch gefährlich werden könnte; die Revolte vom 5. August und die Floß-Flüchtlingskrise waren noch in frischer Erinnerung. Auch die Angst, daß ein weiterhin boomender Schwarzmarkt die Entstehung eines Mafia-Untergrunds begünstigen könne, dürfte für die Freigabe der Märkte eine Rolle gespielt haben.

Auf der anderen Seite entstanden durch diese Maßnahmen neue Segmente der Ökonomie, die sich dynamisch zu entfalten begannen und inzwischen erhebliches Gewicht auf die Waage bringen. Ein Teil der Wirtschaft be-

gann in Dollars zu funktionieren, mit deutlichen Ausstrahlungswirkungen auf den gesamten Rest der Ökonomie, nahm Fahrt auf, und der Staat sah sich alsbald zur weiteren institutionellen Ausgestaltung dieses Bereichs gezwungen. Die Bauern- und Handwerkermärkte konsolidierten sich rasch als genuine Märkte, wenn auch in embryonalem Stadium, die nicht nur eine für viele Cubaner überlebenswichtige komplementäre Rolle zur staatlichen Warenverteilung übernahmen, sondern viele Staatsunternehmen unter Konkurrenzdruck setzten. Die neuen Selbständigen (die Zahl der erteilten Lizenzen für "Arbeit auf eigene Rechnung" erreichte alsbald 200.000, und mindestens ebensoviele der neuen Freischaffenden zogen es vor, sich nicht registrieren zu lassen) sind Vorboten einer Unternehmerschicht. Sie brachten eine (sehr begrenzte und mißtrauisch beäugte) Akkumulation in Gang, und in den Randbereichen begannen sich in Ansätzen neuartige Mechanismen der Organisation der Produktion und der Ressourcenallokation herauszubilden (informeller Kredit, informelle Netze der Arbeitsteilung, neue Spezialisierungen, etc.).

Eine Maßnahme von großer Tragweite war die Umwandlung der Staatsfarmen in Kooperativen, schon wegen der großen Zahl der Betroffenen. Die Regierung wollte in erster Linie der Lebensmittelproduktion einen Impuls geben, das Land der (vom Agrarpotential her ohne weiteres möglichen) Selbstversorgung näherbringen und die geringe Arbeitsmotivation des Landproletariats verbessern. Doch die Sekundäreffekte sind erheblich: Eine große Gruppe der Bevölkerung verfügt plötzlich über mehr ökonomische Verantwortung und Entscheidungskompetenz, sammelt Erfahrungen mit einem neuen Modell der Betriebsorganisation und verfügt dank der Möglichkeit, Produktionsüberschüsse auf den Bauernmärkten abzusetzen, über einen Anreiz, Profite zu machen und Kosten zu senken. In absehbarer Zeit könnte sich hier eine neue Interessengruppe konstituieren, wenngleich der Staat alles tut, um die Kooperativen zwischen Vorgaben und Reglementierungen einzuzwängen und horizontale Kommunikation zu verhindern.

Entscheidend waren die Anstrengungen zur Sanierung der Staatsfinanzen. Zwischen 1989 und 1993 eskalierte das Defizit im Staatshaushalt von 1,4 Mrd. auf 5,05 Mrd. Pesos; 40% des Etats mußten allein zur Deckung von Defiziten staatlicher Unternehmen aufgewendet werden, von denen zwei Drittel rote Zahlen schrieben, weil sie, ohne etwas zu produzieren, ihre Belegschaften weiterhin voll bezahlten.

Im gleichen Zeitraum wuchs bei drastisch zurückgehender Produktion die Geldmenge von 4,2 auf 11 Mrd. Pesos. Selbst Kommunisten scheinen nicht gegen die Versuchung gefeit, wirtschaftliche Probleme mit der Notenpresse zu lösen. Da das (rationierte) Warenangebot höchst unzureichend war, die staatlichen Preise symbolisch niedrig gehalten wurden und die Sozialleistungen gar nichts kosteten, verfügten die Konsumenten über immer mehr Geld, mit dem sie immer weniger anfangen konnten. Experten schätzten den Liquiditätsüberhang für 1993 auf mehr als 7 Mrd. Pesos. Notwendige Folge: Das Geld verlor seine Funktion als Leistungsanreiz und regulierendes Element in der Ökonomie. Wenn es überhaupt noch etwas bewirkte, dann Inflation, die sich in dem System staatlich administrierter Preise durch den Verfall des Parallelmarktwertes des Peso, durch das Überhandnehmen des Schwarzmarktes und durch die weitere Verschlechterung des staatlichen Warenangebotes bemerkbar machte.

Das Angebot auf dem Schwarzmarkt wurde von Experten der Planungsbehörde bereits für 1989 auf 2 Mia Pesos geschätzt. In den Folgejahren ging das Warenangebot zurück, was den "Marktanteil" des Schwarzmarkts vermutlich noch wachsen ließ. Einer Studie des Forschungsinstituts des Wirtschaftsministeriums (INIE) zufolge hat die eigentliche Inflation auf dem Schwarzmarkt stattgefunden. Die Schwarzmarktpreise stiegen zwischen 1989 und 1993 (bei weitgehend konstanten Einkommen!) im Durchschnitt um 1500% (Zigaretten um 500%, schwarze Bohnen um 900%, Schweinefleisch um 1000%, Reis um 1700%, Eier um 3300%, Seife um 4000%, Waschmittel um 7700%).

Das Rezept gegen solche Ungleichgewichte ist ebenso simpel wie seine Umsetzung schwierig: Die Ausgaben müssen sinken, die Einnahmen steigen, und die Notenpresse muß eingemottet werden. Nach der möglicherweise ersten wirklich kontroversen Parlamentsdebatte seit der Revolution beschloß die Volksversammlung im Mai 1994 Preiserhöhungen (für Tabak, Alkohol, Strom, Wasser, Benzin, Post- und Transportdienstleistungen) und die Einführung diverser Abgaben; einige Gratisdienstleistungen wurden mit Gebühren belegt. Kurz darauf wurde ein Steuergesetz verabschiedet, eine Steuerverwaltung kreiert und Steuerhinterziehung zum Straftatbestand erklärt.

Zu sparen versuchte man vor allem durch einen Schnitt in die Subventionen für defizitäre Firmen (-2 Mrd. Pesos = -37%), doch auch durch Streichung von 5.000 Stellen im Staatsapparat, während der Sozialetat nicht angetastet wurde. Gestrichen wurde überdies beim Investitionsetat und am Verteidigungshaushalt.

Mit Hilfe dieser Maßnahmen gelang es nicht nur, bis Ende 1994 das Haushaltsdefizit um 75% zu verringern, sondern auch, dem Geldkreislauf 2 Mrd. Pesos zu entziehen, mit dem Effekt, daß sich der Wert des Peso auf dem Parallelmarkt gegenüber dem Dollar vervierfachte. Bald waren vor allem bei den Beziehern niedriger Einkommen die Peso-Reserven aufgebraucht, und viele Cubaner lernten erstmals eine Situation kennen, wo es zwar Waren gibt, aber das Geld nicht reicht, um sie zu kaufen. Gestärkt wurde die Anreizfunktion des Geldes überdies durch Prämien in knappen Waren oder Dollars, in deren Genuß 120.000 Beschäftigte in Schlüsselbereichen kamen.

Ein Nebeneffekt bestand allerdings darin, daß durch die drastische Reduzierung der Subventionen die Staatsunternehmen unter einen erheblichen Rentabilitätsdruck kamen. Selbstfinanzierung, Gewinnorientierung, Effizienzsteigerung lauten die neuen Losungen. Auch Entlassungen in großem Stil und Betriebsstillegungen sind inzwischen kein Tabuthema mehr: Seit geraumer Zeit steht die Drohung im Raum, daß über kurz oder lang 500.000 bis 800.000 Arbeitsplätze wegfallen müssen. Carlos Lage, der oberste Wirtschaftslenker, hat jedoch zu verstehen gegeben, daß massive Personalreduzierungen nicht über Nacht erfolgen werden. Er forderte die Verantwortlichen auf, Entlassungen nur dann vorzunehmen, wenn es für die Betroffenen einen alternativen Arbeitsplatz gebe.

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3. Die Reformen zeigen Wirkung

Um wenig mehr als einen halben Prozentpunkt (0,7%) ist die Wirtschaft 1994 gewachsen - eine lächerlich geringe Zunahme angesichts des dramatischen Einbruchs ab 1989. Entscheidend ist jedoch, daß die rasante Talfahrt der Wirtschaft (1991: -10,7%, 1992: -11,6%, 1993: -14,9%) gestoppt werden konnte. Dafür, daß das Schlimmste überstanden ist, sprechen auch die Hochrechnungen für 1995. Die CEPAL und die cubanischen Wirtschaftslenker sind sich einig, daß das Jahr 1995 mit einem Wachstum von 2% bis 2,5% abgeschlossen wurde. Doch selbst bei einer Wachstumsrate von konstant 3% würde es 14 Jahre dauern, bis wieder so viel produziert wird wie vor der Krise.

