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TEILDOKUMENT:
Perspektive Das Abschmelzen der traditionellen Stammbelegschaften, die Erosion der lebenslangen Beschäftigungsverhältnisse und die wachsende überbetriebliche Mobilität der Arbeitnehmer wird die japanischen Gewerkschaften voraussichtlich dazu veranlassen, die traditionelle Betriebszentrierung abzubauen, ohne daß jedoch die Betriebsgewerkschaften einem völlig neuen Modell weichen werden. Ein gewisses Vorbild in diesem Zusammenhang könnte Zensen sein, eine Organisation, die neben den Textilarbeitern auch Lederarbeiter, Arbeiter der chemischen Industrie und Beschäftigte des Einzelhandels repräsentiert. Zensen organisiert vor allem kleine Betriebe mit schwachen Betriebsgewerkschaften, so daß das Gewicht des Dachverbandes vergleichsweise hoch ist. Entsprechend ist auch das Spektrum seiner Aktivitäten breiter als das anderer Industriegewerkschaften. Die relative Bedeutung der Industriegewerkschaften, Councils und Dachverbände wird aller Voraussicht nach zunehmen. Es kommt hinzu, daß Rengo zwar zur Zeit parteipolitisch paralysiert ist, dem Verband aber gleichwohl eine im weiteren Sinne wichtige politische Bedeutung zukommt: Die sozialpolitische Sachkompetenz der japanischen (nicht nur) sozialdemokratischen Parteien ist gering, so daß die Gewerkschaften neben der Bürokratie die einzigen zumindest potentiell kompetenten sozialpolitischen Akteure sind. Da sich Sozialpolitik meist auf Fragen konzentriert, die nur überbetrieblich angegangen werden können (Einführung einer Pflegeversicherung 1997, Rentenreform), wird der Einfluß des Dachverbandes und in Zukunft u.U. auch einiger Councils und Industriegewerkschaften stärker zunehmen als der der Betriebsgewerkschaften. Die japanischen Gewerkschaften durchlaufen eine Orientierungskrise: Das Bezugssystem, in dem sie in der Vergangenheit begrenzte, aber sichere Erfolge erzielen konnten (hohe Beschäftigungsstabilität, Mitwirkung und Mitverantwortung auf betrieblicher Ebene, politischer Einfluß, starke administrative Regulierung der Wirtschaft, de facto-Vollbeschäftigung in einem Umfeld hoher Wachstumsraten) zerbröckelt. Die einzige programmatische Alternative hierzu, die derzeit vorgetragen wird, ist ein an den USA orientiertes neoliberales Programm: die Deregulierung, Liberalisierung und Öffnung der Wirtschaft, die Restrukturierung der Unternehmen einschließlich einer Stärkung der Kapitalseite und die schleichende Auflösung stabiler Beschäftigungsverhältnisse zugunsten eines "freien" Arbeitsmarktes. Hinzukommt die mögliche künftige Bedeutungslosigkeit der Sozialdemokratie als politischem Hebel der Gewerkschaften. In diesem Dilemma, entweder Strukturen verteidigen zu müssen, die sich nicht mehr verteidigen lassen (und die nicht alle Japaner gleichermaßen am Wohlstand des Landes beteiligten), oder einer Deregulierungspolitik zu folgen, die - wenn sie im Ernst betrieben würde - Massenarbeitslosigkeit bedeutete, blicken die Gewerkschaften mit besonderem Interesse nach Europa, wo die verschiedenen Ausprägungen des Sozialstaats zwar ebenfalls einer Krise unterliegen, aber zumindest noch nicht unter dem Druck der Deregulierung zusammengebrochen sind. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 9.1. 1998 |