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Japan: der verwaltete Stillstand / von Michael Ehrke. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 21 S. = 70 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT





[Essentials]

* Die japanische Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen, sie bewegt sich nur nicht mehr. Die schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte setzte 1991 ein und gilt seit Oktober 1993 als beendet. Doch der Aufschwung läßt auf sich warten, die Wirtschaft stagniert.

* Diese Bewegungsunfähigkeit geht auf die Überbewertung des Yen zurück sowie auf die Krise des Finanzsystems (fünf Bankenzusammenbrüche), das von den Folgen der Bubble Economy belastet ist. Auch geht die Stagnation erstmals mit einer merklichen Beschäftigungskrise einher, deren wahre Dimension mit offiziell 3,4% ausgewiesenen Arbeitslosen keineswegs erfaßt ist.

* Die derzeitige kritische Lage markiert den Übergang Japans in das Stadium einer "reifen" Industriegesellschaft mit niedrigen Wachstumsraten, Beschäftigungsproblemen, einer alternden Bevölkerung und steigenden Sozialkosten.

* Damit stehen Institutionen zur Disposition, die das schnelle Wachstum mit ermöglicht haben, aber nur im Umfeld hoher Wachstumsraten bestehen können: Die lebenslange Beschäftigung und die Lohnzahlung nach dem Senioritätsprinzip in der Großindustrie, die keiretsu-Unternehmensgruppen, die administrative Lenkung der Wirtschaft und die Protektion der traditionellen Wirtschaftsbranchen vor in- und ausländischer Konkurrenz.

* Der Rücktritt des nach seinen eigenen Abschiedsworten "mitunter überforderten" Premierministers Murayama am 5. Januar 1996 war nurmehr der vorläufige Schlußpunkt einer Etappe der Stagnation.

* Es gibt keine Garantie, daß die alte Regierungskoalition unter dem neuen Steuermann Hashimoto mehr als jene aus konservativen Gemeinplätzen bestehende "Vision of Japan" realisieren wird, die der neue Premier unter diesem Titel 1993 als dürftiges "Programm" veröffentlicht hatte.

[Einleitung]

Ein Hauptthema der japanischen Medien zum Jahresende 1995 waren Giftspinnen: In mehreren Städten waren Tausende giftiger Spinnen einer Art entdeckt worden, die in Australien beheimatet ist. Man vermutet, daß die Spinnen mit australischen Obstimporten nach Japan kamen - ein neues Argument gegen voreilige Marktöffnung. Die Spinnen sollen seit mehreren Jahren in Japan ihre Netze spinnen, und bislang haben sie keinem menschlichen Wesen ein Leid getan. Kein Grund, keine Vorsorge zu treffen. Jedes Hundert neu entdeckter Spinnen war eine ausführliche Medienberichterstattung wert; Schulkinder wurden mit Hilfe großer Demonstrationstafeln vor der Gefahr gewarnt. Trotz des Protestes der Spinnenkundler ging man mit dem massiven Einsatz von Insektiziden an die Vernichtung der Gefahr.

Die giftigen ausländischen Spinnen scheinen die Stimmung im Lande zum Ende des Jahres 1995 zu symbolisieren. Denn 1995 wurde Japan mit dem Erdbeben von Kobe von der größten Naturkatastrophe der Nachkriegszeit heimgesucht. Der Mythos, das Land sei auf derartige Katastrophen vorbereitet, brach ebenso zusammen wie der Mythos, Japan habe eine auch in Krisensituationen kompetente und effektive Verwaltung. Der Giftgasanschlag der Aum-Sekte auf die Tokyoter U-Bahn, ein Attentat auf den Polizeipräsidenten, eine Flugzeugentführung und zu guter Letzt ein schwerer Störfall im Schnellen Brüter von Monju kratzten den Mythos von Japans allumfassender Sicherheit an. Einen Handelskrieg mit den USA konnten die MITI-Beamten knapp abwehren - aber in der zweiten Jahreshälfte verdüsterten sich die japanisch-amerikanischen Beziehungen, nachdem Angehörige der in Okinawa stationierten US-Truppen ein Schulmädchen vergewaltigt hatten. Im 50. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs profilierten sich die japanischen Politiker durch eine ebenso endlose wie blamable Debatte um die Kriegsschuld ihres Landes. Kommunalwahlen mit einem Rekordtief an Beteiligung brachten in den beiden größten Städten Japans Kodianten in das Bürgermeisteramt, deren einziges Verdienst es war, daß sie keiner Partei angehörten und keinen Wahlkampf betrieben hatten. Nur um das Bild abzurunden: Die sehnsüchtig erwartete wirtschaftliche Wende kam auch 1995 nicht. Statt dessen zeigte der Zusammenbruch von nicht weniger als fünf Banken auf welch unsicheren finanziellen Fundamenten die japanische Konjunktur steht. Der Rücktritt des nach seinen eigenen Abschiedsworten "mitunter überforderten" Premierministers Murayama am 5. Januar 1996 war so nurmehr der vorläufige Schlußpunkt einer Etappe der Stagnation, ohne Garantie freilich, daß die alte Regierungskoalition unter dem neuen Steuermann Hashimoto nun mehr als jene aus konservativen Gemeinplätzen bestehende "Vision of Japan" realisieren wird, die der neue Premier unter diesem Titel 1993 als dürftiges "Programm" veröffentlicht hatte.


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Politische Stagnation



Die Regierung Murayama, eine Koalition der Liberaldemokratischen Partei (LDP), der Sozialdemokratischen Partei Japans (SDPJ) und der kleinen Partei Sakigake, hat - anders als viele Beobachter erwartet hatten - immerhin das Jahresende 1995 erreicht, bis Murayama sich im Januar 1996 zurückzog und die LDP mit Ryutaru Hashimoto seither auch formell wieder die Regierung anführt.

Murayama hat so lange durchgehalten, obwohl seine Sozialdemokraten in den Oberhauswahlen vom Juli eine empfindliche Niederlage einstecken mußten. Nur 16 von 41 sozialdemokratischen Kandidaten wurden wiedergewählt; die Zahl der Oberhausmandate der SDPJ sank von 63 auf 38. Normalerweise hätte der Parteivorsitzende die Verantwortung für die Niederlage übernehmen und zurücktreten müssen, doch in Erwartung eines Erdrutsches hatte Murayama bereits vor den Wahlen das Ziel seiner Partei so niedrig angesetzt, daß ihm der Rücktritt erspart blieb. Zudem wurde er gebraucht - vom größeren Koalitionspartner LDP, der nach wie vor in beiden Häusern auf die Stimmen der Sozialdemokraten angewiesen ist. Die LDP ist nach dem Trauma der Wahlniederlage von 1993 und des vorübergehenden Machtverlustes von inneren Auseinandersetzungen zerrissen, sie brauchte eine "externe" Galionsfigur. Wie die Sozialdemokraten sucht auch die LDP einen Bruch der Koalition und Neuwahlen des Unterhauses zu vermeiden: Die Wählerschaft insbesondere der Großstädte, deren wahlpolitisches Gewicht nach der Wahlrechtsreform von 1994 gewachsen ist, ist unkalkulierbar geworden. Und die größte Oppositionspartei Shinshinto (New Frontier Party) ist der LDP in den Oberhauswahlen bedrohlich nahegekommen.

Bild Tabelle 1

Die Regierung Murayama hatte sich als zuverlässiger Sachwalter der Stagnation erwiesen. Statt Politik betrieb sie business as usual. Gegen die wirtschaftliche Stagnation tat sie, was man traditionell von einer japanischen Regierung erwartet: Sie verabschiedete ein weiteres Konjunkturpaket (mittlerweile das fünfte seit Beginn der Rezession), diesmal mit einem Volumen von 14 Billionen Yen. Sie ließ den Zentralbankzinssatz auf den Rekordtiefstand von 0,5% senken, und sie betätigte sich beim Auskauf gefährdeter Banken mit Steuermitteln als Krisenmanager. Allerdings gilt mittlerweile als erwiesen, daß die traditionellen finanz- und geldpolitischen Steuerungsinstrumente ausgereizt sind, daß die Wirtschaft nun neuer Initiativen bedarf, die auf den Abbau exzessiver administrativer Regulierungen und der zu vertraulichen Zusammenarbeit zwischen regulierenden Behörden und regulierten Wirtschaftsbranchen zielen. Zu neuen Initiativen aber, die auch Konflikte hervorrufen könnten, war die Regierung kaum in der Lage. Dies erwies sich auch 1995, als sie in zwei Situationen, die mehr als business as usual erforderten, kläglich versagte: Nach den Erdbeben von Kobe und anläßlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes.

