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Zusammenfassung:
"Sozialistische Mitteilungen" - "die Fahne der deutschen Sozialdemokratie im Ausland"
Die "Sozialistischen Mitteilungen" (SM) sind ein Newsletter, den der sozialdemokratische Exilvorstand von August 1939 bis Oktober 1948 in London herausgab. Nach Einstellung des "Neuen Vorwärts" (1940) waren die SM einziges offizielles Organ der Exil-SPD. Ihre Erscheinungsweise war (in der längsten Zeit ihres Bestehens) monatlich. Die Hefte wurden mit der Maschine geschrieben (ab 1948 gesetzt) und hektographiert. Das Papier, etwa im Format DIN-A 4, wurde einmal gefalzt und lose ineinander gelegt, so dass man die SM beim Lesen wie ein Zeitschriftenheft durchblättern konnte (ab 1940).
Es erschienen insgesamt 91 Hefte, darunter 24 Doppelhefte, zusätzlich 8 einfache Mitteilungsblätter im Jahre 1939 sowie - im Oktober 1941 - eine "Special Edition". Der Umfang war sehr unterschiedlich, in der längsten Zeit betrug er zwischen 12 und 28, durchschnittlich etwa 20 Seiten. Außerdem erschienen etwa 50 Beilagen zu den SM, davon mehr als die Hälfte in englischer Sprache. In Englisch waren auch einzelne Texte in den normalen Heften verfasst.
Die Redaktion der SM litt sehr unter Papier- und Geldmangel. Aus Kostengründen mussten die Hefte sehr eng und zeitweise mit einer kleineren Schrift beschrieben werden. In regelmäßigen Abständen wurden die Bezieher gebeten, ihren monatlichen Obolus von 6 Pence zu zahlen. Oft wurde sogar damit gedroht, die Belieferung einzustellen, wenn die Beitragszahlung unterbleibe. Am Ende der jeweiligen Hefte wurden die Geldeingänge quittiert, wobei manchmal auch größere Beträge (oft aus Übersee) verzeichnet wurden. Ein Einblick in den Kassenbericht zeigt, dass die SM mit einer "schwarzen Null", also kostendeckend, arbeiteten (und wohl auch arbeiten mussten, weil außer Beiträgen und Spenden keine weiteren Geldmittel zur Verfügung standen). Spendenaufrufe wurden auch in den englischsprachigen Beilagen veröffentlicht, weil man sich davon offenbar Geldmittel von den englischen Gastgebern versprach.
Die Auflage der SM betrug nach Angaben der Redaktion und des Exilvorstands zunächst nur 100 und etwa ab 1942 450 bis 500 Exemplare. Die Höchstauflage wird mit 620 angegeben. Die Hefte wurden diesen Angaben zufolge an sozialdemokratische Exilanten in 15 Länder verschickt, darunter in die USA, nach Kanada, Bolivien, Argentinien, Kolumbien, Peru, Südafrika, Indien, Australien, Neuseeland, Palästina und in die Schweiz. Oft kamen die Hefte dort, so berichten die SM, erst acht Wochen nach dem Erscheinen an.
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Als Herausgeber der SM fungierte Wilhelm Sander, der diese Arbeit im Auftrag des Exilvorstands der SPD wahrnahm, seit seinem Exil in Prag dessen besondere Vertrauensstellung besaß und einer seiner engsten Mitarbeiter wurde.
Abbildung 27: Wilhelm Sander 1947
Er war nicht nur Herausgeber und - zusammen mit Gerhard Gleissberg - Redakteur der SM, sondern übernahm auch noch zahlreiche andere Vertrauenspositionen - sei es in der Flüchtlingshilfe, in der deutschen Kommission für die Entlassung der internierten Flüchtlinge oder in der Exilpartei. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Vorsitzender der "Vereinigung deutscher Sozialdemokraten in Großbritannien", einer Vereinigung, die - gegründet auf Veranlassung von Kurt Schumacher, dem ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD - ab Dezember 1945 die Interessen der SPD-Mitglieder in Großbritannien vertrat. Sander war mit seiner uneingeschränkten Loyalität zum Exilvorstand, dessen Mandatsanspruch er bedingungslos vertrat, ein typischer sozialdemokratischer Funktionär. Er erarbeitete keine großen Parteikonzepte und entwarf auch nicht den grandiosen Zukunftsplan für Nachkriegsdeutschland, aber er arbeitete fleißig, hatte Organisationstalent und vertrat vorbehaltlos die Positionen des Parteivorstands nach innen und nach außen. Und wenn der Exilvorstand einmal zerstritten war, vertrat er die Position der Vorstandsmehrheit. Gerade die oftmals zerstrittene Exilpartei brauchte eine solche Person, ohne die das offizielle Parteiorgan "Sozialistische Mitteilungen" nicht hätte zehn Jahre bestehen können. "Exilvorstand" und SM, das sind Begriffe, die fast synonym verwendet werden können - dank Wilhelm Sander.
