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Die Standortdebatte vom Kopf auf die Füße stellen / von Albrecht Müller. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 16 S. = 59 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




[Essentials:]
* Die Debatte um den Standort Deutschland klammert wichtige Aspekte aus.
* Industrie- und Forschungspolitik: Systematik und Öffentlichkeit statt Beliebigkeit und Orientierung an der Industrielobby!
* Bildungsoffensive: Priorität für Schlüsselqualifikationen!
* Die Staatsquote vor allem durch Subventionsabbau verringern!
* Externe Kosten in die Unternehmenskalkulation „hineinzwingen"!
* Soziale Sicherheit und innere Sicherheit sind wichtige Standortfaktoren
* Leistungskriterien bei der Rekrutierung und Sanktionierung von Wirtschaftsmanagern in den Vordergrund stellen!
* Qualität des Standortfaktors „Staat" besser beachten!
* Den Ruf des Standorts Deutschland pflegen!
* Lebensqualität und Standortattraktivität bedingen sich gegenseitig.

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Zusammenfassung

Die heute in Deutschland vorherrschende Diskussion zum Standort Deutschland wird wesentlich von der Wirtschaft, ihren Verbänden und von Vertretern der Bundesregierung geprägt. Die von ihnen identifizierten Probleme des Standortes – zu hohe Sozialleistungen, eine zu hohe Staatsquote, zu hohe Umweltschutz-, Energie- und Lohnkosten sowie mangelnder Flexibilisierung, Überregulierung und Technik-feindlichkeit – prägen die Therapievorschläge. Das entscheidende Manko dieser Standortdebatte ist, daß wichtige Standortfaktoren nicht oder allenfalls oberflächlich angesprochen werden:

Der erste zentrale Ansatzpunkt ist eine innovative Industrie- und Forschungspolitik. Die Entscheidung über die Milliarden des Staates für Forschungs- und Industrieförderung müssen befreit werden von Tabus, von modischen Trends und vorherrschenden Einflüssen starker Lobbys. Wichtig ist die systematische Suche nach den Linien der Technik, die Zukunft haben und förderungswürdig sind, bei denen die hiesige Industrie eine Chance hat, in die Spitze vorzustoßen oder auch nur schnell umsetzender Zweiter zu sein. Ein periodisch tagendes Forum unabhängiger Köpfe für die systematische Erforschung zukunftsfähiger Techniken und Industrien könnte dabei helfen. Notwendig ist auch eine kontinuierliche öffentliche Debatte; Innovation muß ein mit Fakten befrachtetes öffentliches Thema werden.

Ein zweiter zentraler Ansatzpunkt: die Qualifikation und Motivation von Menschen. Dazu wird eine neue, schulinterne Bildungsoffensive zur Vermittlung von Schlüsselqualifikationen empfohlen. Notwendig sind darüber hinaus die Vergabe von Leitungsfunktionen auf Zeit, Reformen des Hochschulwesens etc.

Wichtig ist, vermeidbare „Klötze am Bein" der Volkswirtschaft zu vermeiden. Auch in den nächsten Jahren werden große Beträge für Einheit und Umzug fällig werden. Die Gesamtbelastung ist an der Grenze des Erträglichen. Um so wichtiger ist es, bei den öffentlichen Ausgaben rational zu wägen. Die Standortdebatte würde an Substanz gewinnen, wenn verinnerlicht würde, daß Subventionen für einen Bereich zugleich Belastungen für alle anderen Bereiche darstellen und so tendenziell die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen einschränken.

Wichtig ist der sparsame Umgang mit Ressourcen – mit Hilfe eines funktionierenden volkswirtschaftlichen Rechensystems. Die Internalisierung externer Kosten, mit Hilfe einer Ökosteuer z. B., ist eine ökonomische (!) Notwendigkeit.

Wichtig sind die soziale Sicherheit und der soziale Frieden – per saldo positive und unterschätzte Standortfaktoren. Soziale Sicherheit ist eine wichtige Basis für die Leistungsfähigkeit und Motivation von Menschen. Die psychischen und gesellschaftlichen Folgekosten des Abbaus sozialer Sicherheit nicht zu sehen, ist leichtfertig.

Wichtig ist der Standortfaktor „Gutes Management". Auch er gehört auf den Prüfstand. Es muß gewährleistet werden, daß die Rekrutierung von Führungspersönlichkeiten leistungsorientiert stattfindet und eine Kontrolle ihrer Leistung möglich ist.

Wichtig ist der Standortfaktor Staat. Die gängige Debatte um Deregulierung und Privatisierung verstellt den Blick für die große Bedeutung, die eine effiziente staatliche Verwaltung und eine funktionierende Zivilgerichtsbarkeit, sowie die Qualität staatlicher Entscheidungsprozesse, die Fähigkeit zu Reformen und gerade auch optimale Regulierungen für die Qualität eines Standorts haben.

Wachsende Bedeutung als Standortfaktor gewinnt „Innere Sicherheit". Strategien zur Minderung von Gewalt werden immer wichtiger für die Attraktivität eines Wirtschaftsstandorts.

Wichtig ist der Ruf des Standorts Deutschland. Er hängt sowohl von Fakten als auch vom Image ab. Wichtig ist deshalb, seine Stärken nach außen zu präsentieren, statt ihn weiter zu zerreden.

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1. Charakteristika der derzeitigen Debatte

Die vorherrschende öffentliche Diskussion zum Standort Deutschland wird wesentlich von der Wirtschaft, ihren Verbänden und von Vertretern der Bundesregierung geprägt. Als Schwächen des Standorts Deutschland werden – in Stichworten zusammengefaßt – diagnostiziert:

– Die Arbeitskosten, die Löhne und vor allem die Lohnnebenkosten lägen in Deutschland an der Spitze aller Industrieländer.

– Die Sozialleistungen seien zu hoch und auf Dauer nicht mehr finanzierbar.

– Die Staatsquote sei mit über 50 Prozent ein sicheres Zeichen für eine Überforderung unserer Volkswirtschaft; wir zahlten im internationalen Vergleich die höchsten Steuern.

– Unsere Wirtschaft sei mit sehr hohen Umweltschutz- und Energiekosten belastet.

– Unsere Volkswirtschaft leide unter Überregulierung. Die Genehmigungsverfahren dauerten viel zu lange.

