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[STABSABTEILUNG DER FES]
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Gewerkschaften in Japan - Einführung

Die japanischen Gewerkschaften durchlaufen eine Orientierungskrise: Das Bezugssystem, in dem sie bislang begrenzte, aber sichere Erfolge erzielen konnten (hohe Beschäftigungsstabilität, Mitwirkung auf betrieblicher Ebene, politischer Einfluß, starke administrative Regulierung der Wirtschaft, de facto-Vollbeschäftigung dank hoher Wachstumsraten) zerbröckelt.

Die Organisationsform der japanischen Arbeitnehmer (Betriebsgewerkschaft) basiert nicht auf einem überbetrieblich definierten "Klasseninteresses" aller abhängig Beschäftigten, sondern auf dem Konzept des "Betriebs als Gemeinschaft", das nicht kulturgegeben ist, sondern durchgesetzt wurde.

Die Gewerkschaften repräsentieren eine bessergestellte Minorität der Arbeitnehmer, während die große Mehrheit in den Peripheriebelegschaften der Großunternehmen und den kleinen und mittleren Unternehmen weder gewerkschaftlichen Schutz, noch die Privilegien des japanischen Beschäftigungssystems genießt.

Verringerung der traditionellen Stammbelegschaften, Erosion der lebenslangen Beschäftigungsverhältnisse und wachsende überbetriebliche Mobilität der Arbeitnehmer werden die traditionelle Betriebszentrierung der Gewerkschaften reduzieren, ohne daß die Betriebsgewerkschaften völlig verschwinden werden.

Japan ist kein sozialpolitisches Entwicklungsland, das Wohlfahrtsniveau auch der privilegierten Minorität der Arbeitnehmer liegt jedoch, insbesondere was die Arbeitszeiten angeht, unter dem der meisten europäischen Länder.

Japanische Gewerkschaften haben ihr Zentrum im Betrieb. Allein bei Toyota gibt es 241 Betriebsgewerkschaften, die in der All Toyota Workers' Federation zusammengefaßt sind. Die Federation wiederum ist Mitglied der Automobilarbeitergewerkschaft Jidosha Soren, die ihrerseits sowohl dem zentralen Koordinierungsgremium der Metallarbeiter IMF-JC als auch dem Dachverband RENGO angehört. Industriegewerkschaften, "Councils" (wie der IMF-JC) und Dachverbände beziehen einen relativ geringen Teil (wenige Prozent) der vergleichsweise hohen Mitgliedsbeiträge, die die Betriebsgewerkschaften bei der Lohnzahlung einbehalten. Tarifverhandlungen werden in den Betrieben zwischen Betriebsgewerkschaft und Management geführt. Den übergeordneten Industriegewerkschaften, Councils und Dachverbänden kommt lediglich eine koordinierende Funktion zu. Erleichtert wird die Koordination allerdings durch die zeitliche Synchronisierung der Lohnverhandlungen im Frühjahr (Shunto-Offensive).

Das japanische Modell der Betriebsgewerkschaften, das sich nicht einem kulturell gegebenen Bedürfnis der Japaner nach Harmonie verdankt, sondern in den 50er und 60er Jahren z.T. in harten Auseinandersetzungen von den Unternehmen durchgesetzt wurde, war trotz seiner Entstehungsbedingungen auch für einen Teil der Arbeitnehmer ein Erfolg. In den Betrieben hatten und haben die Gewerkschaften starken Einfluß. Der Preis, den sie zu zahlen hatten, war allerdings hoch: Ihr Einfluß reduziert sich weitgehend auf die Stammbelegschaften der Großunternehmen, deren Anteil an den abhängig Be-schäftigten auf 18 bis 25% geschätzt wird. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad von 23,4% (Ende 1995 - mit rückläufiger Tendenz) entspricht ziemlich genau dem Anteil der Stammbelegschaften.

Die Gewerkschaften repräsentieren eine bessergestellte Minorität der Arbeitnehmer, während deren große Mehrheit, die sich aus den Peripheriebelegschaften der Großunternehmen und den in kleinen und mittleren Unternehmen Beschäftigten zusammensetzt, weder gewerkschaftlichen Schutz, noch die Privilegien des japanischen Beschäftigungssystems genießt. Die Konzentration der gewerkschaftlichen Interessenvertretung auf die Stammbelegschaften der Großunternehmen hat dazu beigetragen, daß der japanische Arbeitsmarkt hinsichtlich Einkommen, sozialer Sicherung und anderer Sozialleistungen hoch stratifiziert bzw. gespalten ist (s. Tabelle).