Während der Katastrophe von Kobe war die Regierung in den ersten entscheidenden Stunden und Tagen nicht präsent, und die lokalen und nationalen, zivilen und militärischen Behörden stritten sich um Kompetenzen, statt schnelle Hilfe zu leisten. Der Premierminister war über das Ausmaß der Katastrophe nicht informiert, als die privaten Fernsehsender längst ihre Hubschrauber über das Katastrophengebiet kreisen ließen. Und obwohl er über die gesetzlichen Mittel verfügt, um in der Ausnahmesituation die Behörden anzuleiten und zu koordinieren, griff er nicht ein. Der Versuch der Shinshinto, Murayama wegen Untätigkeit zum Rücktritt zu bewegen, wurde in der Öffentlichkeit als unfair kritisiert und scheiterte im Parlament - niemand in Japan erwartet vom Regierungschef, auch nicht in einer extremen Krisensituation, daß er sich über die Routine erhebt.

Zum Skandal geriet auch das Vorhaben, zum 50. Jahrestag des Kriegsendes die Kriegsschuld Japans in einer feierlichen Erklärung des Parlaments anzuerkennen. Die Erklärung geriet zur Farce. 50 Abgeordnete der LDP verließen zusammen mit den 171 Abgeordneten der Shinshinto das Parlament, als es zur Abstimmung kam - und dies, obwohl der Erklärungstext selbst vage war, keine Entschuldigung an die Nachbarländer enthielt, sondern die japanische Aggression mit "anderen Beispielen von Kolonialherrschaft und Aggression" relativierte. Zudem starteten die Nationalisten aus LDP und Shinshinto im Vorfeld der Erklärung eine Verhinderungskampagne, die das Geschichtsbild eines großen Teils der japanischen Politik und Gesellschaft in aller Deutlichkeit vorführte. Der Wortführer der Ablehnungsfront, der ehemalige LDP-Justiz- und Bildungsminister Eisuke Okuno, erklärte, Japan habe in Asien einen antikolonialen Befreiungskrieg gegen die Vorherrschaft der weißen Rasse geführt. Die USA und Großbritannien, nicht Japan, seien die Kriegsverbrecher und Aggressoren gewesen. Ein Schuldeingeständnis sei eine "Blasphemie" - eine Entehrung der im Yasukuni-Schrein eingesegneten und damit zu Göttern erhobenen japanischen Kriegstoten. Der ehemalige Außenminister Watanabe goß Öl ins Feuer, als er behauptete, die koloniale Unterwerfung Koreas sei auf friedliche Weise erfolgt (als koreanische Studenten das japanische Konsulat in Seoul in Brand setzten, zog er seine Bemerkung zurück). Murayama konnte das Schlimmste abwenden, indem er selbst eine persönlich gehaltene Kriegsschulderklärung abgab, wobei nicht klar ist, ob er als Privatmann oder als Vertreter der Regierung sprach. Die mögliche positive Wirkung seiner Erklärung im Ausland verpuffte jedoch in den folgenden Monaten, als mehrere ranghohe Politiker, u.a. der Direktor der Management and Coordination Agency (im Ministerrang), Takami Eto, die japanische Kolonisierung Koreas zu rechtfertigen suchten und damit einen Dauerstreit mit der koreanischen und schließlich auch chinesischen Regierung auslösten. Murayama verschlimmerte - wohl ohne es zu wollen - den Streit, indem er die rechtliche Gültigkeit der Annexion Koreas hervorhob - eine Äußerung, die er allerdings wieder zurücknahm.

Die Regierung Murayama war außen- wie wirtschaftspolitisch paralysiert, unfähig, mehr als die übliche Routine abzuleisten. Der Grund hierfür liegt in der Zusammensetzung der Koalition selbst, einer Verbindung ursprünglich ideologisch gegensätzlicher Kräfte, die in erster Linie dazu dient, den politischen Wandel zu blockieren. Dies ist durch den bloßen Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten nicht grundsätzlich anders geworden, auch wenn der neue Premier als "tough", aber eben auch als Verfechter des status quo gilt.

LDP und SDPJ waren die Hauptakteure des zwischen 1955 und 1993 bestehenden traditionellen Parteiensystems, die LDP als dauerhafte Regierungs- und die SDPJ als ebenso dauerhafte (und mit ihrer Rolle zufriedene) Oppositionspartei. Durch das Aufkommen einer neuen Kraft, die, obwohl von der LDP programmatisch, strukturell und interessenpolitisch kaum zu unterscheiden, den Regierungswechsel wirklich anstrebt, wurden die beiden Lieblingsgegner des alten Systems in dasselbe Boot gedrängt. Auf mehr als einige vage Grundprinzipien konnten sie sich nicht einigen - und selbst diese Grundprinzipien sind, wie die Auseinandersetzungen um die Kriegsschuldfrage zeigte, alles andere als tragfähig. Zum Amtsantritt von Murayama war der einzige zwischen Sozial- und Liberaldemokraten auszumachende gemeinsame programmatische Nenner eine "friedvolle und mäßige" Außenpolitik gewesen, einschließlich des Ausgleichs mit den Nachbarländern. In der LDP stand der Parteivorsitzende und Außenminister Yohei Kono für diese "nichtassertive" Außenpolitik. Kono ist Reformpolitiker, der 1975-86 der LDP-Abspaltung New Liberal Club vorgestanden hatte und als Exponent des liberalen Flügels der Partei gilt. In der Wahl des Parteivorsitzenden im Herbst konnte er sich nicht mehr durchsetzen. Schon im Vorfeld war klar, daß er gegen den MITI-Minister Ryotaru Hashimoto keine Chance haben würde. Er überließ das Feld seinem Rivalen, einem Politiker, der - nicht zuletzt als Präsident der Vereinigung der Kriegsopfer und Hinterbliebenen - den nationalistischen Flügel der LDP repräsentiert. Die ursprüngliche Geschäftsgrundlage der Regierung Murayama war damit erheblich geschrumpft - ohne daß die Sozialdemokraten, die sämtlichen programmatischen Ballast über Bord geworfen hatten, um die Koalition mit der LDP eingehen zu können, dies auch nur als Problem wahrgenommen hätten.

Für SDPJ und LDP geht es um das Überleben. Dramatisch ist die Lage vor allem der SDPJ, die in den letzten Unterhauswahlen von 1993 die Hälfte ihrer Mandate verloren hatte und nun dank ihrer fast prinzipiellen Prinzipienlosigkeit auch noch den harten Kern ihrer Stammwähler zu vertreiben droht (wie das Ergebnis der Oberhauswahlen andeutet). Da sie zumindest seit den 70er Jahren nie im Ernst mit der LDP um die Regierungsmacht konkurriert hatte, sind die Sozialdemokraten funktionslos geworden (auf ein sozialdemokratisches Programm, das die Probleme des Landes aufgriffe und Lösungsvorschläge anböte, haben sie ohnehin seit je verzichtet).

Unter den gegenwärtigen Bedingungen haben sie nur zwei Überlebenschancen: Entweder gewinnen weder LDP noch Shinshinto in den nächsten Unterhauswahlen eine absolute Mehrheit, so daß den Sozialdemokraten trotz des weiteren Schrumpfens ihrer Wählerschaft die Rolle des "Züngleins an der Waage" zufällt. Dies setzt jedoch voraus, daß sie von den Wählern nicht völlig an den Rand gedrängt werden und sich mit den anderen kleinen Parteien, in erster Linie der Sakigake, einigen können. Oder aber die SDPJ-Politiker gehen einen Deal mit der LDP ein; d.h. beide Parteien einigen sich in den nächsten Wahlen auf gemeinsame Kandidaten, was einer Reihe von sozialdemokratischen Abgeordneten mit starker lokaler Basis den Verbleib im Parlament sichern könnte. Ob es zu einem solchen Deal kommt, wird davon abhängen, als wie stark sich die LDP selbst einschätzt, ob sie meint, die verbliebenen sozialdemokratischen Wählerstimmen zu brauchen oder nicht. Bislang jedenfalls hat sie die Aufstellung gemeinsamer Kandidaten abgelehnt.