Wachstumsmotor war zweifellos der Dollar. Die Freigabe des Devisenbesitzes, die Öffnung für Auslandsinvestitionen und die Förderung des Fremdenverkehrs zeigen reaktivierende Wirkung, auch in anderen Bereichen der Ökonomie. Die Sparten, oder besser, die Firmen innerhalb der Sparten, die das bescheidenen Wachstum getragen haben, sind überwiegend der sog. economía emergente zuzurechnen, jenem Sektor also, in den marktwirtschaftliche Elemente inkorporiert wurden und dem Transaktionen in Devisen erlaubt sind.

Die economía emergente setzt sich zusammen aus Staatsunternehmen, die die Genehmigung erhalten haben, einen Teil der erwirtschafteten Devisen selbst zu verwalten, aus Niederlassungen ausländischer Firmen und sog. gemischten Unternehmen, die exklusiv in Devisen operieren, sowie aus den cubanischen Unternehmen, die als Partner für Assoziationen mit dem Auslandskapital gegründet wurden und ebenfalls in Devisen abrechnen. Um zur economía emergente zugelassen zu werden, müssen cubanische Unternehmen nachweisen, daß sie in der Lage sind, Devisen einzuspielen, also entweder zu exportieren oder Teile der Produktion auf dem Inlands-Dollar-Markt abzusetzen (der eine zunehmend größere Rolle spielt) oder aber Importe zu substituieren. Bis Ende 1994 wurde 500 handverlesenen Staatsunternehmen die sog. Selbstfinanzierung in Dollars gestattet, was u.a. zum Direktimport von Rohstoffen, Vorprodukten und Ersatzteilen berechtigt.

Wichtige Bereiche der Ökonomie sind allerdings von den Möglichkeiten der Dollarwirtschaft ausgeschlossen. Dazu gehören der größte Teil der Konsumgüterproduktion für den Inlandsverbrauch, zentrale Bereiche der Zwischengüterproduktion und die Landwirtschaft. All jene, die nichts zu exportieren haben und auch im Land nichts gegen Dollar verkaufen können, hängen bei der Versorgung mit importierten Inputs von staatlichen Devisenzuteilungen ab; eine schwerwiegende Restriktion angesichts der anhaltenden Devisenknappheit, zumal 85% der im Land konsumierten Güter importierte Komponenten enthalten. Sie unterliegen einer Vielzahl bürokratischer Beschränkungen wie vorgegebenen Mengen, festgesetzten Preisen und müssen Ablieferungspflichten für die staatlich administrierte Grundversorgung erfüllen. Sie tragen erhebliche Soziallasten und sind überdies gehalten, unabhängig von der Betriebsgröße, zahlreiche andere produktionsfremde Aufgaben zu erfüllen. In diesem Bereich sind Elemente der Planwirtschaft noch intakt.

So gibt es zwar erste Anzeichen, daß die Bemühungen zur Umstrukturierung und zur Steigerung der Effizienz durchaus Ergebnisse zeitigen könnten: Die Zahl defizitärer Unternehmen ist zurückgegangen, und die Wirtschaft ist gewachsen, obwohl die Subventionierung von Defiziten drastisch heruntergetrimmt wurde. Die unternehmerische Freiheit aber unterliegt nach wie vor erheblichen Beschränkungen. Weder haben die Betriebsleiter der meisten Staatsunternehmen die Möglichkeit, nach betrieblichen Notwendigkeiten Entlassungen vorzunehmen, noch können sie wirkliche Leistungslöhne bezahlen. Bei der Beschaffung von Rohstoffen, Ersatzteilen und Vorprodukten sind sie immer noch auf den guten Willen von Staatsfunktionären angewiesen; der Staat spielt weiterhin eine zentrale Rolle als Regulator, Koordinator und Zwischenhändler, greift in die Preisbildung ein und gibt Mengen vor. Und immer noch werden Pläne erstellt, wenn auch längst nicht so rigide wie früher. Vor allem aber verhindert der Staat systematisch die Konkurrenz innerhalb der staatlichen Peso-Wirtschaft. Mögen die Maßnahmen zur Effizienzsteigerung auch greifen, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig dürften die Staatsunternehmen ohne internen Wettbewerb schwerlich werden. Und dies ist, wenn die Exporte wirklich steigen sollen, ein kaum zu kompensierendes Handicap.

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4. Die neue Unübersichtlichkeit: Peso- und Dollarwirtschaft

Ob sich die cubanischen Reformstrategen von einem Master-Plan leiten lassen oder improvisieren, ist eine Frage, die unter den Cuba-Watchern und den cubanischen Ökonomen gleichermaßen umstritten ist. Da die Regierung ihre Karten nicht offenlegt, bildet dieses Thema einen Nährboden für wilde Spekulationen. Die zeitliche Abfolge der bisherigen Maßnahmen und ihr häufig reaktiver Charakter legen allerdings den Schluß nahe, daß - zumindest bislang - eher experimentiert und probiert wurde, ohne Abstimmung der Maßnahmen untereinander und ohne klare (schon gar nicht quantitative) Zielgrößen.

Auch dürfte es nicht unbedingt im Sinne der Erfinder sein, daß durch die Freigabe des Dollars bei gleichzeitiger Beibehaltung des nicht konvertierbaren Peso im größten Teil der Ökonomie ein Dickicht von Segmenten, Sektoren und Transaktionstypen entstanden ist, die sich nur schwer überschauen und kaum noch koordinieren oder wirtschaftspolitisch beeinflussen lassen. Für jeden Transaktionstyp (Staat - Staat, Staat - Peso-Unternehmen, Staat - Dollarunternehmen, Unternehmen-Unternehmen, Unternehmen-Verbraucher, Verbraucher-Verbraucher) gilt ein anderer Preisbildungsmechanismus, vom Monopolpreis über den subventionierten Preis und den Marktpreis bis zum Willkürpreis und politischen Preis, und in jedem Segment gilt de facto eine andere Wechselkursrelation. Dies erschwert das Zusammenspiel der Sektoren, bewirkt widersprüchliche Signale zur Ressourcenallokation und verunmöglicht nicht selten rationale Entscheidungen.

So macht es wenig Sinn, daß Firmen, die in ihren Peso-Transaktionen defizitär sind und in ihren Dollar-Transaktionen Überschüsse erwirtschaften (oder umgekehrt), die beiden Konten nicht ausgleichen können, sondern die jeweils defizitäre Rubrik forcieren müssen. Und es kann keine gesunde Situation sein, wenn der Begriff Wirtschaftlichkeit bisweilen platt darauf reduziert wird, ob viele oder wenige Dollars eingenommen werden, gleichgültig, wieviel Aufwand (in Pesos) diese Dollars gekostet haben.

Die Schnittstelle zwischen Dollarkreislauf und Pesokreislauf bilden sog. Brückenunternehmen, die teilweise lediglich Abteilungen von Ministerien sind. Da die ausländischen und gemischten Unternehmen sämtliche Zahlungen in Dollars leisten müssen, also auch Löhne und Gehälter in Fremdwährung bezahlen, cubanische Arbeitskräfte aber keine Dollareinkommen beziehen dürfen, vermieten die Brückenunternehmen Arbeitskräfte, streichen die Dollars ein und zahlen Pesos aus. Daneben importieren sie Materialien und Inputs, die den Staatsunternehmen gegen Pesos überlassen werden, und kanalisieren alle anderen Transaktionen, bei denen in der einen Währung gekauft und in der anderen verkauft wird. Eine weitere Schnittstelle zwischen dem Peso und dem Dollarkreislauf ist jedoch trotz aller Kontrollanstrengungen immer noch der Schwarzmarkt.

Überwindbar wäre die Fragmentierung der Ökonomie durch die Einführung einer konvertierbaren Währung. Doch die Verantwortlichen zögern, weil sie destabilisierende Effekte befürchten. Zwar würde durch die Einführung einer in allen Bereichen der Ökonomie gleichermaßen geltenden Währung die Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren und Segmenten der Ökonomie gefördert und vor allem die Integration der ausländischen Unternehmen in die nationale Wirtschaft vorangetrieben. Auf der anderen Seite wäre, insbesondere solange der Liquiditätsüberhang nicht abgebaut ist, eine drastische Abwertung und in deren Gefolge eine Verteuerung der Konsumgüter die notwendige Folge. Hinzu kommt, daß ein frei flottierender Wechselkurs (ein fester Wechselkurs scheidet aus, weil Cuba über keinerlei Währungsreserven verfügt) sehr instabil wäre.