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Die SM trugen in der längsten Zeit ihres Bestehens den englischsprachigen Untertitel: "This newsletter is published for the information of Social Democratic Refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind". Dieser Text war nicht nur nach außen, an die britischen Gastgeber, gerichtet, sondern entsprach auch dem Selbstverständnis des Blatts. Aufklärung über das verhasste nationalsozialistische Regime sowie die Forderung nach dessen Ausrottung und nach vorbehaltloser Bestrafung sowohl der NS-Führungsclique als auch derjenigen, die das NS-Regime erst möglich gemacht hatten, sah die Redaktion während der gesamten Erscheinungszeit der SM als Kernaufgabe an. Eine feste Haltung nahmen die SM auch zum Kommunismus und zur kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion ein. "Keine Verhandlungen mit der KPD, keine Einheits- und Volksfront, keine gemeinsame Aktionen, keine gemeinsamen Erklärungen", fasste Fritz Heine, Mitglied des Londoner Exilvorstands, 1942 die ablehnende Haltung des Exilvorstands zur Kooperation mit Kommunisten zusammen. Die SM vertraten diese Position des Exilvorstands uneingeschränkt. Auch in der Nachkriegszeit, als sich in der sowjetischen Besatzungszone unter dem Druck der sowjetischen Militärmacht SPD und KPD zur SED zusammenschlossen, blieb es bei dieser festen Haltung.
Zum Selbstverständnis der SM gehörte es auch, dass die alliierten Kriegsziele vorbehaltlos unterstützt wurden. "Nazi-Deutschland muss sterben, damit ein demokratisches [...] Deutschland erstehen und die Welt in Frieden [...] leben kann", hatte Hans Vogel, Vorsitzender der SPD im Exil, in einer nach Deutschland ausgestrahlten BBC-Rundfunkansprache betont.
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Aufklärung als Kernaufgabe ergibt sich auch aus den anderen inhaltlichen Schwerpunkten der SM. Dabei ging es nicht nur um Aufklärung über den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes, die Ablehnung des Kommunismus oder die Unterstützung der alliierten Kriegsziele, sondern auch um Aufklärung
über die Situation im Deutschen Reich und die Stimmung der deutschen Bevölkerung, z.B. nach den alliierten Bombenangriffen;
über die Situation in anderen Exilländern und über die Internierungslager in Frankreich;
über die Argumente gegen den deutschfeindlichen Vansittartismus in England, der dazu neigte, die Unterschiede zwischen Deutschland und NS-Deutschland zu verleugnen, und dem sich außer einer Mehrheit in Labour Party und britischer Regierung auch einige Exilanten aus den eigenen Reihen verschrieben hatten;
über die Pläne für ein zukünftiges demokratisches Deutschland;
über neu erschienene Bücher, Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze, die sich mit Themen befassten, die für Exilanten von Interesse waren.
In weiteren Schwerpunktthemen informierten die SM darüber hinaus über die Aktivitäten der "Union deutscher sozialistischer Exilgruppen in Großbritannien", in der sich die SPD mit anderen linken Gruppen verbündet hatte, oder auch über nationale und internationale Aktivitäten der Gewerkschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg traten neue Schwerpunktthemen hinzu, wie
die Wiedergründung der SPD in den drei westlichen Besatzungszonen unter Kurt Schumacher und der schmerzliche Prozess der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED in der sowjetischen Besatzungszone und
der lange Prozess der Einbeziehung der SPD in die Gemeinschaft der internationalen sozialistischen Parteien.
All diese politischen Themen, die im Vordergrund der SM-Berichterstattung während des Krieges und danach standen, wurden immer wieder ergänzt um praktische Ratschläge an Exilanten, sei es für Behördengänge, für Paketsendungen nach Deutschland oder an Angehörige und Freunde in den Internierungslagern, über die Möglichkeiten, aus der Internierung entlassen zu werden, oder - in der Nachkriegszeit - über die Rückkehrmöglichkeiten nach Deutschland.