Seit Ende 1994 wird in der SDPJ über die Selbstauflösung und Neugründung der Partei debattiert. Ein politisch-programmatisches Konzept liegt dieser Debatte nicht zugrunde, vielmehr geht es ausschließlich um den Bestand der Partei im Rahmen der neuen politischen Konstellation, d.h. ihre taktische Position zwischen den beiden großen konservativen Parteien. Die Neugründung als "sozialdemokratisch-liberaler Kraft" ist nun mehrfach und groß angekündigt worden, sie wurde aber ebenso oft wieder verschoben. Sinn hätte eine Neugründung nur, wenn es gelänge, sich mit den anderen kleineren Parteien und Parlamentsgruppen zusammenzutun, um einen handlungsfähigen Block zwischen LDP und Shinshinto zu schaffen. Der wichtigste Adressat dieser Taktik, die Sakigake-Partei (deren Überleben ebenfalls bedroht ist) hat bislang aber zu erkennen gegeben, daß ihr an einem Zusammenschluß einer kosmetisch aufgefrischten gewendeten SDPJ wenig liegt. Die Sozialdemokraten zögern mit der Neugründung, wohl weil diese den möglichen Deal mit der LDP erschweren würde. Während die Gesamtpartei sich in dieser Frage nicht zu bewegen scheint, haben sich zwei kleinere Abgeordnetengruppen bereits abgespalten, auf der Rechten (sofern die Begriffe "rechts" und "links" in der japanischen Politik überhaupt noch irgendeinen Sinn haben) eine Gruppe um den ehemaligen Parteivorsitzenden Sadao Yamahana, auf der Linken eine Gruppe um den Abgeordneten Yabate.

Die Situation der LDP ist zumal mit ihrem neuen publikumswirksamen Parteichef und Premier weniger dramatisch als die der SDPJ: Sie ist nach wie vor die stärkste Partei Japans und wird aller Voraussicht nach auch in den nächsten Unterhauswahlen ein akzeptables Ergebnis erzielen. Ihre Existenz ist nicht unmittelbar gefährdet - sie wäre jedoch gefährdet, wenn sie für mehr als ein Jahr (d.h. für mehr als eine Haushaltsperiode) die Regierungsmacht verlöre. Die LDP ist keine konservative Programmpartei, sondern eine Partei, deren Zusammenhalt von der Verfügung über Regierungsmacht und Haushalt abhängt. Sollte sie für längere Zeit in die Opposition gedrängt werden, würde dasselbe geschehen, was sich in ihrer kurzen Oppositionszeit unter den Regierungen Hosokawa und Hata beobachten ließ: In jeder politischen Krise würden LDP-Abgeordnete ihre Partei verlassen, um zur Regierungspartei überzuwechseln. Die LDP steht vor der Alternative, entweder die Kooperation mit der SDPJ und Sakigake auf eine dauerhaftere Grundlage zu stellen (was einschließt, daß man in den nächsten Wahlen gemeinsame Kandidaten aufstellt), oder aber mit Hashimoto als zugkräftigem Spitzenkandidaten allein in die nächsten Wahlen zu ziehen.

Die Shinshinto hat in den Oberhauswahlen unerwartet gut abgeschnitten, die Partei ist die einzige Alternative zur Regierungskoalition (obwohl sie dasselbe politische Spektrum von sozialdemokratisch bis konservativ-nationalistisch abdeckt). Zwei Faktoren könnten sich als Belastung wie als Aktivposten der Partei auswirken: erstens das hohe Gewicht der Soka Gakkei-Sekte, die nach der Selbstauflösung der buddhistischen Komeito-Partei gleichsam in das Arsenal der Shinshinto überwechselte. Die Soka Gakkei ist ein Aktivposten, insofern sie ihre Mitglieder, eine begrenzte, aber stabile Wählergruppe, wirksam kontrolliert. Kandidaten der Soka Gakkei sind in der Regel sichere Kandidaten. Mit den Terroranschlägen der Aum-Sekte ist das Verhältnis von Religion und Politik in Japan allerdings in Zwielicht geraten. Immerhin hat auch die Soka Gakkei eine militant-antistaatliche Tradition. Zwar hat die Sekte mittlerweile ihren Frieden mit dem Staat gemacht, die Art und Weise jedoch, in der sie ganze Stadtviertel kontrolliert und Nichtmitglieder terrorisiert, ähnelt durchaus den Methoden der Aum-Sekte. Die LDP hat hieraus Nutzen gezogen und im Schatten der Auseinandersetzung um den Aum-Terror ein Gesetz zur Kontrolle religiöser Gemeinschaften durch das Parlament gebracht, das in erster Linie auf die Soka Gakkei und damit auf Shinshinto zielt (im Ergebnis bleibt die Kontrolle recht lax, zählen große buddhistische Sekten doch auch zu den Finanziers und Unterstützern der LDP). Doch auch unabhängig von Aum ist die Shinshinto für viele liberal-laizistisch eingestellte Japaner deshalb nicht wählbar, weil sie mit der Soka Gakkei liiert ist.

Der zweite Faktor ist der neue Vorsitzende der Partei, Ichiro Ozawa, ehemaliger Generalsekretär der LDP, der als die treibende Kraft der LDP-Spaltung 1993 und die graue Eminenz der Regierungen Hosokawa und Hata gilt. Mit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden ist Ozawa aus dem Halbdunkel hinter den Kulissen herausgetreten. Er löst den liberalen und populären Toshiki Kaifu ab und konnte sich in den innerparteilichen Wahlen gegen den ebenfalls liberalen Tsutomu Hata durchsetzen. Der ideologische Nebel, in dem die Shinshinto bislang agierte, hat sich mit der Wahl Ozawas ein Stück weit gelichtet. Ozawa gilt als Nationalist, der die Revision der Verfassung, d.h. des Artikels 9, der Japan das Unterhalten eigener Streitkräfte untersagt, befürwortet. Gleichzeitig ist Ozawa einer der wenigen japanischen Politiker, die nicht nur eine Reform von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anstreben, sondern auch offen sagen, wie diese Reform aussehen soll. Sein programmatischer Bestseller Blueprint for a New Japan (zu dessen Abfassung einige Ghostwriter des MITI beitrugen), ist im Detail eher vage und dürftig, es dokumentiert jedoch einen ernstzunehmenden Reformwillen hinsichtlich der Deregulierung der japanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Die Offenheit und Klarheit Ozawas kontrastiert frei-lich zu seiner Rolle als Nachfolger Kakuei Tanakas und Shin Kanemarus, der beiden berüchtigtsten Nachkriegspolitiker Japans, und zu seiner Verwicklung in die alten Korruptionsaffären der LDP. Die Person Ozawa polarisiert die Wählerschaft daher ähnlich wie die Soka Gakkei. Dies könnte sich als Hürde erweisen.

Über den Zeitpunkt der nächsten Unterhauswahlen, die ersten, die unter dem neuen Wahlrecht abgehalten werden, läßt sich nur spekulieren. Aller Voraussicht nach wird die Koalition zumindest bis zum Abschluß des Haushalts für das Fiskaljahr 1996, also bis April 1996, überstehen, nun unter der Führung von Ryutaru Hashimoto, dem Vorsitzenden der größten Regierungspartei. Murayamas Rückzug vom höchsten Regierungsamt Anfang Januar 1996 könnten die Liberaldemokraten mit einer engeren Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten auch bei den nächsten Unterhauswahlen, die irgendwann zwischen Herbst 1996 und Januar 1997 stattfinden würden, honorieren. Sollte die Koalition dagegen zerbrechen, ist mit Neuwahlen im Sommer 1996 zu rechnen. Das Ergebnis ist freilich, nicht zuletzt aufgrund des neuen Wahlrechts, unvorhersehbar. Die japanische Politik hat sich nach Jahrzehnten behäbiger Kalkulierbarkeit in eine Sphäre der Instabilität verwandelt - dies scheint aber für absehbare Zeit auch das einzige Resultat des Aufbruchs von 1993 und der politischen Reform zu sein.