– Reste von Technikfeindlichkeit prägten die Stimmung im Lande.

– Der Arbeitsmarkt und die Löhne seien inflexibel, es gäbe keine ausreichende Lohndifferenzierung; die Maschinenlaufzeiten seien zu kurz und die Arbeitszeiten nicht ausreichend flexibel.

– Angesichts der Globalisierung des Handels und der Arbeitsmärkte seien die skizzierten Erscheinungen bedrohlich für die Wettbewerbsfähigkeit. Deutschland sei als Investitionsstandort ohnehin – wie die hohen Direktinvestitionen im Ausland und die niedrigen Direktinvestitionen von Ausländern im Inland zeigten – nicht mehr ausreichend attraktiv.

Die Diagnose prägt die Therapieempfehlung: Die Steuern, Sozialleistungen und Lohnnebenkosten müßten abgebaut werden; bei Löhnen und Gehältern wird Zurückhaltung und Flexibilisierung empfohlen; der Staat solle deregulieren und privatisieren; die Energiekosten müßten, am besten durch Fortführung und Ausweitung der Kernenergie, gesenkt und die Umweltauflagen reduziert werden.

Diese Diagnosen und Vorschläge sind zum Teil ja diskussionswürdig. Problematisch ist aber, daß bei der Debatte um den Standort Deutschland viele wichtige Faktoren vernachlässigt oder einseitig und interessengeprägt dargestellt werden. Bevor man über die oben angeregten Maßnahmen nachdenkt, muß deshalb die Diskussion sachlicher, differenzierter und umfassender geführt werden.

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2. Fehler der derzeitigen Standortdebatte

(1) Es wird schwärzer gemalt, als sachlich berechtigt. Die Öffentlichkeit wird mit den hohen Arbeitskosten, mit Spitzenlohn- und Lohnnebenkosten beeindruckt. Mit zur Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit gehört aber auch die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität, und die hat sich in (West-)Deutschland ständig verbessert: heute liegt sie weltweit in der Spitzengruppe. Wie unsinnig die Argumentation mit den Arbeitskosten alleine ist, zeigt der Vergleich zwischen neuen Bundesländern und alten Bundesländern. Das Institut der deutschen Wirtschaft weist im iwd vom 15. Juni 95 die westdeutschen Arbeitskosten mit 43,97 DM und die Arbeitskosten in den neuen Ländern mit 26,53 DM je Stunde aus. Wenn die Arbeitskosten allein aussagekräftig wären für die Wettbewerbsfähigkeit, dann müßten die neuen Bundesländer das blühende Land sein, von dem vor 5 Jahren die Rede war und Portugal mit seinen Arbeitskosten von 9,17 DM sowieso.

(2) Auch die Behauptung, es würde hierzulande zuwenig investiert, ist – das zeigt der Vergleich zu anderen Ländern – nicht richtig, wie es auch das DIW in seinem Wochenbericht 38/95 feststellte. Deutschland liegt im guten Mittelfeld, bei Ausrüstungsinvestitionen vor den USA und Großbritannien, bei Investitionen in Forschung und Entwicklung mit an der Spitze.

(3) Auch ist die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes technologisch durchaus konkurrenzfähig. Lediglich in Japan haben die Branchen mit hoher Technologieintensität einen größeren Anteil am Inlandsprodukt.

(4) Im Gegensatz zum „Sozialmißbrauch" werden die bekannt gewordenen gravierenden und vermeidbaren Fehler des Managements in Deutschland in die Standortdebatte selten einbezogen.

(5) Wenn die vergleichsweise hohen Umwelt- und Energiekosten wirklich so relevant wären, dann müßte es der Wirtschaft in Frankreich und Großbritannien deutlich besser gehen als unserer. Der Anteil der Umweltkosten am Bruttosozialprodukt liegt in Deutschland bei 1,7 Prozent, in Frankreich bei 1,1 und in Großbritannien bei 1,4.

(6) Der Debatte mangelt es an Konsequenz: Einerseits werden hohe Staatsausgaben beklagt und ihre Absenkung gefordert, andererseits werden Subventionen eingefordert oder doch zumindest ihre Vergabe in allen Wirtschaftsbereichen toleriert – angefangen mit der Kernenergie über den Kanalbau und den Transrapid bis hin zur Luft- und Raumfahrtindustrie.

(7) Die Debatte ist von Vorurteilen und modischen Trends geprägt: Deregulierung und Privatisierung werden als Allheilmittel betrachtet, weil sie in vergleichbaren Kreisen anderer Länder wie Großbritannien oder den USA en vogue sind. Es wird nicht sachlich geprüft, welchen Erfolg und welche Mißerfolge diese Wirtschaftspolitik dort hatte. Daß vielerorts Regulierungsbedarf besteht, wird mißachtet.

(8) Die gängige Standortdebatte unterstellt einen Zwang zur Anpassung aller Lebensbereiche an die Gesetze der Ökonomie und zur Gleichschaltung der Lebensweisen und Lebensgewohnheiten: vom freien Wochenende über die Ladenschlußzeit bis hin zum Sozialstaatsstandard. Dieser Zwang zur Gleichschaltung ist trotz möglicherweise fortschreitender Globalisierung bei weitem nicht gegeben: weder staatspolitisch noch gesellschaftspolitisch noch ökonomisch ist es geboten, die gesamten gesellschaftlichen Regeln und Errungenschaften zur Disposition zu stellen.

(9) Bei der Identifizierung von „Zukunftstechnologien" wird weniger eine sachliche Prüfung sowohl des tatsächlichen Nutzens als auch der langfristigen Kosten durchgeführt (wie zum Beispiel bei der Kernenergie), als daß Kritiker bestimmter neuer Technologien pauschal als Technikfeinde verunglimpft werden.

(10) In der Diskussion wird unterstellt, daß soziale Netze zum Mißbrauch reizen, daß Menschen nur wegen des Geldes etwas leisten und daß soziale Unsicherheit ein Produktivitätsfaktor sei. Es ist fraglich, ob die entsprechenden Meinungsführer bereit wären, diese Aussage über die Arbeitnehmerschaft auch für sich gelten zu lassen.