Offenbar stufen die Verantwortlichen die Ungleichgewichte, die insbesondere in der Übergangszeit nach der Einführung einer konvertierbaren Währung entstehen können, als weit gefährlicher ein als die gegenwärtige Situation.

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5. 1995: viel Kleinkram und ein neues Investitionsgesetz

In den Jahren 1993 und 1994 kam Cuba auf dem Weg zu einem stärker marktwirtschaftlichen System ein großes Stück voran. Wer erwartet hatte, daß dieses Tempo auch 1995 beibehalten würde, sah sich getäuscht. Die Reformer legten eine Denkpause ein. Die meisten wirtschaftspolitischen Beschlüsse und neuen Gesetze dienten der Nachbesserung oder Ausgestaltung bereits implementierter Maßnahmen.

- Im Juni genehmigte die Regierung die Eröffnung privater Restaurants. Die in großer Zahl im Untergrund funktionierenden Paladares, kleine Hinterhofrestaurants, erhielten dadurch die Chance, sich legalisieren zu lassen. Auch der Straßenverkauf von Snacks ist seit Juni legal.

- Am 30. Juni wurde "Arbeit auf eigene Rechnung" in weiteren 19 Gewerben des Handwerks und im Dienstleistungsbereich freigegeben. Dadurch steigt die Zahl der Gewerbe, die selbständig ausgeübt werden können, auf 149. Auch Universitätsabgänger dürfen seitdem "auf eigene Rechnung" arbeiten, jedoch nur in ihrer Freizeit und lediglich in den erlaubten Aktivitäten, also in der Regel nicht im erlernten Beruf. Nach wie vor dürfen die Neuunternehmer keine Arbeitskräfte einstellen.

Bis zum Jahresende stieg die Zahl der erteilten Lizenzen von 170.000 auf 208.000. Nach Angaben des Arbeitsministers waren 95.000 Lizenznehmer vor ihrem Wechsel in die Selbständigkeit arbeitslos; 38.000 Lizenzen wurden an Hausfrauen vergeben. Inzwischen wird über eine Zwangsmitgliedschaft der privaten Kleinunternehmer in der Staatsgewerkschaft CTC nachgedacht.

- Von Juli bis Oktober nahmen insgesamt sieben Wechselstuben in Habana und Varadero die Arbeit auf, wo zum Schwarzmarktkurs Dollars in Pesos umgewechselt und Pesos in konvertierbare Pesos umgetauscht werden können (die konvertierbaren Pesos sind dem Dollar gleichgestellt und werden von Hotels und Dollar-Shops akzeptiert); ein Experiment, wie ein Sprecher der Nationalbank betonte. Offenbar sucht die Regierung nach Wegen, um den Schwarzhandel mit Devisen einzudämmen.

- Cubanische Bürger, auch solche, die nicht auf der Insel leben, können seit September Dollarkonten einrichten. Die Guthaben werden zu Marktsätzen verzinst. Ein Bankensprecher kündigte einige Zeit später die Einführung von Kreditkarten für Cubaner an, die allerdings nur in Dollargeschäften gelten werden.

- In Habana wurden sechs Fischmärkte eingerichtet, wo die informellen Küsten- und Freizeitfischer ihren Fang verkaufen können. Diese Märkte funktionieren ähnlich wie die Handwerker- und die Bauernmärkte und werden vermutlich das Geschäft beleben. Mit der Maßnahme wird der informelle Fischhandel von der Straße geholt und hygienischen Mindeststandards unterworfen. Den Handel mit Langusten, einem wichtigen Exportartikel, behält sich allerdings weiterhin der Staat vor (Dezember).

- Das Interesse ausländischer Kapitalanleger an Cuba hat 1995 nicht nachgelassen. Einige Highlights: Gegen Jahresende vereinbarten Casio und eine cubanische Elektronikfirma, pro Monat 10.000 Uhren in Cuba zu montieren. Nach jahrzehntelanger Pause legte im Dezember erstmals wieder ein Kreuzfahrtschiff im Hafen von Habana an. Fiat hat eine Vertretung in Habana eröffnet, und auch Daimler Benz wurde in Cuba aktiv; das Geschäft mit Lastwagenmotoren zur Umrüstung der Ostblockflotte läuft auf Hochtouren, und ein Service-Zentrum ist geplant. Im Dezember kündigte der Club Mediterranée den Bau eines Ferienzentrums in Varadero an. Im Laufe des Jahres erhielten weitere fünf ausländische Banken eine Lizenz für Operationen auf der Insel.

- Im November gab der Finanzminister bekannt, daß auf Dollareinkommen ab 1996 eine Steuer zwischen 10% und 50% erhoben wird. Die Selbständigen, gleichgültig, ob sie in Dollars oder Pesos kassieren, sollen nach einer gleitenden Skala zur Kasse gebeten werden. Die Bezieher formeller Peso-Einkommen bleiben allerdings vorerst verschont.

Das Haushaltsdefizit konnte 1995 weiter zurückgefahren werden und lag bei 750 Mio Pesos (1993: 5 Mrd.; 1994: 1,4 Mrd.). Im Haushalt für 1996 beträgt es 580 Mio Pesos. Wichtigster Einsparposten: die Subventionen für defizitäre Staatsunternehmen. Diese erhielten (nach 3,4 Mrd. im Jahr 1994) 1995 nur noch 1,8 Mrd. Pesos; 1996 soll dieser Ausgabenposten weiter schrumpfen.

Wenigstens ein größeres Gesetzeswerk kam 1995 jedoch zustande. Nach monatelanger, bisweilen hitziger Debatte, in die Castro mehrfach höchstselbst eingriff, wurde am 5. September das Gesetz Nr. 77 von der Nationalversammlung einstimmig akzeptiert: das neue Rahmengesetz über ausländische Investitionen. Die cubanische Wochenzeitung Juventud Rebelde pries das neue Regelwerk noch vor dessen Verabschiedung als "wagemutigen Schritt". Damit keine falschen Assoziationen entstehen, in welche Richtung dieser Schritt geht, sah sich die Nationalversammlung genötigt, in einer Resolution klarzustellen, das Gesetz sei nicht vom Neo-Liberalismus inspiriert und ziele auch nicht auf einen Übergang zum Kapitalismus. Castro bemühte in seinen Einlassungen einmal mehr das chinesische und vietnamesische Beispiel. Zwar würden weitere Reformen gemacht, wenn dies nötig sei, und wenn das Land weiter geöffnet werden müsse, dann würde man das tun. Nicht zu rütteln sei allerdings an dreierlei: am Sozialismus, an der Rolle der Partei und am politischen System, denn wohin eine Perestroika führe, habe man in der Sowjetunion gesehen.

Gegenüber dem bislang geltendenden Investitionsgesetz von 1982 enthält das Gesetz Nr. 77 wesentliche Neuerungen und Präzisierungen. So wurde die Beteiligungsgrenze von 49% abgeschafft, was nunmehr Investitionen ermöglicht, die mehrheitlich oder vollständig in ausländischer Hand sind. Zukünftig ist ausländischen Unternehmen auch der Erwerb von Immobilien erlaubt.

Grundsätzlich können Ausländer in allen Wirtschaftsbereichen investieren, ausgenommen die Streitkräfte, das Erziehungs- und das Gesundheitswesen. Auch diskriminiert das neue Gesetz nicht nach der Nationalität derer, die ausländisches Kapital nach Cuba bringen, was die Möglichkeit offenläßt, daß Auslandscubaner auf der Insel investieren.

Hinsichtlich der Art der Investitionen wird im Gesetzestext definitorisch unterschieden zwischen Direktinvestitionen, der gegenwärtig vorherrschenden Form, und Beteiligungen über Aktien und andere Finanzierungsinstrumente; eine Differenzierung, die weithin als Hinweis auf die Absicht interpretiert wird, einen Kapitalmarkt zu entwickeln und Staatsunternehmen an eine noch zu gründende Börse zu bringen. Ein weiterer Hinweis auf bevorstehende Neuerungen ist, daß das neue Gesetz den Ministerrat ermächtigt, Industrieparks und Exportfreizonen einzurichten.

Das Recht auf freie Repatriierung von Gewinnen und Dividenden ist bereits im Investitionsgesetz von 1982 abgesichert. Das neue Gesetz verbessert den Schutz ausländischer Kapitalanlagen und regelt u.a. auch das Problem der Enteignung. Enteignungen müssen zukünftig "rechtmäßig", d.h. von den in Cuba geltenden Gesetzen und den von Cuba ratifizierten internationalen multi- und bilateralen Abkommen gedeckt sein. Sollte es zu einer Enteignung kommen, fällt der Marktwert der Investition als Entschädigung an, deren Höhe im Streitfall von einer international anerkannten Betriebsprüfungsfirma festgelegt wird.