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Die Wirtschaft: Der Tanker ist gestrandet



Die japanische Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen, sie bewegt sich nur nicht mehr. Die schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte, die den Epochennamen des Tenno Heisei trägt, setzte 1991 ein und gilt seit Oktober 1993 als beendet. Doch der Aufschwung läßt auf sich warten, die Wirtschaft stagniert, auch wenn sich zum Jahresende immer wieder positive Wachstumsraten zwischen 0 und 1% ausmachen lassen. Das Ergebnis 1995 schätzt die OECD auf 0,3%, nach 0,1%, 0,8% und 0,2% in den ersten drei Quartalen des Jahres. Investition und privater Verbrauch weisen ein erratisches Wachstumsmuster auf, das klare Prognosen für 1996 erschwert (die OECD prognostiziert 1,8%). Der dem Ministerpräsidenten zugeordnete Economic Council, ein Beratungsgremium, das sich aus Wissenschaftlern und Unternehmern zusammensetzt, hat für die verbleibenden Jahre des Jahrzehnts durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von 3% prognostiziert - unter der Voraussetzung freilich, daß die Wirtschaft systematisch dereguliert wird. Insbesondere in den Bereichen Güter- und Personentransport, Energieversorgung, Handel, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, Landwirtschaft, Industriestandards, Importzertifikate, öffentliche Arbeiten und Wohnungsbau sei die Deregulierung unverzichtbar, sonst - so das Gremium - werden die Wachstumsraten 1,75% im jährlichen Durchschnitt nicht übersteigen. Es ist aber unter den gegebenen politischen Bedingungen vollkommen ausgeschlossen, daß ein derart umfassendes Deregulierungsprogramm aufgelegt wird: Die Regierung würde die vorprogrammierten Konflikte mit den betroffenen Brancheninteressen weder riskieren noch überstehen. Die ohne Deregulierung verbleibende Restgröße von 1,75% Wachstum könnte aber, so Kritiker des Economic Council, noch zu optimistisch sein.

Die Bewegungsunfähigkeit der japanischen Wirtschaft geht auf verschiedene Ursachen zurück. Zu nennen ist erstens die Überbewertung des Yen. Der Wert des Yen stieg von 121 Yen pro US-$ Ende 1993 auf 79,9 Yen im Sommer 1995, um dann dank der koordinierten Intervention der japanischen, amerikanischen und deutschen Zentralbank auf 100 Yen pro US-$ zurückzufallen. Die relative Stabilisierung des Yen in der zweiten Jahreshälfte darf freilich nicht vergessen lassen, daß die japanische Währung weiterhin überbewertet ist und daß nach wie vor eine erhebliche Differenz zwischen dem internationalen Wert und der inländischen Kaufkraft des Yen besteht. Ein zweiter Krisenfaktor ist das Finanzsystem (s.u.), das von den Folgen der Bubble Economy belastet ist. Drittens geht die Stagnation erstmals mit einer wahrnehmbaren Beschäftigungskrise einher, deren wahre Dimension mit der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosenquote von 3,4% keineswegs erfaßt wird. Das Arbeitsministerium bestritt vor wenigen Wochen, daß es die Arbeitslosigkeit inoffiziell auf über 8% schätze. Allerdings ist es angesichts der Erhebungsmethoden (die Arbeitslosigkeit wird per Umfrage ermittelt, wobei als beschäftigt gilt, wer mindestens eine Stunde pro Woche arbeitet und nicht aktiv nach einer Beschäftigung sucht) kaum möglich, einen seriösen Vergleich der japanischen Arbeitslosigkeit mit der der westlichen Industrieländer anzustellen.

Bild Tabelle 2

Die derzeitige Krise ist ein Wendepunkt der japanischen Wirtschaftsentwicklung, vergleichbar mit der ersten Ölkrise 1973-74, in deren Folge die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten von 11% (in den Jahren 1955 bis 1972) auf 4,8% (1975-1991), eine im Industrieländervergleich immer noch beachtliche Größe, absanken. Für die absehbare Zukunft gelten 2% Wirtschaftswachstum im Jahresdurchschnitt als optimistische Schätzung. Die derzeitige kritische Lage markiert den Übergang Japans in das Stadium einer "reifen" Industriegesellschaft mit niedrigen Wachstumsraten, Beschäftigungsproblemen, einer alternden Bevölkerung und steigenden Sozialkosten. Der Übergang ist so schwierig, weil nun Institutionen zur Disposition stehen, die das schnelle Wachstum der vergangenen Dekaden mit ermöglicht haben, aber ihrerseits nur im Umfeld hoher Wachstumsraten bestehen können: Die lebenslange Beschäftigung und die Lohnzahlung nach dem Senioritätsprinzip in der Großindustrie, die keiretsu-Unternehmensgruppen, die administrative Lenkung der Wirtschaft und die Protektion der traditionellen Wirtschaftsbranchen vor in- und ausländischer Konkurrenz. Gleichzeitig und hiermit im Zusammenhang wird die japanische Industrie gezwungen, aus Kostengründen Beschaffung, Produktion, Absatz, Forschung und Entwicklung zunehmend ins Ausland zu verlagern (die Importe aus den asiatischen Entwicklungsländern nahmen im dritten Quartal 1995 um über 27% zu - trotz der Stagnation des Binnenmarktes). Unter den gegenwärtigen Bedingungen können es sich die japanischen Unternehmen nicht mehr leisten, auf Effizienzreserven zu verzichten, die im Abbau von Regulierungen und traditionellen Managementpraktiken sowie in der Auslagerung von Wirtschaftsaktivitäten liegen. Diese "Restrukturierung", die noch lange nicht abgeschlossen ist, wird die international operierenden Unternehmen Japans stärken, nicht aber den "Standort Japan".


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Die Krise im Finanzsystem




Bankzusammenbrüche 1995

Das japanische Finanzsystem ist 1995 um fünf Institute ärmer geworden. Der Reigen der Pleiten wurde im Februar von zwei kleineren Tokyoter Kreditgenossenschaften eröffnet, Tokyo Kyowa und Tokyo Anzen. Kreditgenossenschaften sind traditionell konservative Institutionen; sie sammeln Einlagen in ihrem regionalen Umfeld und verleihen an lokale kleine und mittlere Unternehmen. In den Jahren den Bubble Economy jedoch, den Jahren des billigen Geldes und der zu astronomischen Höhen anschwellenden Aktien- und Immobilienpreise, begaben sich die Kreditgenossenschaften wie viele andere Geldinstitute, Unternehmen und Haushalte auf das Feld der Börsen- und Immobilienspekulation - und sahen sich nach dem Platzen der Seifenblase einem wachsenden Volumen notleidender Kredite gegenüber. So hatten Tokyo Kyowa und Tokyo Anzen bis Anfang 1995 zusammen 150 Mrd. Yen an notleidenden Krediten akkumuliert. Das für Genossenschaften bestehende Verbot, Kredite in der Höhe von mehr als 20% des Eigenkapitals an einen einzelnen Schuldner zu vergeben, hatten sie souverän umgangen - und zu den größten Kreditnehmern der beiden Genossenschaften gehörten deren Vorstandsvorsitzende Harunori Takahashi (Tokyo Kyowa) und Shinsuke Suzuki (Tokyo Anzen).

Insbesondere die Vorgeschichte Takahashis wirft ein Schlaglicht auf die japanische Bankenkrise: Takahashi war nicht nur Präsident der Tokyo Kyowa, sondern auch Besitzer des Immobilien- und Golfplatz-Entwicklungsunternehmens EIE International, einer Firma die durch den Erwerb des Hyatt Regency Hotels auf Saipan 1985 erstmals Aufsehen erregt und es in den Jahren der Bubble zu einem Vermögen von einer Billion Yen gebracht hatte, in erster Linie durch den Erwerb von Immobilien im asiatisch-pazifischen Raum. Nach dem Platzen der Bubble geriet EIE in schweres Fahrwasser, bis schließlich ihr größter Finanzier, die Long Term Credit Bank of Japan, die finanzielle Unterstützung aufkündigte. Seitdem finanzierte sich EIE vornehmlich aus Mitteln der Tokyo Kyowa. Sie erhielt Kredite im Umfang von 38 Mrd. Yen, mehr als das Zehnfache des Eigenkapitals der Genossenschaft. Etwa 90% dieser Kredite gelten als uneinbringlich.