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Für die Exilanten hatten die "Sozialistischen Mitteilungen" einen unschätzbaren Wert. Das galt in besonderer Weise für die Leser in Großbritannien. Aber auch die Exilanten in den anderen Ländern konnten sich über das Geschehen in Deutschland, in Großbritannien und vielen anderen Ländern, vor allem aber über das Tun und Denken des Exilvorstands auf dem Laufenden halten. In der Nachkriegszeit kam hinzu, dass sie sich über die soziale Situation und Stimmung im zerstörten Deutschland, über den demokratischen Neuanfang, über Wahlergebnisse, über erste personelle Entscheidungen bei der Besetzung wichtiger politischer Ämter und vor allem über den Neuaufbau der SPD informieren konnten. Das alles geschah in ihrer Muttersprache, denn nicht immer waren die Exilanten der Sprache ihres Gastlandes mächtig. Hinzu kamen Texte in englischer Sprache, so dass die Exilanten speziell diese Hefte Freunden im Gastland weitergeben konnten. Ob deutsch- oder englischsprachig: Die Leser erhielten Argumente an die Hand, die sie gegen die aufkommende Deutschenfeindlichkeit in Großbritannien vorbringen konnten. Sowohl in dieser Frage als auch in anderen wichtigen politischen Streitfragen ließen die SM ihre Leser nicht allein und boten ihnen - wo immer notwendig - eine Fülle von Argumentationshilfen an. Sogar wenn es um eher praktische Probleme ging, wurden die Leser der SM nicht im Stich gelassen, sondern erhielten Ratschläge, z.B. in Steuerfragen, bei Ausreise- oder Rückreisewünschen oder Internierungsfragen.
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Entsprechend wertvoll sind die SM als historische Quelle für alle, die sich - als historische Experten oder interessierte Laien - über das Exil, besonders das sozialdemokratische Exil in Großbritannien und das Wirken des Exilvorstands informieren wollen. Sie erhalten Informationen
über die Stimmung im Deutschen Reich, die sie ohne die in den SM veröffentlichten anonymen Berichte von Vertrauensleuten der SPD im Reich nicht kennen lernen könnten;
über unzählige Veranstaltungen der Exil-SPD und befreundeter Organisationen im In- und Ausland, darunter komplette Einladungsschreiben zu Versammlungen mit Tagesordnung und Referenten, bei besonders wichtigen Veranstaltungen auch Auszügen aus den wichtigsten Ansprachen sowie Berichten über den Diskussionsablauf - Angaben, die sie ohne die SM nirgends oder zumindest nicht so ausführlich nachlesen könnten;
über Hunderte von neu erschienenen Büchern und Zeitschriftenaufsätzen, die oft ausführlich in den SM rezensiert wurden - Rezensionen, die darauf schließen lassen, welche Themen vom Exilvorstand beachtet wurden und wie er dazu Stellung nahm;
über die mutmaßlichen Absichten des Exilvorstands, durch die Veröffentlichung englischsprachiger Texte und kompletter Beilagen in Englisch auf die Meinungsbildung des Gastlandes einzuwirken;
über das Denken des Exilvorstands in einigen wichtigen Grundsatzfragen: sowohl der Frage nach dem eigenen Versagen in der jüngeren Parteigeschichte, insbesondere beim Aufkommen des Nationalsozialismus, als auch der Frage nach Zukunftsplänen für Nachkriegsdeutschland, aber auch für die eigene Partei.
In der Literatur wird davon gesprochen, die SM seien das entscheidende Medium des Exilvorstands gewesen, um den Mitgliedern der SPD dessen Vorstellungen bekannt zu machen, und zwar nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den USA, in Schweden und den vielen anderen Bezieherländern.(805) Diese Feststellung kann auf Grund der Arbeiten an der Online-Edition der SM voll bestätigt werden. Zudem zeigt ein Vergleich mit anderem Quellenmaterial aus der Exilzeit - den Protokollen der Exil-SPD und denen der "Union" (einschließlich ihrer Gremien) sowie den Briefen und Aufzeichnungen von Mitgliedern des Exilvorstands, besonders den vielfältigen Aufzeichnungen Fritz Heines -, dass die SM neben diesen Quellen eine weitere wichtige Quelle sind, die bislang viel zu wenig beachtet wurde.