Abgeschafft ist in dem neuen Gesetz die Verpflichtung ausländischer Unternehmen, sich bei cubanischen Gesellschaften zu versichern. Aufrechterhalten wird allerdings das bestehende Verbot, cubanische Arbeitskräfte direkt unter Vertrag zu nehmen; nach wie vor müssen ausländische und gemischte Unternehmen ihre Beschäftigten bei einem staatlichen Vermittlungsbüro mieten. Allerdings schreibt das Gesetz bei diesem von vielen Investoren monierten Punkt die Möglichkeit von Ausnahmen fest.

Schließlich reglementiert das neue Gesetz auch das Genehmigungsverfahren. Nach wie vor entscheidet zwar das Exekutivkomitee des Ministerrats über die Anträge, was in der Vergangenheit oft zu langen Wartezeiten führte. Nach dem neuen Gesetz delegiert der Ministerrat jedoch unter bestimmten Voraussetzungen seine Kompetenzen an eine Kommission; dann nämlich, wenn es sich um Beteiligungen (also nicht um 100%ige Übernahmen oder Neugründungen) unter 10 Mio US$ handelt, wenn an der investierenden Firma keine Staaten beteiligt sind und wenn die Investition keine Übertragung von Eigentumsrechten des cubanischen Staates einschließt. Überdies werden Fristen für die Erteilung von Bescheiden gesetzt.

Ohne die Investitionen aus dem Ausland, die seit 1993 verstärkt nach Cuba strömen, hätte das Land die Durststrecke der letzten Jahre kaum überlebt. Das bescheidene Wachstum sowie die allmähliche Erholung der Exporte verdanken sich zu einem erheblichen Maße der Präsenz ausländischer Partner. Bis Mitte 1995 standen 212 Beteiligungen im Wert von 2,1 Mrd. US$ zu Buche, und über 300 Projekte wird gegenwärtig verhandelt. Doch diese Zahlen haben wenig Aussagekraft, solange sich die cubanische Regierung über die Höhe der Kapitalzuflüsse in den einzelnen Vorhaben ausschweigt. Da die meisten Verträge vorsehen, daß die Einlagen über einen längeren Zeitraum nach und nach eingebracht werden, reduzieren sich stolze Summen oft auf ein paar Mio US$. Hinzu kommt, daß bei einigen Projekten debt-for-equity-swaps im Spiel waren, so daß die zahlungsbilanzwirksamen Zuflüsse erheblich unter den in der Presse gehandelten Summen lagen.

Beim Verkauf von 49% der Telefongesellschaft EMTEL (jetzt ETECSA) an die mexikanische Domos-Gruppe betrug der Preis 750 Mio US$. 200 Mio US$ wurden mit Swaps beglichen (wofür Domos einen günstigen Kredit der staatlichen BANCOMEXT erhielt), was den Nebeneffekt hatte, daß Cuba sämtliche Verbindlichkeiten mit Mexico auf einen Schlag loswurde. Die zweite Rate konnte Domos erst nach dem Weiterverkauf von 25% seiner Aktien an den italienischen Konzern STET erledigen; die 220 Mio US$ von STET sind bislang die einzige Zahlung, die Cuba für sein Telefonsystem erhalten hat. Domos ist mit den restlichen 300 Mio US$ in Verzug und ist überdies den eingegangenen Investitionsverpflichtungen nicht annähernd nachgekommen. Nach Gerüchten aus der Branche verhandelt die mexikanische Gruppe über den Verkauf eines weiteren Aktienpaketes. Da der Marktwert von ETECSA sich mittlerweile knapp verdoppelt haben dürfte, hat Domos die Chance, sowohl den Rest des Kaufpreises als auch seine Investitionsverpflichtungen von einem Dritten finanzieren zu lassen. Der Anreiz, Eigenmittel einzuschießen, ist also nicht sonderlich groß, und die cubanische Seite verfügt über wenig Möglichkeiten, ausstehende Zahlungen einzutreiben, denn Druck auf Domos könnte leicht unangenehme Folgen für das Investitionsklima haben. Der eigentliche Vorteil für Cuba bei diesem Deal liegt darin, daß BANCOMEXT Cuba nach dem Ausgleich der Schulden mit Mexico eine Kreditlinie in Höhe von 300 Mio US$ einräumte.

Das U.S.-Cuba Trade and Economic Council, eine Gruppe, die US-Unternehmen über legale Möglichkeiten berät, sich in Cuba zu engagieren, hat errechnet, daß bis August 1995 Investitionen in Höhe von 4,9 Mrd. US$ angekündigt wurden, und schätzt, daß davon lediglich 556 Mio US$ formellen Verpflichtungen entsprechen. Die cubanische Zahlungsbilanz (im vergangenen Jahr wurden zum erstenmal seit 1989 einige Wirtschaftsdaten veröffentlicht und überdies nach internationalem Standard aufbereitet) weist in der Rubrik Direktinvestitionen für 1993 54 Mio US$ und für 1994 563,4 Mio US$ aus, wovon knapp die Hälfte aus dem Domos-Deal stammen. Insofern erscheint es realistisch, wenn Octavio Castilla, Vizeminister im Ministerium für ausländische Investitionen, für die Zukunft mit Zuflüssen von 200 - 300 Mio US$ im Jahr kalkuliert.

Leider lassen die verfügbaren Daten keine Gewichtung der Investitionen nach Branchen und nach Herkunftsländern der Kapitalgeber zu, da die finanziellen Details der Beteiligungsverträge als Staatsgeheimnis gelten. Ausgehend von der absoluten Zahl der Projekte ist eine rasante Steigerung zu verzeichnen, 1991 wurde 11 Joint-Ventures gegründet, 1992 33, 1994 74, und 1995 dürfte die Zahl von 1994 annähernd wieder erreicht worden sein. Ein Viertel der Assoziationsverträge (47) wurden mit spanischen Unternehmen abgeschlossen, auf den Rängen: Kanada (26), Italien (17), Mexico (13), Frankreich (13) und Holland (9). Hinzu kommen 29 Anleger aus Lateinamerika; der Rest ist breit gestreut. Die meisten (und größten) Projekte entfallen auf den Bergbau- und Ölsektor, den Fremdenverkehr und das Agrobusiness. Einzelne Projekte sind im Textilsektor und bei der Produktion von Seife, Kosmetika und Waschmittel in Gang gekommen, wo sich Unilever engagiert hat. Ein Ausnahmefall ist der Verkauf der Telefongesellschaft.

Das Gesetz Nr. 77 ist zweifellos ein Schritt nach vorn bei der Konsolidierung der wirtschaftlichen Öffnung. Es kann als Einladung gelesen werden, in bislang unbeachtete Wirtschaftssektoren wie die Stromerzeugung, den Immobilienmarkt, das Transportwesen und die Agrarindustrie einschließlich des Zuckersektors zu investieren - eine Einladung auch an die Auslandscubaner. Die Anspielungen auf Mechanismen der Privatisierung über einen (bislang nicht existierenden) Kapitalmarkt sind nicht unbeachtet geblieben, und auch Interessenten für Industrieparks und Exportfreizonen haben sich bereits gemeldet. Daß die Inlandscubaner in dem gesamten Privatisierungskalkül überhaupt nicht vorkommen, schafft allerdings allmählich böses Blut.

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6. Was wurde erreicht und wie geht es weiter

Die cubanische Führung brauchte lange, bis sie begriff, daß die Sowjetunion für immer abgedankt hat. Sie brauchte lange, um einzusehen, daß die bequemen Zeiten einer sicheren Versorgung mit Gütern und Geld nie wiederkehren werden. Im letzten Moment und gerade noch rechtzeitig, um einen totalen Kollaps zu verhindern, wurde die Wende vollzogen und das Land auf Transformationskurs gesetzt.

Viele der noch vor zwei Jahren von Cuba-Kritikern und -Freunden geforderten Maßnahmen wurden mittlerweile ergriffen. Die Neuorientierung und Diversifizierung des Außenhandels hat rasche Fortschritte gemacht. Gezielt und kontrolliert wurden Wirtschaftsbereiche geöffnet, für ausländisches Kapital und auch für private Initiativen der Bevölkerung. In einigen Bereichen sind Marktmechanismen bereits wirksam, und ein begrenzter Wettbewerb ist in Gang gekommen. Die Maßnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen nehmen nach Ansicht von Beobachtern wesentliche Elemente eines eventuellen späteren IWF-Programms vorweg.