Ein weiterer Kreditnehmer der Genossenschaften war der Unternehmer Katsuto Nemoto. Nemoto genoß das Privileg, für die von ihm aufgenommenen Kredite keine Sicherheiten bieten zu müssen. Der Grund: Er ist Neffe des Unterhausabgeordneten und ehemaligen Arbeitsministers Toshio Yamaguchi. Yamaguchi hatte sein politisches Gewicht eingesetzt, um für Nemoto und andere Familienangehörige bei den Genossenschaften illegal Kredite zu arrangieren, die der Deckung privater Schulden dienten. Man kann vermuten, welche Gegenleistung von Yamaguchi erwartet wurde: Sein Einsatz für einen stillschweigenden Auskauf der Genossenschaften mit öffentlichen Mitteln. Neben Yamaguchi gehörte auch der ehemalige Verteidigungsminister Nakanishi zu den Günstlingen Takahashis und der Tokyo Kyowa: Für eine Fundraising Party Nakanishis erwarb Takahashi Eintrittskarten im Wert von 60 Millionen Yen. Und nicht zuletzt wurden hohe Beamte des Finanzministeriums bedacht. Im März wurde der Chef des Tokyo Customs House, Hiroaki Taya, vom Dienst suspendiert, weil er sich von Takahashi zu einem Flug nach Hongkong in dessen Privatjet hatte einladen lassen - eine Amigo-Affäre á la japonaise. Ein weiterer Beamter wurde vom Finanzminister verwarnt, die gesamte Spitze des Ministeriums bis hin zum beamteten Staatssekretär wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht ermahnt.

Beide Genossenschaften hatten die Ausweitung ihrer Kreditvergabe zu decken versucht, indem sie mit attraktiven Zinsen neue Einlagen an sich zogen. So hatte auch die Long Term Credit Bank 1991 24 Mrd. Yen eingezahlt und diese Einlage nicht zurückgezogen, als sie 1993 ihre Geschäftsverbindung mit EIE abbrach. Diese und andere Einlagen galt es nun im Frühjahr 1995 zu retten, wobei das federführende Finanzministerium in üblicher Weise sowohl die größeren Privatbanken als auch die Steuerzahler an den Kosten zu beteiligen suchte. Eine neue, halböffentliche Bank wurde gegründet, die Tokyo Kyoudou Bank, die die Geschäfte der beiden Genossenschaften übernahm. Grundlage ihrer Operation waren neben den wenigen bei den Genossenschaften verblieben Einlagen Kapitalzuschüsse der Zentralbank und der Privatbanken sowie Mittel der Einlagenversicherung. Die Tokyo Kyoudou Bank soll 150 Mrd. Yen an notleidenden Krediten zu einem Discountpreis an ein weiteres, neu gegründetes Institut verkaufen, das sich seinerseits aus Mitteln der Nationalen Föderation der Kreditgenossenschaften, der Long Term Credit Bank und der Stadt Tokyo (die formell die Aufsicht über die beiden Kreditgenossenschaften gehabt hatte) finanziert.

Hierbei kam es jedoch zu einer Krise des Krisenmanagements: Die Rettung der Genossenschaften, deren Management sich ganz offensichtlich außerhalb der Legalität bewegt hatte, fand im Vorfeld der Kommunalwahlen in Tokyo statt. Alle Kandidaten für das Bürgermeisteramt erklärten nun, sie würden für die Rettung der Genossenschaftseinlagen keine Mittel der Stadt freigeben. Gewählt wurde der Kandidat, der dieses Versprechen am ehesten einhalten konnte: Der parteilose Oberhausabgeordnete und ehemalige Komödienschreiber Yukio Aoshima. Als Aoshima auch nach seiner Wahl zunächst bei seinem Versprechen blieb, drohten auch die privaten Banken damit, ihre Unterstützungszusagen wieder zurückzuziehen. Das Sanierungsprogramm drohte zu scheitern.

Das nächste Opfer der Finanzkrise war im Juli die Cosmo Credit Corp., die fünftgrößte Kreditgenossenschaft Japans. Das Volumen notleidender Kredite bei Cosmo wurde auf 360 Mrd. Yen geschätzt, 73% des Portefeuilles der Bank. Auch Cosmo hatte mit Immobilien spekuliert und seine Kreditvergabe zur Zeit der Bubble in nur zwei Jahren vervierfacht. Im Unterschied zur Krise der Tokyo Kyowa und Tokyo Anzen wurde der Zusammenbruch von Cosmo von einem Paukenschlag begleitet: Es gab erstmals seit 1962 eine Bankenpanik, einen run, lange Schlangen von Kunden, die ihre Einlagen zurückforderten.

Normalerweise gehen Banken und Finanzministerium in Japan mit Bankkrisen diskret um, dieses Mal jedoch hatte die größte Tageszeitung des Landes, Yomiuri Shinbun, ausführlich über die kritische Lage bei Cosmo berichtet und dazu beigetragen, daß die Krise zur spektakulären Panik wurde. Es wird vermutet, daß das Finanzministerium die Zeitung bewußt mit Material versorgt hatte, um einen run auszulösen. Bürgermeister Aoshima sollte unter Druck gesetzt werden, seinen Widerstand gegen die Beteiligung der Stadt Tokyo am Auskauf gescheiterter Finanzinstitute einzustellen. Ein neues Paket wurde geschnürt, um die Einlagen der Cosmo (soweit sie unter 100 Millionen Yen lagen) zu retten. Ausführendes Organ war wieder die Tokyo Kyoudou Bank, die die Geschäfte der Cosmo übernahm. Und dieses Mal kündigte Aoshima an, neben der Zentralbank und der Einlagenversicherung der Kreditgenossenschaften werde sich auch die Stadt Tokyo am Auskauf der Cosmo beteiligen (im September brach er sein Wahlversprechen endgültig und gab Mittel der Stadt auch zur Rettung der Einlagen von Tokyo Kyowa und Tokyo Anzen frei). Die größten Gläubigerbanken, darunter vier große City-Banken, sollten ursprünglich ihre Kredite an Cosmo zu 100% abschreiben; nach einer Auseinandersetzung einigten sie sich mit dem Finanzministerium auf die Abschreibung von 60% der Kredite; die Finanzierungslücke soll durch zinsgünstige Kredite der City-Banken an Tokyo Kyoudou gedeckt werden.

Ende August gingen zwei weitere Finanzinstitute in Osaka de facto bankrott: Die Kizu Credit Union, die größte Kreditgenossenschaft des Landes, deren Einlagen ein höheres Volumen aufwiesen als das der drei gescheiterten Tokyoter Institute zusammen; und die Hyogo Bank, die größte Regionalbank Japans. Die Kizu Credit Union hatte es Ende 1994 auf 600 Mrd. und bis August 1995 auf 960 Mrd. Yen an notleidenden Krediten gebracht, die Hyogo Bank auf 1,5 Billionen, von denen 790 Mrd. als uneinbringlich gelten. Auch im Fall der Kizu Credit Union und der Hyogo Bank wurde ein Rettungsprogramm aufgelegt, daß die größeren Privatbanken und die Zentralbank am Auskauf der gescheiterten Institute beteiligte.