(11) Die Standortdebatte ist auch deshalb überzogen, weil sie die Globalisierung der Märkte als eine Neuheit darstellt. Es ist nicht zu bestreiten, daß sich die Globalisierung beschleunigt hat. Aber bei der Betrachtung dieser Entwicklung sollte man zweierlei nicht beiseite lassen:

– Zum einen gibt es nicht erst seit heute eine in Teilen globalisierte Wirtschaft. Mehrere Industriezweige in der Bundesrepublik sind bereits in den 70er Jahren Opfer dieser Globalisierung geworden. Die Produktion von Schuhen, Lederwaren, Textilien und Bekleidung, Unterhaltungselektronik, fotografischer Ausrüstung, Zündhölzern, einfachen Elektrogeräten u. v. m. ist schon seit Jahren in Deutschland nur noch in Bruchteilen des ursprünglichen Produktionsumfangs möglich.

– Zum anderen wird häufig ein falscher Eindruck vermittelt, indem auf die Konkurrenz der Billiglohnländer hingewiesen wird: Es wird unterschlagen, daß eine anpassungsfähige Volkswirtschaft durchaus – wenn auch mit schwierigen Umbrüchen – imstande ist, nicht mehr konkurrenzfähige Produktionslinien durch andere zu ersetzen. Ein derartiger struktureller Wandel charakterisiert auch unsere Außenhandelsbeziehungen mit Südostasien und Osteuropa: in den letzten 10 Jahren stiegen sowohl die Exporte von dort hierher als auch umgekehrt von hier dorthin. Eher arbeitsintensive Produkte werden verstärkt importiert, eher technologieintensive werden verstärkt exportiert. Dementsprechend stellte eine DIHT-Umfrage bei den deutschen Außenhandelskammern zur Wettbewerbsfähigkeit auf den Auslandsmärkten 1995 fest, daß die deutschen Anbieter durch eine starke Nachfrage nach Investitionsgütern begünstigt worden seien und daß diese gewachsene Nachfrage 1995 u. a. daher rühre, daß die traditionellen Industrieländer an kosteneinsparenden technischen Neuerungen interessiert seien und die aufstrebenden Industrieländer, insbesondere in Asien, sich im Zuge ihres Aufholprozesses in puncto Qualität vor allem um Hochpräzisionsmaschinen aus Deutschland bemühten. In der DIHT-Studie wird denn auch darauf hingewiesen, daß bei diesen Investitionsgütern der Preis weniger ausschlaggebend sei als Qualität und Image deutscher Produktangebote.

So erfreulich der Blick auf diesen strukturellen Wandel im System ist, es bleibt das Problem, daß die schlecht Ausgebildeten und weniger Leistungsfähigen bei uns verstärkt zum Opfer dieser Globalisierungstendenz und des damit verbundenen strukturellen Wandels werden, beträchtliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen oder arbeitslos werden.

(12) Die Standortdebatte wird allein mit Verweis auf nationale Defizite geführt, das Defizit an internationalen Regelungen dagegen übergangen.

(13) Das gravierendste Manko der gängigen Standortdebatte ist aber, daß wichtige Standortfaktoren nicht oder allenfalls oberflächlich angesprochen werden: so der Bereich der Qualifikation und Motivation, insbesondere der Bildung; die Infrastruktur; die Qualität der politischen Entscheidungsprozesse und die Reformfähigkeit des Staatssektors; die Frage, wie Wettbewerb erhalten werden kann und schädliche Machtstrukturen vermieden werden können; wie eine moderne Industrie- und Forschungspolitik aussehen kann, bei der die knappen Mittel des Staates tatsächlich dort investiert werden, wo mit hoher Plausibilität Erfolge zu erzielen sind und, nicht zuletzt, das Image des Standortes Deutschland.

Schließlich ist anzumerken, daß die Standortdebatte im Verteilungskampf benutzt wird, um die Tendenz zur Reduzierung des Anteils der Arbeitnehmer am Volkseinkommen zu verstärken und steuerliche Vorteile für Unternehmen herauszuholen. Die Entwicklung der Lohnquote – seit Anfang der 80er Jahre fast ungebrochene Tendenz nach unten – spricht ebenso für den „Erfolg" dieser Strategie wie die beabsichtigte Streichung der Gewerbekapitalsteuer.

Bezeichnenderweise ist die Sprache in der Standortdebatte von Werturteilen geprägt, die der Interessenlage der Arbeitgeberseite entsprechen: „Beispiel Arbeitskosten: Selbst gegenüber Ländern wie den USA oder Großbritannien hat Deutschland einen Nachteil von einem Drittel", heißt es in einem Bericht eines renommierten Wirtschaftsblattes vom Juni dieses Jahres. Hohe Arbeitskosten und damit auch hohe Löhne und Sozialleistungen werden in der Standortdebatte ganz selbstverständlich als „Nachteil" gewertet.

Aus der Verengung der jetzigen Standortdebatte folgt eine ganze Reihe von Fehlschlüssen und Fehltherapien. Deshalb sollen hier am Beispiel einiger Schwerpunkte Anregungen für eine differenziertere Diskussion um den Standort Deutschland gegeben werden.

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3. Die Notwendigkeit einer innovativen Industrie- und Forschungspolitik

Der Präsident des BDI, Hans-Olaf Henkel, läßt in einigen seiner Beiträge zur Standortdiskussion selbst ein gewisses Unbehagen an der Enge der Debatte erkennen und versucht sie, wenn auch zaghaft, zu erweitern. Er spricht davon, der Begriff von der wettbewerbsfähigen Wirtschaft muß hin zur „wettbewerbsfähigen Gesellschaft" erweitert werden. Und er zitiert ausländische Stimmen, die immer wieder deutlich gemacht hätten, daß der größte Standortvorteil die politische und soziale Stabilität in Deutschland sei. Vielleicht sind dies Ansätze einer umfassenderen und differenzierteren Debatte.

Um Innovationen anzustoßen und durchzusetzen, fördert der Staat heute mit ca. 31 Milliarden DM die Forschung und Entwicklung der Unternehmen. Er beeinflußt damit auch die Forschungsrichtung der Unternehmen selbst, die wiederum ca. 80 Milliarden DM für Forschung und Entwicklung ausgeben. Der Staat fördert darüber hinaus einzelne Wirtschaftszweige mit Subventionen wie bei Kohle, Werften, Landwirtschaft, Verkehrssystemen etc. oder durch Beschaffungsaufträge für die Bundeswehr.