Darüber hinaus ist zu fragen, inwieweit die Betriebsgewerkschaften auch ihrer begrenzten Klientel die Wohlfahrtsgewinne verschafft haben, die der Leistungsfähigkeit der japanischen Wirtschaft entsprechen. Bei den Arbeitszeiten führen die japanischen Arbeitnehmer die Liste der entwickelten Länder an. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit liegt derzeit bei über 1.900 Stunden, eine Zahl, die nur mit der Rezession, unausgelasteten Kapazitäten und dem Abbau (bezahlter!) Überstunden zu erklären ist. In der Hochkonjunktur lagen die durchschnittlichen Jahresarbeitszeiten zwischen 2.100 und 2.200 Stunden. Tatsächlich nahmen auch Arbeitnehmer der Großunternehmen 1990 nur 9 freie Arbeitstage (s. Tabelle). Was die Nettolöhne in der verarbeitenden Industrie angeht, liegen die japanischen Arbeitnehmer weltweit auf dem ersten Platz, wenn man die Wechselkurse als Vergleichsmaßstab heranzieht; aufgrund der massiven Überbewertung des Yen ist die relative inländische Kaufkraft freilich weitaus geringer. Die Kaufkraft der japanischen Löhne liegt hinter denen der USA, Frankreichs, Italiens und Deutschlands und vor denen Großbritanniens. Die Leistungen der Sozialversicherungen (Renten- und Krankenversicherung) sind zwar nicht in dem Maße unterenwickelt, wie manche ausländische Beobachter nahelegen, sie liegen freilich unter dem Niveau Kontinental- und Nordeuropas, werden jedoch die der USA und Großbritanniens in den nächsten Jahren übertreffen. Die Altersgrenze der Rentenversicherung ist mit 60 Jahren niedriger als in den westlichen Industrieländern; medizinische Betreuung ist für über 70jährige (von einem symbolischen Beitrag abgesehen) gratis. Der betriebliche Anteil an den Sozialleistungen - und damit die Abhängigkeit des Leistungsniveaus von der Leistungsfähigkeit des jeweiligen Unternehmens - ist höher als in Europa, aber nicht so hoch wie in den USA. Die Arbeitsplatzsicherheit in der Großindustrie ist höher als in allen anderen Industrieländern. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung außerhalb der Großindustrie sind dagegen kaum zu messen, da die japanischen Erhebungsmethoden einen internationalen Vergleich nicht zulassen. Die Einkommensverteilung ist egalitärer als in den westlichen Industrieländern, zumindest was den Einkommensabstand zwischen Produktionsarbeitern, Verwaltung und Management innerhalb der Unternehmen angeht. - Zusammengefaßt: Japan ist kein sozialpolitisches Entwicklungsland, das Wohlfahrtsniveau auch der privilegierten Minorität der Arbeitnehmer liegt jedoch, insbesondere was die Arbeitszeiten angeht, unter dem der meisten europäischen Länder.

Der - teuer erkaufte und begrenzte - Erfolg der japanischen Gewerkschaften in den Großbetrieben war freilich an die für ungewöhnlich lange Zeit geltenden Sonderbedingungen der Nachkriegsprosperität und hohen durchschnittlichen Wachstumsraten geknüpft. Die Betriebsgewerkschaften waren erfolgreich, solange die Betriebe erfolgreich waren. Diese Bedingungen sind seit Beginn der 90er Jahre nicht mehr gegeben, ebensowenig wie die politischen Bedingungen, unter denen die Gewerkschaften begrenzten, aber sicheren Einfluß ausüben konnten. Die japanischen Betriebsgewerkschaften machen derzeit eine dreifache Krise durch: Erstens beginnt sich der Kern des japanischen Modells der Betriebsorganisation (vor allem die lebenslange Beschäftigung und die Lohnzahlung nach dem Senioritätsprinzip) aufzulösen. Zweitens hat sich das politische Umfeld so verändert, daß die traditionellen Ansätze gewerkschaftlicher Einflußnahme auf die Politik nicht mehr greifen. Und drittens macht Japan eine wirtschaftliche Krise durch, in der nicht nur der Verteilungsspielraum enger geworden ist, sondern auch erstmals seit den 50er Jahren gewerkschaftliche Aktivitäten von drohender Arbeitslosigkeit überschattet werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 9.1. 1998

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