Jusen: Vor dem Hintergrund der Krise der Kizu Credit Union und der Hyogo Bank erklärte Finanzminister Takemura, der Höhepunkt der Bankenkrise sei nun erreicht - und machte eine Ausnahme: Die acht Hypothekenbanken des Landes (Jusen), von denen sieben von Großbanken und eine von den Agrarkooperativen gegründet worden waren. Die Probleme der Hypothekenbanken sind dieselben wie die der fünf bankrott gegangenen Institute. Ihr ursprünglicher Auftrag war die Wohnungsbaufinanzierung, in der Bubble widmeten sie sich jedoch ebenfalls der Spekulation mit Immobilien. Zum Teil ermöglichten sie es, daß die Gründerbanken die ihnen auferlegten gesetzlichen Beschränkungen bei der Immobilienspekuklation umgehen und sich indirekt am Immobiliengeschäft beteiligen konnten. Offiziell werden die notleidenden Kredite der Hypothekenbanken auf 6,4 Billionen Yen geschätzt, private Beobachter gehen eher von 7 bis 8 Billionen aus.

Das Rettungspaket für die Hypothekenbanken ist Teil des im Dezember verabschiedeten Haushalts für das Fiskaljahr 1996. Für die Abwicklung soll eine Jusen Disposal Organization (JDO) gebildet werden, die die Geschäfte der Hypothekenbanken übernimmt. Die sieben Mutterhäuser sollen ihre gesamten Kredite an die jusen in der Höhe von 3,5 Billionen Yen abschreiben und die JDO mit zinsgünstigen neuen Krediten versorgen. Andere Banken müssen 1,7 Billionen Yen abschreiben und der JDO ebenfalls mit zinsgünstigen Krediten unter die Arme greifen. Die Agrarkooperativen kommen besser weg: Sie sollen die 5,5 Billionen Yen, die sie an die Hypothekenbanken verliehen hatten, ohne Abzug zurückerhalten, dafür sollen sie der Disposal Organization 350 Mrd. Yen als Schenkung zukommen lassen. Die Regierung, d.h. der Steuerzahler, soll für weitere 680 Mrd. Yen geradestehen. Mit diesen Mitteln soll die Einlagenversicherung (deposit insurance company) die verbleibenden Verluste decken. Ob die Summe ausreichen wird, ist umstritten.

Der Fall der Hypothekenbanken ist in dreierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen zeigt er, daß sich auch wirtschaftlich konservative Kräfte wie die Agrarkooperativen in den Jahren der Bubble massiv an der Spekulation beteiligt haben. Aufgrund ihrer engen Beziehungen zur LDP sind die Agrarkooperativen freilich stark genug, um - auf Kosten der Steuerzahler - allzu hohe Verluste abzuwenden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Leiter der Kooperativen für Verluste persönlich haftbar sind, d.h. sie müßten, würden die Kooperativen voll an den Verlusten der Hypothekenbanken beteiligt werden, ihr privates Vermögen zur Disposition stellen.

Zweitens könnten zumindest einige der gescheiterten Hypothekenbanken ihre Mutterhäuser mit in die Krise ziehen. Die größten Summen werden drei long term credit banks abschreiben müssen, die Industrial Bank of Japan (955 Mrd.), die Long Term Credit Bank of Japan (881 Mrd.) und die Nippon Credit Bank (409 Mrd.). Während die Industrial Bank of Japan diesen Verlust wahrscheinlich auffangen kann, ist dies bei den beiden letztgenannten Banken nicht so sicher.

Drittens wirft der Fall der Hypothekenbanken ein Licht auch auf das Finanzministerium als zuständiger regulierender Behörde. Nicht nur trägt das Finanzministerium (und die Zentralbank) einen Teil der Verantwortung für die Bubble und die dank einer lax gehandhabten Bankenaufsicht möglichen Exzesse; auch hat das Finanzministerium die Banken geradezu zur Gründung der jusen gedrängt, u.U. um ein weiteres Reservoir an Posten für die "zweite Karriere" der Beamten (die mit 55 Jahren in den von ihnen vorher regulierten Bereich des privaten Sektors überwechseln) zu schaffen.

Der Auskauf der Hypothekenbanken wird die Japaner pro Kopf 5.500 Yen (ca. 80 DM) kosten - eine Summe, die akzeptabel scheint, wenn es um die Sicherung eines öffentlichen Gutes wie eines gesunden Finanzsystems geht. Doch ist der Öffentlichkeit im Zuge der Finanzskandale des Jahres 1995 deutlich geworden, wie hart die Akkumulation notleidender Kredite an oder jenseits der Grenze der Legalität verlaufen und wie lax die Kontrolle der Finanzinstitute durch die Behörden gewesen war. In Vorwegnahme öffentlicher Kritik trat der beamtete Staatssekretär des Finanzministeriums, der als der mächtigste Beamte des Landes gilt, zum Jahreswechsel von seinem Amt zurück, und in seiner Neujahrsansprache warb Premier Murayama entschuldigend um Verständnis für die Verwendung öffentlicher Gelder. Das Problem liegt aber darin, daß sich gar nicht absehen läßt, ob mit der Sanierung der Hypothekenbanken der Höhepunkt der Bankenkrise wirklich überwunden ist. Die Belastungen werden im Grunde nur verschoben - von den kleineren Finanzinstituten zu den Großbanken und von dieser zur Zentralbank (die ihre Rettungskredite ohne Sicherheiten vergibt) und den Staatshaushalt.

Daiwa: Im Sommer 1995 brach die britische Barings Bank unter dem Druck von einer Milliarde US-$ an Verlusten zusammen, die der Trader Nicholas Leeson in Singapur in kurzer Zeit akkumuliert hatte. Im September wurde die japanische Daiwa Bank zum Opfer der Spekulation eines einzigen Händlers. Der New Yorker Vertreter von Daiwa, Toshihide Iguchi, hatte 1,1 Mrd. US-$ an Verlusten akkumuliert, die im "einfachen" Handel mit US-Schatzbriefen angefallen waren, nicht, wie im Falle der Barings Bank, im Handel mit komplizierteren Derivaten. Um einen ursprünglichen Verlust von 200.000 US$ auszugleichen, handelte Iguchi u.a. mit Wertpapieren, die die Bank als Treuhänder verwaltete - und verstieß damit gegen die in den USA vorgeschriebene strikte Trennung von Treuhandsverwaltung und Handel. Daiwa wurden von der amerikanischen Aufsichtsbehörde für drei Jahre alle Aktivitäten auf dem US-Markt untersagt.

Der Verlust von Daiwa ist kein spezielles Problem des japanischen Bankensystems. Wie der Fall Barings zeigt, können auch andere Banken aufgrund der Diversifikation der Finanzprodukte, der Volatilität des globalen Kapitalmarkts und der schwierigen Kontrollierbarkeit der Trader in ähnliche Probleme geraten. Gleichwohl können einige Aspekte des Daiwa-Skandals als kennzeichnend für das japanische Bankensystem angesehen werden: Zum einen brauchte der New Yorker Daiwa-Vertreter elf Jahre, um einen Verlust von 1,1 Mrd. US-$ zusammenzubekommen. Die internen Kontrollen der Bank dürften also nicht allzu streng gewesen sein. Iguchi galt als fleißig, er machte dauernd Überstunden, und dies schien für die Zentrale in Tokyo ein ausreichender Beweis seiner Vertrauenswürdigkeit gewesen zu sein.

Zweitens beeilte sich das Management von Daiwa nicht, die Öffentlichkeit über den Verlust aufzuklären. Am 24. Juli war der (mittlerweile zurückgetretene) Präsident von Daiwa über die Entwicklungen in der New Yorker Filiale in Kenntnis gesetzt worden, zwei Tage später ließ die Bank neue Anteile im Umfang von 50 Mrd. Yen ausgeben - ohne daß die Käufer über die neue Situation der Bank informiert worden wären. Erst am 12. September informierte Daiwa offiziell Finanzministerium und Zentralbank, die am 18. September die amerikanischen Behörden in Kenntnis setzten.

Drittens schließlich war das Finanzministerium informell schon sehr früh (am 8. August) über den Fall Daiwa informiert, ohne sein Wissen an das japanische Publikum und die amerikanischen Behörden weiterzugeben. Im Schatten der Krise von Cosmo zogen es die Regulierer vor, Daiwa eine mehrwöchige Frist zu gewähren, anstatt die ohnehin kritische Situation durch eine zweite Schreckensnachricht zu komplizieren. Es ist aber gerade diese Intransparenz, der Mangel sowohl an internen Kontrollen als auch an einer seriösen Aufsicht durch die zuständige Behörde, die die japanische Bankenkrise zu verschlimmern droht.