Nach wie vor werden allerdings die Marktimpulse durch ein System staatlicher Wirtschaftslenkung gefiltert, das nicht aufgehört hat, zentralistisch, dirigistisch und bürokratisch zu sein. Doch der Filter hat Löcher bekommen, die in dem Maße größer werden, wie die Dollarwirtschaft expandiert, wie mächtige ausländische Investoren (zumindest lokal) die Bedingungen diktieren und wie die Bevölkerung die neuen Chancen zur Selbständigkeit nutzt. Ein Vergleich mit den Gepflogenheiten früherer Zeiten macht deutlich, daß sich gerade im Bereich der Staatswirtschaft und bei der Planung wesentliche Dinge verändert haben:

Zwar wurde bereits auf dem I. Kongreß der PCC im Jahre 1976 beschlossen, die sozialistischen Unternehmen sollten eigenständige juristische Personen sein, ihre Ausgaben mit den Einnahmen bestreiten, Gewinne machen und dies mit Methoden der Buchhaltung und Statistik belegen. Doch war in den 80er Jahren die Buchhaltung der meisten Firmen immer noch Teil des Haushaltes eines der Produktionsministerien oder eines der Firmenkonglomerate (Uniones), die ähnlich wie die Ministerien funktionierten. Das System der Wirtschaftslenkung mußte eine Input-Output-Rechnung mit 1700 Posten von Produktionsmengen (in Tonnen, Stück oder Liter) zum Aufgehen bringen, was schon wegen der wenig verläßlichen Statistiken nie recht klappen wollte. Auf einem Parteitag im Jahre 1987 wurde deshalb verzweifelt "buchhalterische und statistische Disziplin" gefordert, insbesondere bei der Führung der Mengenregister. Das System der Bilanzen ist in Cuba nie über solche Mengenregister hinausgekommen. Jedenfalls stellte die Bewertung der Transaktionen in Pesos weder für die Unternehmen noch für die Planungsbürokratie einen verläßlichen Indikator dar. Dies, so eine cubanische Studie, nicht zuletzt wegen der verbreiteten Praxis, Ineffizienzen zuzudecken und Produktionsergebnisse zu schönen. In den Unternehmen waren nach einer Recherche des Staatskomitees für Finanzen Anfang der 90er Jahre über 100.000 Untersuchungen anhängig über Differenzen zwischen den Inventaren und den tatsächlich vorhandenen Mengen an Waren oder Material.

Heute ist der größte Teil der Planungsbürokratie verschwunden, und Planung bedeutet vor allem Gewährleistung eines möglichst gleichberechtigten Zugangs zu knappen (insbesondere importierten) Inputs, nicht aber die Koordination von Details der Produktion. Auch wenn der Staat weiterhin in Produktionsentscheidungen eingreift, Investitionslenkung betreibt und viele Preise diktiert, sind unternehmerische Freiräume entstanden: Firmenkonglomerate wurden zerlegt und viele Entscheidungen dezentralisiert; bei manchen Transaktionen sind sogar die Austauschrelationen zwischen den Firmen verhandelbar. Entscheidend ist jedoch, daß nicht mehr in physischen Mengen gemessen wird, sondern rigoros in Geld, wodurch die Firmen Knappheiten stärker spüren, insbesondere seit auf eine realistische Gewinn- und Verlustrechnung Wert gelegt wird und Verluste nur noch in Ausnahmefällen gedeckt werden. Das Korsett der Planung wurde beträchtlich gelockert, wenngleich man es noch nicht abgestreift hat.

Die Maßnahmen zur Dezentralisierung, Rationalisierung und Effizienzsteigerung des Produktionsapparats dürften, wenn sie weitergehen, durchaus zu einer gewissen Zunahme der Produktivität führen und könnten auf diese Weise einen Beitrag zum Wachstum oder zumindest zur Stabilisierung des Sozialprodukts leisten. Doch der entscheidende (makroökonomische) Flaschenhals für eine Reaktivierung der Ökonomie ist der Devisenengpaß. Die cubanische Wirtschaft ist hochgradig abhängig von importierten Inputs, deren Verfügbarkeit die Produktion von Gütern und Diensten und die Kapazitätsauslastung des Produktionsapparats unmittelbar determiniert. Auf der anderen Seite ist die Verfügbarkeit von Devisen von einem wenig effizienten Primärgüter-Exportsektor abhängig.

Eine Strategie der Exportdiversifizierung ist so lange nicht möglich, solange der Devisenengpaß besteht, denn sie erfordert zusätzliche Investitionen und Importe. Zwar ist nicht auszuschließen, daß der Primärgüter-Exportsektor zulegt und dadurch das eine oder andere Wachstumsprozent und die Reaktivierung der einen oder anderen Branche ermöglicht. Doch für spektakuläres Wachstum reicht dies nicht aus; das geben weder die realistischerweise zu erwartenden Mengen noch die Weltmarktpreise her. Cuba muß damit fertigwerden, daß das Land durch Rohstoffexporte nie wieder so viel einspielen wird wie in den glorreichen Zeiten der vorteilhaften Beziehungen mit der Sowjetunion. Aufzuholen ist aber nicht weniger als ein über 30%iger Einbruch des Sozialprodukts.

Auch die ausländischen Direktinvestitionen werden allenfalls einen Wachstumsbeitrag leisten, aber nicht der ausschlaggebende Faktor sein, um das Produktionsniveau früherer Zeiten wieder zu erreichen. Dazu ist die Größenordnung von 200 bis 300 Mio US$ im Jahr einfach zu gering. Blieben als weitere Möglichkeit Kredite zu günstigen Bedingungen. Zwar gibt es Anzeichen für ein gewisses Wohlwollen des Pariser Clubs gegenüber Cuba, doch bis zu einer Umschuldung und bis "frisches Geld" fließt, dürften Jahre vergehen. Sollten allerdings die USA ihre Cuba-Politik ändern, werden Investitionen und Kredite in einem Ausmaß nach Cuba fließen wie selten zuvor in ein Land. In den USA werden bereits Vorbereitungen für den Tag X getroffen. Der Präsident des Agrobusiness-Giganten Archer Daniels Midland Co., Dwayne Andreas, ließ verlauten: "Der beste Weg, in Cuba Menschenrechte durchzusetzen, ist nach meiner Ansicht, wenn man dem freien Unternehmertum erlaubt, die Insel zu überrennen".

Vermutlich wird Cuba weder überrannt, noch wird der Insel irgendjemand mit großzügigen Krediten aus der Patsche helfen. Das bedeutet, daß der Devisenengpaß fortbestehen wird und in den kommenden Jahren mit niedrigen Wachstumsraten zu rechnen ist, im schlimmsten Fall, wenn der Transformationsprozeß zu Friktionen führt, mit Nullwachstum. Ob und wie lange das Land eine solche Situation politisch verkraftet, ist allerdings eine offene Frage. Die Konsumerwartungen sind stark von den nahen USA beeinflußt, und was eine knappe Million Touristen pro Jahr vorleben, bleibt ebenfalls nicht folgenlos. Bislang hat das Regime jedesmal Ventile geöffnet, wenn der Unmut oder der Erwartungsdruck im Volk zu groß wurde; außerdem ist der Reformprozeß weit genug gediehen, um eine Eigendynamik zu entfalten.

So spricht wenig gegen die Annahme, daß das Regime versuchen wird, die einzige Wachstumsquelle, die neben den diskutierten noch zur Verfügung steht, auch zu nutzen: die weitere allmähliche Liberalisierung von Märkten. Eine unkontrollierte Liberalisierung hingegen könnte sich als kritisch erweisen, denn solange die institutionelle Ausgestaltung der neuen Ökonomie nicht weit genug vorangeschritten ist, würden nur die knappen Ressourcen umgeschichtet und konzentriert, mit Folgen wie in Osteuropa: Verschlechterung des Lebensstandards, Rückgang der Produktion, Verschlechterung der Einkommensverteilung und explodierende Arbeitslosigkeit. Nur ein milliardenschweres Investitions- und Kreditprogramm, wie es in den USA für den Tag nach Castro bereitliegt, könnte solche Folgen verhindern, und auch nur dann - siehe Osteuropa -, wenn die Milliarden durch eine kluge Wirtschaftspolitik fruchtbar gemacht werden. Ein "Marktschock" würde das Regime zweifellos destabilisieren und seiner Fähigkeit berauben, den Reformprozeß wirtschaftspolitisch zu steuern.