Tatsächlich findet so mit dieser Forschungs-, Auftrags- und sektoralen Subventionspolitik Industriepolitik in mannigfacher Weise statt. Der Staat bestimmt mit, was geforscht, entwickelt und produziert wird. Dies sollten jene, die so vehement vor einer „marktwirtschaftlichen Industriepolitik" warnen, endlich einmal wahrnehmen.

Staat, Industrie und Wissenschaft müssen im Interesse einer geplanten und gezielten Innovationsförderung zusammenfinden. Grundlagenforschung und die Entwicklung neuer Techniken verlangen einen langen Atem. Weil dies der Markt alleine nicht schafft, fördert der Staat Forschung und Entwicklung. Es kommt nur darauf an, daß dies vernünftig, verantwortungsvoll und im Besitz allen verfügbaren Wissens geschieht.

Heute besteht die Tendenz, zu fördern, was gerade in Mode ist und was sich publizistisch gut verkauft; deshalb wird der Zugriff auf öffentliches Geld häufig publizistisch vorbereitet. Was als zukunftsweisende Technik gilt, ist so eher das Ergebnis eines Wettbewerbs um die öffentliche Meinung und der Lobbyarbeit als das Ergebnis des Nachdenkens von Fachleuten und verantwortungsvoll handelnden politischen Akteuren.

Gefördert und subventioniert wird, wenn Interessengruppen ausreichenden politischen Druck ausüben können. Beispiele sind die Subventionen für Kohle und Landwirtschaft, die DASA oder die Anbieter kommerzieller TV-Programme, die mit mindestens 10 Milliarden DM netto gefördert worden sind.

Dieses unvernünftige System führt nachweisbar zu teuren Fehlentscheidungen. Dabei ist oft rechtzeitig gewarnt worden:

– Kernenergie: Rund 10 Jahre vor dem offiziellen Ende der Förderung des Schnellen Brüters von Kalkar und des Hochtemperaturreaktors war Fachleuten klar, daß sich diese Linien der Reaktorentwicklung nicht mehr lohnen.

– Bemannte Raumfahrt: Als 1987 der damalige Forschungsminister Riesenhuber zum „überzeugten" Förderer der Projekte Columbus, Hermes und Sänger wurde, war schon erkennbar, daß diese Projekte sich technisch und ökonomisch nicht auszahlen.

– Als Daimler-Benz 1988 ff. mit öffentlicher Unterstützung MBB übernahm und der Sprecher des Vorstandes erklärte, die Luft- und Raumfahrt sei die Zukunftsindustrie, war abzusehen, daß sich die bemannte Raumfahrt für Deutschland nicht lohnt, daß wegen des absehbaren Endes des Ost-West-Konflikts (Gorbatschow war schon 3 Jahre im Amt) die Hoffnung auf wachsenden militärischen Flugzeugbau trügerisch und die Stabilität des Dollars angesichts der zunehmenden Staatsverschuldung in den USA ausgesprochen unsicher war, es also fraglich war, ob in der Flugzeugindustrie wettbewerbsfähig produziert werden könne.

– Transrapid: alle finanzpolitischen, forschungspolitischen und verkehrspolitischen Argumente gegen den Transrapid – wie sie z. B. im Hearing des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages in der letzten Legislaturperiode deutlich sichtbar wurden – waren schwächer als das Lobbying der Industrie.

Diese Fehlentscheidungen belasten die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Sie waren vermeidbar. Neue Fehlentscheidungen sind absehbar, weil es hierzulande keinen ernsthaften Versuch einer objektiven, unabhängigen, kritischen Debatte darüber gibt, was Zukunftstechnologien und Zukunftsindustrien sind.

Folgende Elemente gehören meiner Ansicht nach zu einer besseren Industrie- und Forschungspolitik:

(1) Systematische Suche und Definition von zu fördernden Zukunftstechnologien

Es ist nötig, systematisch die Technikfelder zu suchen, die Zukunft haben und auf denen die hiesige Industrie eine Chance hat, wettbewerbsfähig zu sein. Die Einrichtung eines periodisch tagenden Forums für die Erforschung zukunftsfähiger Technologien und Industrien könnte dazu dienen. An diesem Forum sollten qualifizierte und auch kritische Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft teilnehmen. Sie müssen von der üblichen Forschungsförderung unabhängig sein. Notwendig ist auch eine Art Rotationsprinzip, um die Bildung von Seilschaften, wie z. B. bei der Kernenergie, zu vermeiden. Kohls Technologierat kann hier nicht als Beispiel dienen. Dessen Konzeption und personelle Besetzung führt nicht dazu, daß dort systematisch und mit der notwendigen Unabhängigkeit gearbeitet wird.

(2) Öffentlicher Dialog über Zukunftstechnologien

Notwendig ist außerdem eine öffentliche Debatte über die Zukunft bestimmter Forschungs- und Technologiefelder sowie von Wirtschaftszweigen, damit Fehlentscheidungen und Fehlinvestitionen häufiger als bisher verhindert oder früher korrigiert werden. Durch die öffentliche Debatte müssen Gegengewichte gegen Interessengruppen geschaffen werden. Innovation muß ein großes öffentliches Thema werden. Es wäre z. B. für eine der großen deutschen Stiftungen sicherlich lohnend, regelmäßig die besten Technik-, Wirtschafts- und Wissenschaftsjournalisten mit einer offenen Recherche über Zukunftstechnik zu beauftragen. Einunddreißig Milliarden DM staatlicher Forschungsgelder sollten Grund genug für unabhängige Beratung und Berichterstattung sein.

(3) Bessere Nutzbarmachung vorhandenen Wissens

Innovationsförderung erfordert eine Reihe anderer Maßnahmen und Entscheidungen: z. B. eine bessere Einbindung der Großforschungseinrichtungen, eine Reform der Hochschulen, eine bessere Organisation des Wissenstransfers, um neue Techniken schnell in der Produktion umsetzen zu können.