Nachwirkungen der Bubble

Ursache der japanischen Finanzkrise ist eine expansive Geldpolitik in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, die nicht zu einem Anstieg der Konsumentenpreise, sondern zu einem astronomischen Anstieg der Preise für assets - Aktien und Immobilien - führte. Aktien- und Immobilienpreise stiegen weit über das Maß hinaus, das durch die zu erwartenden Einnahmen (Dividenden und Mieten) gerechtfertigt war. Die starke Nachfrage nach Vermögenswerten basierte weniger auf der Antizipation künftiger Einnahmen als auf der Erwartung nahezu unbegrenzter Wertsteigerungen. Zu dieser Zeit hatten die Banken und anderen Finanzinstitute ihre wichtigsten Kreditnehmer verloren: Die industriellen Großunternehmen waren auf die Kredite der Banken nicht mehr angewiesen und finanzierten ihre Investitionen ohne die Vermittlung der Banken eigenständig auf dem Kapitalmarkt. Die Banken mußten sich nach anderen Kunden umsehen, und die schnell steigende Nachfrage nach Krediten, die aufgenommen wurden, um Vermögenswerte zu erwerben, bot einen auf den ersten Blick attraktiven Ersatz für die Industrieunternehmen. Auch die Banken erlagen dem Mythos, daß der Wert von Immobilien nur steigen kann, und sie vergaben bereitwillig Kredite an jeden, der Grund und Boden als Sicherheit anzubieten hatte. Angesichts der niedrigen Zinssätze war es ein für die Kreditnehmer scheinbar glänzendes Geschäft, mittels der Kredite Aktien oder Grundstücke zu erwerben bzw. Grundstücke zu entwickeln, d.h. kleinere Grundstücke zu größeren Einheiten zusammenzufassen und Wohn- in Büroraum umzuwandeln.

Das Platzen der Bubble infolge einer wieder restriktiven Geldpolitik führte zu einem drastischen Einbruch an der Börse und mit Zeitverzögerung auf dem Immobilienmarkt. Für viele Kreditnehmer - in erster Linie Immobiliengesellschaften und mit dem Immobilienmarkt verbundene Finanzinstitute, aber auch andere Unternehmen, Haushalte usw. - reichten die aus den erworbenen Vermögen erwirtschafteten Einkommen nicht aus, um die aufgenommenen Kredite zu finanzieren. Den Angaben des Finanzministeriums zufolge haben die Banken 40 Billionen Yen (10% des Sozialprodukts) an nicht mehr bedienten Krediten akkumuliert. Der Anteil nicht bedienter Kredite macht bei den elf Geschäftsbanken (City Banks) 4,7% der Außenstände aus; bei den drei Long Term Credit Banks sind es 8,2%, bei den sieben Trust Banks 9,7%. Diese Anteile sehen auf den ersten Blick nicht bedrohlich aus. Diese Schätzungen gaben aber nicht unbedingt das wirkliche Ausmaß der Kreditkrise wieder, da die Erhebungsmethoden Raum für Manipulationen lassen. Zweitens sind kleinere Geldinstitute der Krise naturgemäß stärker ausgesetzt als die Großbanken, und es ist nicht ausgeschlossen, daß der Zusammenbruch kleinerer Institute einen Domino-Effekt auslöst, der auch größere Banken (wie etwa die Long Term Credit Bank of Japan) in Mitleidenschaft zieht.

Der normale Weg der Bankensanierung, wie er bei den Savings & Loan Companies in den USA beschritten worden war - die Savings & Loan Companies waren in eine der japanischen Finanzkrise ähnlichen Krise geraten, wobei das Volumen notleidender Kredite allerdings nur die Hälfte dessen der japanischen Banken ausmachte -, wäre der Verkauf (die Auktionierung) der als Sicherheit eingebrachten Immobilien, um auf diese Weise zumindest einen Teil der Außenstände zurückzugewinnen. Dieser Weg ist in Japan kaum zu gehen: Die Immobilienpreise sind drastisch gesunken, aber die Intransparenz des Immobilienmarktes läßt nicht zu, diesen Rückgang quantitativ exakt zu fassen. Die diesbezüglichen Angaben der National Land Agency beziehen sich nur auf die Preisentwicklung bei den wenigen tatsächlich gehandelten Immobilien.

Würde das Angebot an Grund und Boden infolge einer Auktionierung der als Sicherheit eingebrachten Grundstücke drastisch erweitert werden, könnten die Immobilienpreise ins (für japanische Verhältnisse) Bodenlose sinken. Schon heute wird geschätzt, daß der leerstehende Büroraum in den drei Zentralbezirken von Tokyo ausreichen würde, um die gesamte Bürokapazität Hongkongs unterzubringen. Die Kreditkrise würde sich unter diesen Bedingungen noch verschärfen. Die Banken selbst müssen befürchten, daß der offene Handel der Immobilien ihre Sicherheiten weiter entwertet, und werden daher eher Zugeständnisse bei der Kreditbedienung machen als massiven Notverkäufen zuzustimmen. Zusätzlich erschwert wird der Verkauf der Sicherheiten dadurch, daß viele Immobilien mehrfach mit Hypotheken belegt sind, und im Falle eines Verkaufs nur der erste Forderer an seine Sicherheiten kommen würde, während nachfolgende Ansprüche unbefriedigt blieben.

Es kommt hinzu, daß der Verkauf von Immobilien häufig von den japanischen Gangstersyndikaten der Yakusa verhindert wird. In den Jahren der Bubble waren die Aussichten auf schnelle Gewinne in der Aktien- und Immobilinspekulation so attraktiv, daß die organisierte Kriminalität ihre traditionellen Aktivitäten um legale Finanz- und Immobiliendienstleistungen erweiterte. Der Nikkei-Wirtschaftszeitung zufolge sind Yakusa an mehr als der Hälfte der Schulden im Zusammenhang mit der Immobilienspekulation direkt oder indirekt beteiligt. So wie die Yakusa auf dem Höhepunkt des Booms verkaufsunwillige Besitzer von Kleingrundstücken terrorisierten, um sie zum Verkauf an eine Entwickungsgesellschaft zu bewegen, so verhindern sie heute durch Einschüchterung, daß Immobilien an neue Besitzer verkauft werden. Zum Teil bedrohen sie die Bankmanager direkt - die noch nicht aufgeklärte Ermordung des Filialchef der Sumitomo Bank in Nagoya 1994 wird in den Zusammenhang mit den Yakusa gebracht; insgesamt wurden Manager der Sumitomo Bank seit Ende 1993 22 Mal zu Opfern von Anschlägen -, zum Teil "besetzen" sie die zum Verkauf stehenden Gebäude und verhindern durch ihre Präsenz die Inbesitznahme durch einen neuen Eigentümer. Zum Teil verkaufen offensichtlich auch die Gläubiger, die bei einem Verkauf einer Immobilie leer ausgehen würden, ihre Anrechte an die Yakusa, in der Hoffnung, vom ersten Forderer wieder ausgekauft zu werden.

Der Auskauf gescheiterter Finanzinstitute mit Steuergeldern bedeutet unter den gegebenen Bedingungen, daß die Steuerzahler gezwungen werden, letztlich auch kriminelle oder semilegale Aktivitäten mitzufinanzieren. Dabei würde die Verwendung öffentlicher Mittel zur Sanierung der Banken im Grunde voraussetzen, daß die assets der Schuldner so weit wie möglich zur Begleichung der Schulden herangezogen werden. Die Bewältigung der Savings and Loan-Krise in den USA wird auch in dieser Hinsicht ein für die japanischen Krisenmanager unerreichbares Vorbild abgeben. Im Zuge der Sanierung wurden 1775 Bankmanager vor Gericht gestellt, 1013 wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Ähnlich konsequent werden die japanischen Krisenmanager aller Voraussicht nach nicht vorgehen.