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7. Politische Entwicklung: Widerstand findet nicht statt

Eine CID/Gallup-Umfrage Anfang 1995 - die erste, die von einem unabhängigen Institut auf der Insel durchgeführt werden konnte - förderte Unerwartetes zu Tage: 48% der Befragten bekannten sich zur Revolution, 58% waren der Meinung, die Politik des Regimes der vergangenen drei Jahrzehnte habe mehr Nutzen als Nachteile gebracht, und eine satte Mehrheit führte die Krise auf das US-Embargo zurück. Allerdings stufte sich ein Viertel der Befragten, überwiegend städtische Jugendliche, als "nicht in das System integriert" ein. Auf die Frage, ob sie gegebenenfalls Regimegegner unterstützen würden, fielen den Interviewten Kirche oder Familienmitglieder ein (35%); ein Viertel kreuzte "niemand" an. An Menschenrechtsgruppen oder Dissidenten dachten lediglich 12% (22% zogen es vor, sich überhaupt nicht zu äußern). Immerhin 60% der Befragten hofften, daß das nächste Jahr dank der Wirtschaftsreformen ein besseres Jahr werde als das abgelaufene.

Die Ergebnisse der CID/GALLUP-Umfrage wollen so recht nicht zu dem passen, was in die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften am 5. August 1994 hineininterpretiert wurde. Damals waren 10.000 bis 20.000 Menschen in Alt-Habana zusammengeströmt aufgrund von Gerüchten, daß Schiffe aus Miami unterwegs seien, um alle Ausreisewilligen abzuholen. Als die Schiffe ausblieben und die Polizei die Menge aufzulösen versuchte, kam es zu einer Straßenschlacht, die mehrere Stunden andauerte. Doch diese Ereignisse markierten weder den Beginn einer cubanischen Intifada noch Castros letztes Stündlein. Das Regime ließ die Unzufriedenen ziehen - insgesamt 30.000 -, wenn auch infamerweise per Floß über die gefährliche Florida-Meerenge. Danach kehrte Ruhe ein.

Obwohl die Ereignisse nach Kräften heruntergespielt wurden ("randalierendes Lumpenproletariat, von Provokateuren im Sold von Miami gesteuert"), das offizielle Cuba war schockiert und nahm die Warnung ernst. Man begann zu begreifen, daß der wirtschaftliche Niedergang seit 1989 und die Mangel- und Rationierungswirtschaft (erbärmlich schlechte Lebensmittelversorgung, extreme Verknappung aller - auch lebenswichtiger - Importwaren, ganztägige Stromabschaltungen, radikale Ausdünnung des öffentlichen Nahverkehrs) auf Dauer nicht ohne Folgen für die politische Stabilität bleiben würden. Anzeichen für ein Nachlassen der Bindewirkung des Systems und damit für eine allmähliche Erosion der sozialistischen Institutionen hatte es bereits bei den Wahlen von 1993 gegeben, als im Großraum Habana 13% der Wähler ungültig stimmten. In den Betrieben nahmen die Fehlzeiten und der Schwund von Material und Werkzeugen sprunghaft zu. Im Sommer des gleichen Jahres tauchten erstmals regierungsfeindliche Wandschmierereien auf, und während der nächtlichen Stromabschaltungen wurden öffentliche Gebäude und Staatsläden mit Steinen beworfen.

Daß sich die Probleme gerade im Sommer zuspitzten, hat gute Gründe. Der August und ein Teil des Septembers sind Ferienzeit. Die Schulen, die Universitäten und viele Betriebe sind geschlossen; die meisten Behörden funktionieren nur halb. In den Ferien gibt es keine Schulspeisung; die Mensen und Kantinen, die die Versorgungsengpässe leichter erträglich machen, sind zu. Die Familien müssen also selbst sehen, wie sie zurechtkommen, und die Knappheiten drücken stärker. Wenn dann noch der Strom ausbleibt, die notorischen Transportprobleme es fast unmöglich machen, die wenigen Freizeitangebote wahrzunehmen, und die Sommerhitze ihren Höhepunkt erreicht, lasten die Probleme doppelt schwer, und die aufgestauten Spannungen und Frustrationen drängen nach Entladung.

1995 hat die Regierung versucht, die Menschen zu beschäftigen. Zahlreiche Musikveranstaltungen fanden statt, das Fernsehen weitete seine Sendezeit erheblich aus, und der Strom wurde viel seltener abgeschaltet. Durch die unmittelbar nach den Ausschreitungen von 1994 eingeführten freien Bauernmärkte hat sich überdies die Versorgungslage spürbar verbessert, und einem neuerlichen Massenexodus hat die Regierung durch das Migrationsabkommen mit den USA einen Riegel vorgeschoben.

Doch für viele sind Alltagsfrust und Versorgungsengpässe trotz alledem schwer erträglich. Dies gilt vor allem für jene 60% der Bevölkerung, die keine Dollars haben, und noch viel mehr für die neue Unterschicht, die im Gefolge der Wirtschaftsreformen entstanden ist. Was in den meisten lateinamerikanischen Städten längst zum Alltag gehört, beginnt sich auch in Habana auszubreiten: Bettler, Straßenkinder, die für ein paar Münzen Autos waschen, Rentner, die irgendwie einen Dollar zu ergattern versuchen, Straßenhandel mit allem, was greifbar ist, aber auch Diebstähle, Überfälle und Prostitution. Auch Cuba hat seinen informellen Sektor.

Informalisierung bedeutet zugleich Entpolitisierung. Austritte aus der Union Junger Kommunisten und dem Studentenverband häufen sich und nehmen in dem Maße zu, wie sich herumspricht, daß die Betreffenden nicht wie in früheren Zeiten Repressalien zu befürchten haben. Die Massenorganisationen registrieren nachlassenden Zulauf und merklichen Unwillen, an den zahlreichen Sitzungen teilzunehmen. Doch das zurückgehende Engagement ist nicht gleichbedeutend mit Opposition oder gar Widerstand gegen das Regime, sondern mit Rückzug ins Private, auf Familien- und Überlebensnetze.

Viele derer, die ein paar Dollars auf der Seite haben oder Geld aus dem Ausland bekommen, nutzen ein Ventil, das es 1994 noch gar nicht gab: Sie machen sich selbständig, eröffnen ein Restaurant, beginnen, einen einfachen Gebrauchsartikel in Heimarbeit zu produzieren, oder handeln mit dem, was andere herstellen. Auf dem Handwerkermarkt gibt es mittlerweile sogar Zierfische und Blumen. Trotz aller Restriktionen herrscht in den neuen Privatsektoren fieberhafte Tätigkeit. Sie absorbieren einen wesentlichen Teil der Energien, die sonst in Frust oder Opposition umschlagen könnten. Aber auch Selbständigkeit bedeutet Entpolitisierung: "Für diesen ganzen Sitzungsfirlefanz habe ich schlicht keine Zeit mehr", so der Besitzer eines neueröffneten Restaurants, ein ehemaliger Kader des Sicherheitsdienstes.

Nach wie vor gibt es zur Verhinderung von offener Opposition allerdings den staatlichen Überwachungsapparat, der seine Bürger bespitzelt, einschüchtert und jene exemplarisch bestraft, die sich zu weit vorwagen. Und die offiziellen Massenorganisationen wirken als Mechanismus gegenseitiger Kontrolle. Doch die staatliche Überwachung wurde in den letzten Jahren gelockert. Wer nur schimpft und meckert, hat nichts zu befürchten, solange an den Grundpfeilern des Systems nicht gerüttelt wird; Cuba war nie ein Unterdrückungsregime rumänischen Typs, und die Machthaber erfreuten sich selbst auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise einer breiten Unterstützung durch die Bevölkerung. Konfliktfähige und konfliktbereite Gruppen, die dem Regime Paroli bieten könnten, gibt es nur in insignifikanten Ansätzen; fast alle Aktivisten sind früher oder später emigriert. So sind Frustration, Entpolitisierung, Individualisierung und wachsende Kriminalität die augenfälligsten Symptome von Dissidenz.

Auch einige zaghafte Schritte einer politischen Lockerung hat das Regime unternommen. Die Rolle des Parlaments gegenüber der Exekutive wurde gestärkt, symbolisiert durch die Wahl von Ricardo Alarcón zum Parlamentspräsidenten und mit dem praktischen Effekt, daß die Parlamentsausschüsse insbesondere bei Wirtschaftsfragen intensiv mitsprechen, Vorschläge machen und diskutieren. Außerdem hat das Regime zugelassen, daß eine Fauna von NGOs entstand, wenngleich in manche intensiv hineinregiert wird. Es gibt Debatten über die Bedeutung der zivilen Gesellschaft im Sozialismus, was vor kurzem noch undenkbar gewesen wäre. Bei wirtschaftspolitischen Themen finden Wissenschaftler und Intellektuelle heute problemlos Foren, wo eingeschränkt öffentlich über Ideen und Konzeptionen diskutiert werden kann. Ausländische Druckwerke zirkulieren viel freier im Land als noch vor einigen Jahren. In der Diskussion ist außerdem eine Reform des Systems der politischen Beteiligung, bis hin zum Wahlsystem. Doch bislang ist durch die kleinen Schritte politischer Lockerung bestenfalls eine Spielwiese für Intellektuelle entstanden. Für das Gros der Bevölkerung hat sich wenig verändert.