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4. Verbesserung von Qualifikation und Motivation –
für eine breite Bildungsoffensive zur Vermittlung von Schlüsselqualifikationen


Daß deutsche Unternehmen bei hohen Löhnen per saldo wettbewerbsfähig sind, verdanken sie der hohen Produktivität. Diese hängt ganz wesentlich von der Qualifikation und Motivation der hier arbeitenden Menschen ab, also von ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung. Für die Zukunftsfähigkeit ist es deshalb wichtig, das Bildungs- und Ausbildungssystem zu pflegen.

Gerade wenn Arbeitsmärkte globalisiert werden, entscheiden zunehmend Qualifikation und Motivation darüber, ob Menschen hierzulande noch Arbeit für ein Gehalt finden können, das ihren bisherigen Lebensstandard einigermaßen zu wahren vermag. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt spielt sich zunächst einmal und massiv in den unteren Qualifikationsbereichen ab. Vor allem die schlecht Ausgebildeten sind so dem Druck eines internationalen Arbeitsmarktes ausgesetzt.

Zur Zeit laufen wir in eine eigenartige Schere aus Gefahren und Chancen:

Zum einen: Die Schulen geraten unter den Druck von Finanzen und Politik. Die Schülerzahlen pro Klasse und Stundenzahlen werden erhöht. Sie geraten unter Druck sozialer und familiärer Veränderungen und unter den Dauerdruck der analphabetisierenden und verdummenden Wirkung eines auf Einschaltquoten setzenden, und dabei „erfolgreichen" kommerzialisierten Fernsehen. Lehrer notieren wachsende Konsumhaltung. Fachleute registrieren eine Art „knowledge gap" zwischen Schichten, die sich noch Zugang zu wirklichen Informationen erhalten, und anderen, deren Welt und Wirklichkeit von den elektronischen Medien geprägt ist. Hinzu kommt, daß die große Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit insgesamt die Gefahr nachhaltigen Desinteresses und Demotivation mit sich bringt.

Wir stehen also in Gefahr, daß sowohl Qualifikation als auch Motivation leiden und damit ein wichtiger Standortfaktor beschädigt wird. Das ist die eine Seite.

Andererseits gibt es auch Chancen für eine Bildungsreform und Qualifizierungsoffensive: zwischen einzelnen Bildungsreformern und Fachleuten aus der Wirtschaft ist eine Art Konsens darüber entstanden, daß in einer von rasanten Veränderungen geprägten Welt nicht die Akkumulation vorhandenen Wissens, sondern der Erwerb sogenannter Schlüsselqualifikationen entscheidend ist. Kinder, Jugendliche, Erwachsene sollen lernen zu lernen; sie sollen Spaß daran haben, sie sollen Kommunikations- und Teamfähigkeit und damit Sozialkompetenz erwerben; sie sollen zu eigenständigem und kreativem Denken und zu mehr interdisziplinärem Denken und Handeln ermuntert werden. Das erfordert eine Reform der Unterrichtsmethoden. Diese ist aber bei weitem nicht ausreichend, um Qualifizierung und Motivation zu verbessern. Weitere Thesen für die Diskussion sind:

– Die stiefmütterliche Behandlung der beruflichen Bildung kann nicht dadurch aufgehoben werden, daß man sie einfach als gleichrangig bezeichnet. Auch hier könnte der Erwerb von Schlüsselqualifikationen weiterführen.

– Die Schulleitungsfunktionen müssen auf Zeit übertragen werden, um notwendige Wechsel in den Schulleitungen zu erleichtern.

– Eine Reform des Hochschulwesens ist überfällig; nötig sind Leistungsanreize für Professoren und Sanktionen für solche, die sich „zur Ruhe setzen"; bessere Anleitungen für die Studenten; der Abbau von Hierarchien, um jungen Wissenschaftlern das Vorankommen zu erleichtern usw.

In der Standortdebatte kommt Bildung durchaus als wichtiges Element vor. Insgesamt muß man aber feststellen, daß die Redeführer in Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nur wenig wirkliche Kenntnis von den erforderlichen Reformen im Bildungsbereich haben. Statt dessen werden Vorurteile gepflegt: So wird vor einer „Überakademisierung" gewarnt, ohne die Fakten zu beachten. Tatsache ist, daß Akademiker deutlich bessere Jobchancen haben als Minderqualifizierte und sie in der Regel nur kurzzeitig arbeitslos bleiben.

– Die stereotype Forderung nach Verkürzung der Schulzeit auf 12 Jahre übersieht, daß Voraussetzung für einen Erfolg der Schulzeitverkürzung schulinterne Reformen, kleinere Klassen und besser motivierte Lehrer sind.

– „Vor allem muß das Abitur wieder eine Reifeprüfung werden, die diesen Namen verdient: Mathematik muß dabei Pflichtfach sein" – so heißt es in einem Papier des DIHT. Auch in einer Publikation des Bundeswirtschaftsministeriums wird der „obligatorische Fächerkanon in der gymnasialen Oberstufe" verlangt. Die sich dahinter verbergende abschätzige Einschätzung der jetzigen Reifeprüfung folgt spiegelbildlich aus der Beschönigung der eigenen Vergangenheit. Die Forderungen zum Fächerkanon sind aber weit weg von dem, was eine moderne Qualifizierung verlangt, eben gerade nicht alleine die Anhäufung von Wissen. Viele Unternehmen und innovationserfahrene Wissenschaftler sind da offener: Vom Nobelpreisträger für Physik Gerd Binnig wissen wir, daß er in den Schulen das Fach Kreativität vermißt und daß er als Ergebnis seiner Erfahrung und Forschung die kreative Bildung eher von einem guten Kunst- und Musikunterricht als von der Reproduktion traditionellen Wissens erwartet. Als einen von drei notwendigen Faktoren für innovative Arbeit in der Industrie nennt der bei Siemens für Forschung und Entwicklung Verantwortliche, Prof. Claus Weyrich, „begeisterungsfähige, motivierte Mitarbeiter, die gerne in – oft interdisziplinären – Teams arbeiten". Der Fächerkanon ist am allerwenigsten eine Garantie für diesen Erfolgsfaktor. Auch beim BDI interessiert man sich, wie bei vielen einzelnen Unternehmen, für die Methoden zum Erwerb von Schlüsselqualifikationen.