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Okinawa



Die japanisch-amerikanischen Beziehungen wurden im Frühjahr durch einen Handelskonflikt um Automobil- und Automobilteilimporte belastet. Der Konflikt wurde durch ein Abkommen gelöst, der beide Seiten ihr Gesicht wahren ließ. Im Herbst legte sich ein neuer Schatten auf die "wichtigste bilaterale Beziehung der Welt": Angehörige der in Okinawa stationierten amerikanischen Truppen entführten und vergewaltigten ein zwölfjähriges Schuldmädchen. Die Reaktion der Bevölkerung Okinawas war massiv: 85.000 Menschen demonstrierten gegen die Präsenz der amerikanischen Streikräfte, es war die größte Massendemonstration in Japan seit vielen Jahren. Der Gouverneur der Inselgruppe, Masahide Ota, weigerte sich, die Verlängerung der Pachtverträge für die US-Basen zu unterzeichnen. Otas Fall wird vor Gericht entschieden werden müssen; wahrscheinlich wird Premier Hashimoto die entsprechenden Verträge selbst unterschreiben.

Der Auseinandersetzung um die amerikanische Truppenpräsenz auf Okinawa liegt weniger ein japanisch-amerikanischer als ein innerjapanischer Konflikt mit tiefreichenden historischen Wurzeln zugrunde. Neben den Ainu in Hokkaido, der koreanischen Bevölkerung und der Paria-Kaste der Burakunin ist Okinawa eines der Minderheitenproblems Japans - dessen Politiker so gern die "ethnische Homogenität" des japanischen Volkes als eines der Erfolgsgeheimnisse ihres Landes rühmen.

Die Rykkyu-Inseln, zu denen Okinawa zählt, gehören historisch nicht zu Japan. Bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts bildeten die Inseln ein unabhängiges Königreich, das in der Art eines fernöstlichen Venedig vom Handel zwischen Japan, China und Südostasien lebte. 1609 verleibte sich die japanische Provinz Satsuma unter Duldung der Shogunatsregierung die Inselgruppe ein. Satsuma, dessen Bevölkerung zu dieser Zeit zu 40% aus Samurai bestand, galt als die rückständigste wie kampfeslustigste Region Japans; die Herrschaft des Satsuma-Clans, insbesondere seine desaströse Steuerpolitik, bedeutete für die vorher prosperierenden Inseln die wirtschaftliche Katastrophe, ihr Einkommen ging innerhalb weniger Jahre um 60% zurück. Allerdings wurden die Rykkyus nicht formell annektiert: In einer Zeit, in der Japan begann, sich für 200 Jahre von der Außenwelt abzuschließen, konnten die Inseln und ihre Handelsbeziehungen vom Satsuma-Clan genutzt werden, um den Austausch mit den asiatischen Ländern nicht vollkommen abbrechen zu lassen. Die formelle Annexion erfolgte erst 1871, nachdem Japan von den westlichen Mächten zur Öffnung seiner Märkte gezwungen worden war. Japan kam damit China zuvor, das ebenfalls Ansprüche auf die Inseln erhob. Seitdem gilt Okinawa als seit prähistorischen Zeiten japanisch - was nicht verhinderte, daß die Bevölkerung der Inseln als rassisch minderwertig verachtet wurde. "Für Koreaner, Okinawer und Hunde verboten" - dieses Schild zierte noch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts viele Lokalitäten im japanischen Mutterland.

An der Wirtschaftsentwicklung Japans nach der Meiji-Restauration hatte Okinawa nicht teil. Die Inseln blieben weiterhin eher Kolonie, als daß sie Teil des japanischen Mutterlandes wurden. Aber die größte Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkriegs in Ostasien (und die letzte Schlacht vor dem Beginn des Atomzeitalters) wurde auf Okinawa geschlagen, um die Kräfte des Gegners zu binden und vom Mutterland fernzuhalten. Während die japanische Elite auf den Inseln vor dem Anrücken der amerikanischen Truppen nach Japan evakuiert wurde, hob die kaiserliche Armee in der Bevölkerung Wehrpflichtige für den Kampf gegen die Amerikaner aus, unter ihnen Masahide Ota, den heutigen Gouverneur. Die 32. japanische Armee wurde zur Befestigung und Verteidigung der Inseln auf Okinawa stationiert. Ihre Strategie und Taktik, die Insel bis zum letzten Mann und Quadratmeter gegen die amerikanische Übermacht zu verteidigen, bedeutete für die Zivilbevölkerung die Katastrophe - insbesondere in der letzten Phase der 84 Tage währenden Schlacht, in der ein Großteil der Bevölkerung zwangsevakuiert wurde und sich dem Rückzug der Armee auf die südlichen Teile der Insel anschließen mußte. In dieser Rückzugsbewegung waren Militär und Zivilbevölkerung für die Amerikaner nicht mehr zu unterscheiden, beide fielen dem Flächenbombardement (insgesamt fielen 1,7 Millionen Tonnen Munition und Bomben auf das relativ kleine Territorium) zum Opfer. Es gab zudem Massaker der japanischen Armee an der Zivilbevölkerung Okinawas, die des Defätismus verdächtigt oder einfach nur als Konkurrent um knappe Nahrungsmittel betrachtet wurde. Auf Okinawa fielen auf beiden Seiten etwa 115.000 Soldaten, die 32. japanische Armee wurde zu 90% aufgerieben. Die Zahl der zivilen Opfer wird auf 150.000 geschätzt, ein Drittel der Bevölkerung. Es ist bezeichnend, daß auch in der Nachkriegszeit keine genauen Erhebungen der zivilen Verluste auf Okinawa vorgenommen wurde, während über die Opfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki auch heute noch genau Buch geführt wird. Die materiellen Kulturgüter der Inseln wurden vollkommen zerstört.

Die Bevölkerungsgruppe, die am wenigsten in den Krieg des kaiserlichen Japan involviert war, wurde am härtesten vom Krieg getroffen - und mußte die schwersten Lasten der Nachkriegszeit tragen. Ganz offensichtlich konnten die japanischen Behörden ihre amerikanischen Verhandlungspartner nach 1972, als Okinawa wieder in japanische Souveränität überging, davon überzeugen, daß die von ihnen in Japan zu stationierenden Truppen in Okinawa weitaus mehr Freiräume haben würden, als auf den Hauptinseln Japans. Okinawa, das ein Prozent des japanischen Territoriums umfaßt, beherbergt heute 70% der in Japan stationierten amerikanischen Streitkräfte. 20% des Territoriums sind von US-Basen okkupiert, Stützpunkte der japanischen Selbstverteidigungskräfte kommen hinzu. Die Bevölkerung Okinawas, nach wie vor die ärmste Provinz Japans, trägt einen übergroßen Teil der Kosten des amerikanisch-japanischen Sicherheitspakts: Bodenknappheit, Fluglärm, ökologische und landwirtschaftliche Schäden, die Existenz einer Armee-Enklave, die sporadischen Gewaltausbrüche von Mitgliedern einer ghettoisierten Besatzungstruppe - wie zuletzt die Vergewaltigung des Schulmädchens, die die aufgestaute Unzufriedenheit der Bevölkerung zum Explodieren brachte.

Das Problem Okinawas ist nicht das des amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrags oder das der amerikanischen Militärpräsenz in Japan. Hierzu gibt es unter den gegebenen Bedingungen keine Alternative. Wie die Auseinandersetzungen um die Kriegsschulderklärung Japans zeigten, wäre Japan außenpolitisch nicht in der Lage, mit "vertrauensbildenden Maßnahmen" die Initiative für ein multilaterales asiatisches Sicherheitssystem ohne US-Präsenz zu ergreifen (die ja nicht nur Schutz für, sondern auch Schutz vor Japan bieten soll). Sofern das Problem Okinawas in der japanischen Öffentlichkeit als eines der amerikanischen Militärpräsenz dargestellt wird, lenkt dies vom wirklichen Konflikt ab: Der extremen Konzentration dieser Militärpräsenz in einer historisch zutiefst vorbelasteten Region. Die Lösung wäre vornehmlich eine Aufgabe der japanischen Politik - doch es ist wenig wahrscheinlich, daß eine japanische Regierung einen Konflikt mit der lokalen Bevölkerung auf einer der Hauptinseln riskiert, um die Bevölkerung Okinawas, die ohnehin nicht so ganz dazugehört, zu entlasten.


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