Nicht außer acht lassen sollte man allerdings, daß auch im Staats- und Parteiapparat manches in Bewegung geraten ist. An wichtigen Schalthebeln sitzen heute die Kinder der Revolution, nicht mehr die ehemaligen Guerillas aus den Bergen. Castro hat als cleverer Powerbroker diesen Generationswechsel gefördert, die Neuen und die Neuerer zwar immer wieder gebremst, ihnen dann aber doch den Rücken freigehalten. Inzwischen sitzen die Neuerer in wichtigen Ministerien, Ausschüssen und Kommissionen und dürfen mit Reformen im Produktionsapparat experimentieren oder in wirtschaftsnahen Institutionen Konzepte ausarbeiten. Wenn man schon von Strömungen sprechen will - Fraktionen gibt es nicht -, so sind zu unterscheiden eine Gruppe, die viele Reformen will, eine andere, die die Reformen auf das allernötigste beschränken möchte, eine weitere, die die Reformen rasch vorantreiben möchte, und eine vierte, die im Namen des Gradualismus den Prozeß am liebsten abbremsen würde.

Ein weiterer Faktor, der innenpolitisch eine zunehmend wichtigere Rolle spielen wird, sind die Beziehungen zu den cubanischen Migrantenkolonien. Neuerdings wird eine Anherung an das bunte Spektrum der Auslandskubaner gesucht, soweit diese gesprächsbereit sind. Dem Exil wird sogar eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf des Transformationsprozesses zugeschrieben, nicht zuletzt als Investor. So konnte Gutiérrez Menoyo, der Vorsitzende von Cambio Cubano, einer gemäßigten Exilorganisation, Cuba besuchen und wurde sogar von Castro empfangen. Er nahm im November 1995 als Mitglied einer vielköpfigen Delegation von Exilpolitikern auch an der II. Konferenz Die Nation und die Emigration in Habana teil; die erste Konferenz dieser Art hatte 1994 stattgefunden. Dieses Forum ist neben den Seminaren über partizipative Demokratie, wo sich ebenfalls Regimevertreter und Auslandscubaner begegnen, auf dem besten Wege, sich zu einem institutionalierten Dialog zwischen dem Regime und den cubanischen Exilorganisationen von Miami bis Madrid zu entwickeln. Die Falken insbesondere in der Miami-Szene sind unter Legitimationsdruck geraten.

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8. Neue Ungleichheit und neue Akteure

Arturo Guzmán Pascual gehörte ein Jahrzehnt lang dem Kabinett an, als Minister des Staatskomitees für Preise. 1994 wurde das Staatskomitee vom Finanzministerium geschluckt, und Guzmán übernahm für kurze Zeit die Leitung eines Forschungsinstituts. Heute ist er Vize-Minister im Tourismusministerium und wird gleichzeitig als Mitglied einer Gruppe gehandelt, die von den einen als Reformerstammtisch, von den anderen als Think Tank der Reform gehandelt wird. In einer Rede, die später von einer wissenschaftlichen Zeitschrift abgedruckt wurde, finden sich folgende Ausführungen: "Ethische und soziale Werte gehen zusehends verloren, weil die soziale Pyramide auf den Kopf gestellt wurde. Oben sind gegenwärtig jene, die auf welche Weise auch immer Devisen beziehen, und andere, die Privilegien genießen, ohne daß dies durch einen Nutzen für die Gesellschaft gerechtfertigt wäre. Unten sind die Arbeiter, die Wissenschaftler und Fachleute, deren Einkommen seine Kaufkraft verloren hat, die alle Härten dieser schwierigen Phase ertragen und gleichzeitig das Rückgrat der Gesellschaft bilden."

Kein Zweifel, die soziale Pyramide ist in Bewegung geraten. Obwohl die Reform kaum begonnen hat, finden Umschichtungen und Verschiebungen statt, die die Verantwortlichen erschrecken und verunsichern. Schließlich sind "Gleichheit" und "soziale Versorgung" mittlerweile die wichtigsten Legitimationselemente im Diskurs des Regimes (neben "nationaler Unabhängigkeit"). Während der vergangenen Jahrzehnte hat das Regime eine Nivellierung der Gesellschaft auf das Niveau der unteren Mittelschicht anderer lateinamerikanischer Länder betrieben und ist dabei sehr weit gekommen. Heute ist die nivellierte Gesellschaft dabei, sich zu entmischen: Viele fallen nach unten, einige steigen nach oben, und was noch gravierender ist, das Gros sinkt en bloc auf das Niveau einer "unteren unteren Mittelschicht". Politisch steigt mit der sozialen Deklassierung die Gefahr, daß sich riots wie im August 1994 wiederholen, und die sozialen Aufsteiger könnten sich mittelfristig zu neuen politischen Akteuren mausern, die, weil ökonomisch unabhängig vom Staat, irgendwann nicht mehr bereit sein könnten, die Monopolisierung von Politik durch die Partei anzuerkennen.

So gibt es zwar bislang keine neuen politischen Akteure, neue Akteure aber sind in der cubanischen Gesellschaft durchaus auf den Plan getreten. Es ist nicht entscheidend, daß es sich nicht um formell konstituierte Akteure im Sinne von organisierten Interessengruppen oder Verbänden handelt, denn politisch berücksichtigt werden muß auch, was viele Individuen in Bereichen tun, die dem unmittelbaren Zugriff des Staates entzogen sind.

- Zu jenen 210.000 Cubanern, die ein Gewerbe angemeldet haben und auf eigene Rechnung arbeiten, kommen mindestens ebensoviele hinzu, die keine Lizenz beantragt haben. Rechnet man mithelfende Familienangehörige, "Lieferanten" und alle anderen dazu, die von diesem Sektor direkt oder indirekt abhängen, gelangt man leicht in die Größenordnung von einer Million Menschen; eine Million Cubaner, die an Wirtschaftsfreiheit und weiteren Reformen interessiert sein müssen, weil sie dank der "Arbeit auf eigene Rechnung" überleben oder besser leben.

- Durch die Einrichtung von Agrarkooperativen sind 400.000 ehemalige Staatsbauern gezwungen, ökonomisch zu denken und ungewohnte Verantwortung zu übernehmen. Viele haben durch die Vermarktung von Überschüssen oder die Umleitung von Teilen der Ernte auf die freien Bauernmärkte die Erfahrung gemacht, daß man mit Landwirtschaft auch richtig Geld verdienen kann. Daß diese Gruppe auf die Dauer mit staatlichen Produktionsvorgaben und Ablieferungspflichten glücklich wird, ist höchst unwahrscheinlich.

- Über 60.000 Menschen arbeiten in Joint-Ventures, mit einem ausländischen Manager als Chef und unter Regeln, die vom Gewohnten erheblich abweichen. Außerdem verdienen sie nebenbei ein paar Dollars, sei es als Prämien, sei es als Trinkgelder, oder erhalten von der Firma Vergünstigungen bis hin zum Dienstwagen. Die Interessenlage diese Gruppe ist notwendig eine andere als die der Beschäftigten in den Staatsbetrieben.

- Zumindest lokal werden ausländische Unternehmen selbst zum Akteur. In dem kleinen Ort Moa in der Ostprovinz Holguin etwa, wo der kanadische Minenkonzern Sherrit seit 1994 die Nickelproduktion in die Hand genommen hat, ist die ausländische Firma bedeutend mächtiger als die lokalen Behörden. Sie hat die Arbeiter auf ihrer Seite, weil sie Vorzugsbedingungen bietet, und verfügt über all das, was der Staat nicht hat, angefangen bei Autos und Benzin bis zu der Möglichkeit, dringend benötigte Ersatzteile für ein Kraftwerk einfliegen zu lassen. Daß es die Firma ist, die Probleme lösen und Dinge regeln kann, bleibt nicht folgenlos für die Beziehungen zwischen den Arbeitern und ihren Familien auf der einen Seite, Partei und Gewerkschaft auf der anderen.

- Mit der Krise haben sich auch die Ungleichheiten zwischen Stadt und Land, Hauptstadt und Provinzen akzentuiert. Dies führte zu internen Verteilungskämpfen, zu Kritik am Zentralismus und zum Ruf nach größerer Autonomie. Auch hat die Führung in manchen Provinzen durchaus eigene Vorstellungen von dem, was zu tun ist, die sich nicht immer mit den Vorgaben der Zentrale decken. Insbesondere wenn sich die Ungleichgewichte weiter verstärken, könnten der Zentrale im Hinterland Gegenspieler erwachsen.