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5. Keine unnötige Belastung des Staatshaushalts –
vermeidbare „Klötze am Bein" der Volkswirtschaft vermeiden


In den letzten 5 Jahren haben deutsche Unternehmen im Ausland rund 140 Milliarden DM direkt investiert, ausländische Unternehmen in Deutschland nur 40 Milliarden DM; im gleichen Zeitraum ist die Staatsquote in Deutschland von knapp 46 Prozent auf über 50 Prozent angestiegen. Der Präsident des BDI, Henkel, sieht einen Zusammenhang zwischen der angestiegenen Steuerbelastung und der vergleichsweise geringen Tendenz von ausländischen Unternehmen, in Deutschland zu investieren.

Die hohe Staatsquote und die damit verbundene Steuer- und Beitragsbelastung ist in der Tat ein äußerst kritischer Punkt, vor allem, da auch in den nächsten Jahren große Beträge für die Finanzierung der Einheit anfallen. Um so wichtiger ist es, mit den vorhandenen knappen Mitteln rational umzugehen.

Gerade Vertreter von Industrie- und Wirtschaftsverbänden, die die Kürzung der Sozialhilfe oder Einsparungen bei den Kommunen empfehlen, sind weniger kritisch, wenn es um milliardenschwere Subventionen einzelner Industriezweige und um Ausgaben für nahestehende Interessen geht: 700 Millionen Mark mehr für die Rüstungshilfe für Griechenland und die Türkei, 800 Millionen Mark für ein den Anforderungen nicht entsprechendes Selbstschutzsystem der Tornados, Milliarden für den Berlin-Umzug, Hunderte von Millionen für die Rettung des Schürmann-Baus, fast eine Milliarde für den Saale-Elbe-Ausbau, Milliarden für den Airbus, den Eurofighter, die Raumfahrt, den Transrapid, die Fernsehverkabelung, den Schnellen Brüter und die Kernenergie insgesamt!, die Treuhand und ihre Nachfolger – und so weiter und so fort. Noch nie waren die Subventionen so hoch wie heute.

Daß einige der aufgeführten Beträge durchaus zur Verbesserung der Infrastruktur oder der Forschung dienen sollen und beschäftigungspolitisch wirksam eingesetzt werden, ist unbestritten. Vorübergehend kann der Einsatz solcher Mittel auch sinnvoll sein. Trotzdem handelt es sich dabei um Klötze am Bein unserer Volkswirtschaft, die die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt beeinträchtigen. Wer die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland aber tatsächlich verbessern will, kommt an einer ernsthaften Prüfung der vielen Förderungen, Dauersubventionen und sonstigen Staatsausgaben nicht vorbei. Schließlich sind die Wohltaten für den einen immer zugleich Belastungen für die anderen.

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6. Sparsamer Umgang mit Ressourcen –
mit Hilfe eines funktionierenden volkswirtschaftlichen Rechensystems


Für die Wettbewerbsfähigkeit ist es wichtig, möglichst keine Ressourcen zu vergeuden. Voraussetzung dafür ist ein gut funktionierendes volkswirtschaftliches Rechensystem. Das setzt in der Marktwirtschaft u. a. voraus, daß erkennbare externe Kosten einer Produktion internalisiert werden: Die Kosten der bei der Produktion eines Gutes auftretenden Schäden, auch die Spätfolgen müssen staatlicherseits in die Kalkulation des Verursachers „hineingezwungen" werden.

Würden z. B. die wirklichen Kosten des weiter zunehmenden Verkehrsaufkommens in Europa entsprechend den marktwirtschaftlichen Prinzipien in einem stufenweisen, die Umstellung fördernden Prozeß denen angelastet, die sie verursachen, dann könnten die Zuwächse begrenzt und damit Ressourcen gespart werden. Ohne die Ressourcenvergeudung im Transportsektor würden sich dezentralere Produktionsweisen durchsetzen.

Tatsächlich sind externe Kosten in Deutschland und europaweit nur selten internalisiert. Eher werden die Kosten heute externalisiert: Kosten für soziale Leistungen z. B. werden durch Vermeidung fester Arbeitsverhältnisse anderen aufgebürdet.

Die Internalisierung externer Kosten, das Hineinrechnen volkswirtschaftlicher Kosten bei den privaten Verursachern, ist ein zwingendes marktwirtschaftliches Gebot. Die Öko-Steuer ist keine Erfindung von Ökologen, sondern von neoliberalen Ökonomen. Wegen der Verflechtung mit den anderen europäischen Volkswirtschaften wäre hier eine große europäische Initiative notwendig.

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7. Der Standortfaktor „soziale Sicherheit" wird unterschätzt

Die Standortdebatte besteht zu einem großen Teil aus Klagen über die hohen Lohnnebenkosten und darüber, daß ein Drittel des Sozialproduktes für soziale Leistungen ausgegeben werde. Es müsse „Schluß mit der Umverteilung" und mit dem „Verweilen im sozialen Netz" sein – so Bundesfinanzminister Waigel in seiner Haushaltsrede am 5. September 1995.

Dabei muß über einige Ausgaben sicher gesprochen werden: So z. B. über die sachfremde Mitfinanzierung der Deutschen Einheit und die hohe Zahl und jährlich um ca. 200.000 wachsende Zahl von Aussiedlern über die Renten- und Arbeitslosenversicherung und damit zu Lasten der Arbeitnehmer. Auch die Entlassung von Arbeitnehmern in den Vorruhestand durch viele große Unternehmen sollte zum Nachdenken über die Art der Finanzierung des sozialen Netzes anregen.

Insgesamt ist nichts dagegen einzuwenden, sich sachlich mit Mißbräuchen auseinanderzusetzen. Es kommt dabei aber auf die Herangehensweise an. Damit sind wir beim Kern des Problems: Den Kritikern der Sozialstaatlichkeit geht es nämlich nicht nur um die Beseitigung von Mißbräuchen; sie wollen das kollektive soziale Sicherungssystem, das heute ein Kernmerkmal der Sozialstaatlichkeit in Deutschland ist, grundsätzlich in Frage stellen.

Die Überlegungen zum Umbau des Sozialstaates und die Kritik am hohen Niveau der sozialen Sicherung in unserem Land basieren auf zumindest drei Denkfehlern:

(1) Begründet in der eigenen – meist finanziell gut abgesicherten – Lebenslage werden die Lebensumstände der Mehrheit falsch eingeschätzt. Man übersieht, daß die Mehrheit ohne kollektive soziale Sicherungssysteme gegen Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit usw. nicht auskommen kann.

(2) Wenn unterstellt wird, daß soziale Sicherungssysteme zum Ausruhen im sozialen Netz verleiten, dann verkennt man dabei die Motivationsstruktur von Menschen und die Grundlage von Leistungsfähigkeit. Menschen in unsicheren Lebenssituationen sind per se nicht motivierter als solche, die in Sicherheit leben; Menschen, die den Kopf voller wirtschaftlicher Sorgen haben und Angst vor Arbeitslosigkeit und Krankheit haben, sind schließlich nicht kreativer als diejenigen, die abgesichert sind. Der DIHT rühmt in einer Publikation mit dem Titel Wettbewerbsfähigkeit auf den Auslandsmärkten 1995 „den ausgezeichneten Ruf, den deutsche Unternehmen im Ausland genießen: Gründlichkeit, Zuverlässigkeit und Seriosität kennzeichnen das Image deutscher Anbieter". Diese positive Erfahrung machen ausländische Geschäftspartner nicht nur mit den deutschen Unternehmensleitungen, sondern auch mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ihre Zuverlässigkeit ist eben auch das Ergebnis ihrer finanziellen und sozialen Absicherung.

(3) Die Folgen eines ideologisch gefärbten Umbaus unseres Sozialstaates und einer Mißachtung des Bedürfnisses an kollektiver sozialer Sicherheit müssen bedacht werden. Wer das soziale Netz durchlöchert und Menschen in soziale Not entläßt, der muß auch die individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten verantworten: politische Instabilität, Unrast, Demotivation, mangelnder Zusammenhalt und zunehmende Gewaltbereitschaft.

Im übrigen ist ja bei alledem noch zu fragen, wo eigentlich die ökonomischen Erfolge jener Standorte bleiben, die den Um- und Abbau des Sozialstaates am weitesten vorangetrieben haben: Die USA etwa leben seit Jahren über ihre Verhältnisse. Die Auslandsverschuldung nimmt seit langem zu. Trotz hoher Steuervorteile ist die Investitionsquote von 1985 bis 1992 rückläufig gewesen. Der Weltmarktanteil Großbritanniens ist auch nach Jahren des Thatcherismus nicht gestiegen, sondern von 5,7 auf 5 Prozent gefallen.

Es gibt eine ernstzunehmende ökonomische Entwicklung, die die Kritiker des sozialen Netzes und der staatlichen Vorsorge für die Schwachen in unserer Gesellschaft nachdenklich stimmen sollte: Wir müssen – wie schon erwähnt – damit rechnen, daß mit der verstärkten Globalisierung der Warenmärkte und gerade auch der Arbeitsmärkte vor allem die unteren Einkommen weiter unter Druck der internationalen Arbeitnehmerkonkurrenz geraten. Jene, die eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes fordern, sind auf dem besten Wege, auch die Auffangnetze zu beseitigen, die die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien immer nötiger brauchen. Das paßt nicht zusammen. Vielmehr müssen wir verstärkt über die soziale Absicherung der Opfer der rasanten internationalen Arbeitsteilung nachdenken und sie regeln.

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8. Der Standortfaktor „Gutes Management" muß berücksichtigt werden

In der Standortdebatte reden Manager meist von den Arbeitnehmern und wenig von sich selbst. Dabei sind in letzter Zeit massive Fehler sichtbar geworden: Korruption bei Opel, Fehleinschätzung der Chancen einer ganzen Branche bei Daimler-Benz, Vernachlässigung der Kontrollaufgaben durch die Deutsche Bank etc.

Es entspricht marktwirtschaftlicher Vorstellung, daß der Markt als Wirtschaftsprinzip auch deshalb optimal sei, weil er die besten Leute in die jeweiligen Aufgabenbereiche lockt, reizt, befördert. Gilt das für das Management? Wo bleiben die Sanktionen in einem Verbund von Personen, die sich gleichzeitig gegenseitig kontrollieren sollen und voneinander abhängig sind? Das Leistungsprinzip im eigentlichen marktwirtschaftlichen Sinn muß auch beim Rekrutieren von Managern stärker zum Tragen kommen; manch eines der meinungsführenden Unternehmen in Deutschland muß noch viel ideologischen Ballast abwerfen.

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9. Standortfaktor Staat berücksichtigen

Wenn der BDI-Präsident sich auf ausländische Stimmen beruft, um festzustellen, „die politische und soziale Stabilität" sei der „größte Standortvorteil Deutschlands", dann entspricht eine solche positive Sicht der Rolle des Staates für die Wettbewerbsfähigkeit nicht dem stereotypen Drängen auf Deregulierung und Privatisierung.

(1) Beginnen wir mit Deregulierung. Ohne Zweifel ist Deregulierung und Abbau von Bürokratie an vielen Stellen notwendig. So sind z. B. die beklagten langen Zeiten bei Bauanträgen häufig weder zumutbar noch sinnvoll. Deshalb ist es gut, wenn das staatliche Regelwerk durchforstet wird.

Allerdings sind dabei Hintergrund und Zweck vieler Regulierungen zu beachten: z. B. der Schutz der Schwächeren durch Regeln zur Arbeitssicherheit und durch Gewerbeaufsicht; z. B. der Schutz der kommenden Generationen und der Gesundheit aller Menschen durch Umweltschutzgesetze; z. B. städtebauliche Orientierung der Planung von Gemeinden, weil man erkannt hat, daß eine bauplanerische Entscheidung eines einzelnen Nachbarschaftsrechte und Rechte der Gesamtheit betreffen und schädigen kann.

In vielen Fällen kann man den Klagen über zu lange Planungs- und Genehmigungsfristen durch Beschleunigung innerhalb des rechtlichen Rahmens durchaus gerecht werden. Die meisten Verzögerungen gehen allerdings – das lehrt die Erfahrung – auf politische Uneinigkeit und mangelnden Mut, nicht aber auf Überregulierung zurück.