Wie die Machthaber mit solchen neuen Interessenlagen und potentiellen Konfliktlinien umgehen werden, für deren Verarbeitung das politische System nicht eingerichtet ist, läßt sich schwer voraussagen. Läßt man sich vom offiziellen Diskurs leiten, der im letzten Jahr deutlich aggressiver geworden ist - Spitzenkader prangern neuerdings lautstark Werteverfall, Korruption und ungerechtfertigte Bereicherung an und fordern härtere Strafen für Schiebereien -, steht zu befürchten, daß die Exponenten neuer Interessengruppen nichts zu lachen haben werden, sollten sie es wagen, sich offen zu artikulieren. In einer Rede vor der Nationalversammlung am 26. Dezember 1995 legte Castro den Abgeordneten ans Herz, daß Cuba mit einer neuen sozialen Klasse fertigwerden müsse, und je mächtiger und einflußreicher diese werde, desto größer sei die Herausforderung für die Revolution - ein Aufruf zum Klassenkampf. Die Revolution, das ist die Partei, eine leninistische Eliteorganisation, die den Staat, die Sicherheitskräfte und den größten Teil der Wirtschaft kontrolliert und de-ren 720.000 Mitglieder (bei 11 Mio Einwohnern) in einem landesweiten, engmaschigen Netz von 54.000 Organisationseinheiten zusammengefaßt sind. Bislang wankt die Partei nicht. Nach dem Register des Organisationssekretärs hat sich die Krise auf die Mitgliederzahlen überhaupt nicht ausgewirkt, obwohl sich die PCC den Luxus leistet, jedes Jahr 4.000 Mitglieder auszuschließen (weitere 5.000 bis 6.000 im Jahr scheiden aus durch Tod oder auch dadurch, daß sie sich beurlauben lassen). Wie hoch der Prozentsatz jener ist, die nur aus Opportunismus oder Karrieregründen in der Partei sind, ist schwer zu sagen; gleiches gilt für den Prozentsatz der tief Überzeugten. Eliteorganisationen haben seit eh und je auf viele Menschen eine eigenartige Anziehungskraft ausgeübt. Deshalb sollte man die Partei nicht unterschätzen.

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9. Cubanische Reisediplomatie

Wenn die Wirtschaftsreform gelingen soll, braucht Cuba neue Kontakte und neue Freunde. Und wenn das US-Embargo wirklich Löcher bekommen soll, muß Cuba aktiv nach Verbündeten suchen. Dies geschieht durch eine außenpolitischen Offensive, die von einem der jungen Männer Castros, dem Außenminister Roberto Robaina, vehement vorangetrieben wird. Wo sich auf dieser Welt auch immer ein Forum bietet, eine multilaterale Konferenz, eine Präsidenteneinführung, Beerdigung oder ein anderer Anlaß, ist Robaina, dem es leicht fällt, Sympathie zu wecken, zur Stelle. Nicht die kleinste Chance wird verschmäht; so hat Cuba 1995 diplomatische Beziehungen mit Andorra, Belize, den Cayman Islands, Swaziland und Trinidad und Tobago aufgenommen. Bei gewichtigeren Ländern hatte Robaina bislang weniger Glück. So winkten die Israelis ab, als er in Israel anklopfen ließ. In der OAS hat er immerhin einen Stimmungswandel bewirkt. Generalsekretär Gaviria gab auf dem Miami-Summit, wo Cuba nicht zugelassen war, ein deutliches Signal.

Sogar seinen Meister hat der Außenminister im vergangenen Jahr intensiv in seinen Good-Will-Feldzug eingespannt. Denn nicht zuletzt in Westeuropa, wo viele Regierungen lange Zeit die US-Position zu ihrer Cuba-Politik machten, gilt es, Terrain zu gewinnen. Seit 1959 hat der Comandante diesem Weltteil lediglich einen Besuch abgestattet, der ihn 1984 nach Spanien führte.

Im März 1995 hatte Castro einen großen Auftritt auf dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen, wo er sich erstmals im Maßanzug präsentierte, die Dritte-Welt-Gruppen enttäuschte, weil er das Schlußdokument absegnete, und auf einem Empfang artig mit der Dänenkönigin plauschte. Auf der Rückreise machte er zu einem offiziellen Besuch bei der UNESCO in Paris Station; Mitterand, von den West-Alliierten mißtrauisch beäugt und von den USA scharf gescholten, nutzte die Gelegenheit und bereitete dem Cubaner einen großen Bahnhof.

Im August fuhr Castro zum Karibik-Gipfel nach Trinidad und half, die Caribbean Basin Alliance aus der Taufe zu heben - das erste und einzige Integrationsabkommen, das Cuba bislang unterschrieben hat. Zur CBA gehören neben den karibischen und zentralamerikanischen Staaten immerhin auch Mexico, Venezuela und Kolumbien. Im Oktober machte Castro auf dem Weg von der 11. Blockfreienkonferenz im kolumbianischen Cartagena zum Iberoamerikanischen Gipfel im argentinischen Bariloche und in Uruguay Station, ließ sich vom Frente Amplio feiern und vom Bürgermeister von Montevideo die Schlüssel der Stadt überreichen. Auf den Stationen der Reise sprach Castro nicht nur mit zahlreichen Staatschefs, warb um Investitionen in Cuba, sondern versuchte nach Kräften, Stimmung gegen das US-Embargo zu machen, was sich in unterschiedlich scharfen Resolutionen des Ibero- und des Blockfreien-Gipfels niederschlug.

Einer der Stars war Castro auf der an großen Namen nicht eben armen UNO-Veranstaltung zum 50jährigen Jubiläum der Weltorganisation, die vom 21. bis 24. Oktober in New York stattfand. Aufmerksamkeit war dem cubanischen Staatschef schon deshalb sicher, weil republikanische Hardliner sich im Vorfeld der Veranstaltung mit der Regierung darüber stritten, ob man Castro nicht das Visum verweigern sollte. Zum Rahmenprogramm seines New Yorker Auftritts gehörte ein Lunch mit dem hochfeinen Council of Foreign Affairs, eine Rede in einer Kirche in Harlem, Treffen mit diversen Wirtschaftsmagnaten und Pressezaren und eine Rede in einem Restaurant in der Bronx vor 200 Geschäftsleuten. CBS, NBC und CNN sorgten dafür, daß Castro die meisten Fernsehminuten von allen Konferenzteilnehmern zusammenbrachte; CNN widmete ihm eine ganze Stunde. Als der Comandante gegen Mitternacht des 24. Oktober abreiste, hatte er seinen republikanischen Erzfeinden und den konservativen Cubanoamerikaner-Organisationen, die nur ein paar kleinere Demonstrationen zusammenbrachten, eindeutig die Schau gestohlen.

Im Dezember 1995 brach Castro zu einer längeren Reise nach Vietnam und China auf, die er nutzte, um auf "technischen Zwischenstops" in Japan und Kanada Werbung für die cubanische Wirtschaftsreform zu machen und das US-Embargo anzuprangern. Auch in Zukunft ist damit zu rechnen, daß der "neue Castro" und seine von der holländischen Modistin Merel Van't Wout gefertigten Maßanzüge Aufsehen erregen, denn Roberto Robaina hat mit seinem Chef noch viel vor.

Der Abschuß zweier us-amerikanischer Zivilflugzeuge durch die cubanische Luftwaffe, die, von cubanischen Exilorganisationen gechartert, in den cubanischen Luftraum eingedrungen waren, hat Ende Februar - zumal wegen des beginnenden amerikanischen Wahlkampfes - zu einer weiteren Verschlechterung des Verhältnisses zu den USA geführt. Gleichwohl hat die Clinton-Administration bislang nur eher "mittlere" Sank-tionen ergriffen. Die rund 100.000 vorwiegend cubanischen Touristen, die jährlich per US-Charterflug ihre Verwandten in Cuba besuchen, müssen sich neue Flugrouten suchen, Kreuzfahrtschiffe aus den USA werden zunächst nicht wieder in Havanna anlegen, und weitere schmerzhafte, aber die Entwicklung in Cuba wohl nur geringfügig beeinflussende Embargoverschärfungen läuten eine in amerikanischen Wahlkampfjahren ohnehin zu erwartende Klimaverschlechterung der bilateralen Beziehungen ein. Der Anlaß hätte vor wenigen Jahren noch erhebliche Repressalien und eine bedrohliche Krise provoziert. Heute dient er vor allem dem Nachweis, daß der amtierende US-Präsident sich von keinem Wahlkampfrivalen an Schnelligkeit und Entschiedenheit bei der Verteidigung amerikanischer Interessen übertreffen läßt.


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