Im übrigen krankt die Deregulierungsdebatte an Blindheit gegenüber vorhandenem Regulierungsbedarf. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die nicht realisierte Reform des Bodenrechtes. Weil es sich lohnt, mit unbebauten Grundstücken zu spekulieren, hat dieser Mangel an Regulierung sowohl stadtplanerische und ökonomische als auch zutiefst empörende verteilungspolitische Folgen. Die Mahnung des Bundesverfassungsgerichts, die Besteuerung des Grundvermögens zu ändern, bestätigt den Mangel an Regulierung. Ein anderes Beispiel: daß wir auf eine wirklich effiziente, kalkulierbare Öko-Steuer immer noch warten, führt zu Ressourcenvergeudung und zu ökologischen Dauerschäden: auch hier herrscht Regulierungsbedarf.

Die Industrie selbst verlangt häufig staatliche Regelungen, etwa um gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen verschiedenen Wirtschaftspartnern zu gewährleisten. Diese Forderungen sind vernünftig; die pauschale Dauerpolemik gegen gesetzte Regeln ist dagegen nicht rational.

(2) Es gibt wenige politische Vorgänge in der Bundesrepublik Deutschland, die so kritiklos wie die Privatisierungen hingenommen wurden. Die zugehörige Debatte muß auf eine ideologiefreie, sachliche Ebene zurückgeholt werden. Es muß nüchtern geprüft werden, welche Aufgaben besser privat und welche besser von der öffentlichen Hand wahrgenommen werden. So muß man berücksichtigen, daß bei sogenannten Unteilbarkeiten – also bei Produktionen mit sinkenden Durchschnittskosten – eine Privatisierung in der Regel mit Ressourcenverschwendung verbunden ist. Ein typisches Beispiel ist die Privatisierung des Paketdienstes. Es ist nur schwer zu verstehen, wieso es volkswirtschaftlich ökonomisch und effizient sein soll, wenn jeweils vier oder fünf verschiedene Lieferwagen täglich durch eine Straße fahren, statt die Auslieferung durch ein Unternehmen erledigen zu lassen.

(3) Die Wirksamkeit des Standortfaktors Staat hängt außerdem von seiner Reformfähigkeit ab und von der Fähigkeit, Probleme rechtzeitig zu erkennen und vorzusorgen statt zu reparieren. Auch von der Qualität der politischen Entscheidungen hängt die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ab, also davon, ob sie sachorientiert oder stimmungsabhängig gefällt werden.

(4) Unser Land ist als Investitionsstandort attraktiv, wenn die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet ist; wenn Unternehmen damit rechnen können, daß die Zivilgerichtsbarkeit funktioniert und gesetztes Recht auch durchgesetzt wird.

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10. Den Standortfaktor Sicherheit bewahren

Hohe Ausgaben für den Schutz vor Verbrechen und Gewalt belasten eine Volkswirtschaft. Ein Land ohne innere Sicherheit, mit Gewalt auf den Straßen, ist tendenziell unattraktiver als ein friedliches Land.

Die Entwicklung in einzelnen Ländern ist sehr unterschiedlich. So ist die Chance auf ein Wiedersehen mit dem geparkten PKW in London oder Birmingham inzwischen geringer als in Neapel oder Palermo. Die Entwicklung in Großbritannien kommt nicht von ungefähr: Was sich dort tut, ist auch das Ergebnis der Thatcherchen Philosophie und der bewußt vorgenommenen neuen Klassenteilung.

Die Bundesrepublik Deutschland steht, was Gewalt und innere Sicherheit betrifft, an einem Scheideweg. Wir haben die Möglichkeit, einen anderen Weg zu gehen, als den, auf dem sich manche westliche Staaten und viele Schwellen- und Entwicklungsländer befinden. Dabei wäre es beileibe nicht nur aus ökonomischen Gründen sinnvoll, die Weichen anders zu stellen. Diese andere Weichenstellung, der Entwurf für den Weg in eine Gesellschaft mit weniger Gewalt, verlangt viel Kraft, die konzeptionelle Zuarbeit vieler Fachleute und die Zusammenarbeit breiter gesellschaftlicher Kräfte. Wo sind die Politiker und Politikerinnen, die sich die Sorge um einen solchen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwurf zu eigen machen und die Arbeit daran anstoßen? Es würde sich lohnen.

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11. Den Ruf des Standorts Deutschland pflegen

Die Einschätzung des Standortes Deutschland durch die hier tätigen Unternehmen und durch potentielle ausländische Investoren ist eine Frage der Fakten und eine Frage des Images. Deshalb ist die Debatte in der jetzigen einseitigen, undifferenzierten und unnötig pessimistischen Form nicht hilfreich. Wir täten gut daran, die Qualitäten des Standortes Deutschland realistisch zu sehen und seine Stärken nach außen sichtbar zu machen, statt sie zu zerreden. Das gilt für die hohe Arbeitsproduktivität, für die Qualität von Ausbildung und Bildung, für die politische Stabilität und den sozialen Frieden, für die Verläßlichkeit staatlicher Entscheidungen, für einen hoffentlich geringen Grad an Korruption, für die im Vergleich zu vielen anderen Ländern hervorragende Infrastruktur und für vieles mehr.

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12. Ein hoffnungsvolles Szenario

Unser Land und die Menschen, die hier leben, haben trotz großer Konkurrenz in der Welt eine hoffnungsvolle wirtschaftliche Perspektive, wenn die Weichen richtig gestellt werden:

– für eine innovative moderne Industrie- und Forschungspolitik ohne ideologische Scheuklappen,

– für eine neue Bildungsoffensive zur breiten Vermittlung von Schlüsselqualifikationen,

– für eine Ausgabenpolitik des Staates, die für eine gute Infrastruktur und gute öffentliche Leistungen sorgt, aber Klötze am Bein der Volkswirtschaft vermeidet,

– für eine funktionierendes und umfassendes volkswirtschaftliches Rechensystem, das die Vergeudung von Ressourcen vermeiden hilft,

– für ein effizientes soziales Netz, das den sozialen Frieden erhält und auch jene auffängt, die Opfer der Globalisierung der Arbeits- und Warenmärkte sind und werden,

– für einen verläßlichen und reformfähigen Rechtsstaat und

– für eine bewußt und groß angelegte Strategie zur Minderung von Gewalt.

In einem Land, das sich in diese Richtung entwickelt, ist es nicht nur attraktiv, zu arbeiten, es ist auch attraktiv, in einem solchen Land zu leben.


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