Was allerdings die Inhalte der Politik des Exilvorstands angeht, sind die SM nicht nur eine Quelle unter vielen, sondern die weitaus wichtigste. Denn der Exilvorstand wollte nach seiner Rückkehr nach Deutschland vor der Partei Rechenschaft ablegen über alles, was er im Exil gemacht hatte, und die "Sozialistischen Mitteilungen" wurden für ihn das Instrument, in dem sein gesamtes Denken und Handeln in der Exilzeit lückenlos - wie in einem Protokoll - festgehalten wurde bzw. werden sollte. Sie sind für ihn das "Beweisstück" für korrektes Verhalten im Exil, wie Hans Vogel im Juni 1945 an einen Freund schrieb:
"In unseren ,Sozialistischen Mitteilungen' versuchen wir immer wieder, die Auffassung der Partei herauszustellen. [...] So werden sie für unser Alibi nach unserer Rückkehr vor den Freunden zu Hause wie denen einer hoffentlich aktiven und wirklichen Sozialistischen Internationale ein wichtiges Beweisstück sein."(806)
Abbildung 28: Hans Vogel 1942 in London. Nach der Rückkehr in die Heimat sollen für ihn die "Sozialistischen Mitteilungen" das "Beweisstück" für das korrekte Verhalten des Parteivorstands im Exil sein
Der Exilvorstand wollte in der Fremde Interessenvertreter des anderen, besseren Deutschland sein, dessen Propagierung er in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit stellte. Für Fritz Heine gar war es "die einzige [Aufgabe, die das] Leben [des Exilvorstands] in Freiheit rechtfertigte", der "Stimme dieses anderen Deutschlands Gehör [zu verschaffen] und Sturz und Niederlage der Despotie zu beschleunigen".(807)
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Die Texte in den SM sind allerdings immer auch vor dem Hintergrund der konkreten politischen Situation im Exilland zu sehen. Natürlich hatten die Exilanten, besonders der Exilvorstand, das Bestreben, der britischen Regierung und der Labour Party gegenüber absolute politische Zuverlässigkeit nachzuweisen. In den SM wirkte sich das z.B. darin aus, dass Konflikte mit der Labour Party unerwähnt blieben oder sehr verbindlich formuliert wurden. Auch bei der Kriegsberichterstattung waren die SM oft einen Schritt weiter als die wirkliche Lage, denn in den SM erzielten die Briten schon einen Sieg nach dem anderen, als Hitler mit seinen Truppen noch auf dem Vormarsch war. Auch als etwa die Hälfte der SM-Leser in britischen Internierungslagern saß, klang die Kritik an den britischen Gastgebern eher gemäßigt, ja mitunter verständnisvoll.
Allerdings vertraten die SM in für sie grundsätzlichen Fragen auch divergierende Positionen zur Labour Party. Das galt z.B. für das Problem der Gebietsabtretungen Deutschlands nach dem Krieg. In vielen Fragen lagen auch Fehleinschätzungen des Exilvorstands vor, die in den SM veröffentlicht wurden. Zu den wichtigsten Fehleinschätzungen gehörten:
die lange gehegte Hoffnung, der innere deutsche Widerstand, vor allem aus den Reihen der Arbeiterschaft, werde entscheidend zum Zusammenbruch des NS-Regimes beitragen,
die Hoffnungen, die Prinzipien der Atlantic Charta (z.B. das Selbstbestimmungsrecht) würden auf Nachkriegsdeutschland Anwendung finden(808), sowie
die Zuversicht, nach dem Krieg lasse sich die Einheit des Deutschen Reichs in den Grenzen der Weimarer Republik und ohne Gebietsabtretungen wiederherstellen.
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Die gravierendste Fehleinschätzung aber bestand darin, dass der Exilvorstand sowohl bei seiner Entscheidung, seinen Sitz von Paris nach London zu verlegen, als auch während des Zweiten Weltkrieges und danach davon ausging, er könne Einfluss auf die Politik der Labour Party und ihrer Regierungsmitglieder nehmen. In Wirklichkeit aber war die Labour Party unter dem Einfluss des deutschenfeindlichen Vansittartismus noch nicht einmal bereit, die deutschen Sozialdemokraten vor wichtigen, sie betreffenden Entscheidungen anzuhören. Sander resümierte 1944 in den SM:
"Als Vertreter jener politischen Kräfte in Deutschland, die seit vielen Jahren den Kampf gegen den Hitlerfaschismus opfervoll führen, haben wir [...] noch nicht jene Anerkennung gefunden, auf die wir hofften."(809)
Und Erich Ollenhauer, Mitglied des Exilvorstands, meinte 1946 in den SM:
"Unsere Hoffnungen, dass unser gemeinsames Auftreten und Handeln als deutsche Sozialisten dazu beitragen werde, uns als Partner im Kampf gegen Hitlerdeutschland konkrete und positive Aufgaben an der Seite der Alliierten zu geben, haben sich nur teilweise erfüllt."(810)
Das ist mit Rücksicht auf die Rolle der Briten als Gastgebern der deutschen Exilanten und den Vorsatz, das Verhältnis zu den Briten nicht noch weiter zu verschlechtern, vorsichtig ausgedrückt. Das zumindest zeitweise zerrüttete Verhältnis zur Labour Party lässt sich insgesamt nur unterschwellig aus den SM ablesen. Belegbar ist es durch zahlreiche Fundstellen in Briefen von Labourpolitikern oder Vorstandsmitgliedern der Exil-SPD. Auf Grund seiner Auswertung auch britischer Dokumente kommt Eiber zu dem Ergebnis:
"Selbst formelle Eingaben [der "Union"] wie das Statement zu den alliierten Nachkriegsplänen vom 25. April 1944 wurden vom International Subkomitee (ISC) der Labour Party mit dem Beschluss ,no action' abgetan und blieben unbeantwortet. Auch nach der Ablösung von Gillies 1945 lässt sich keine Änderung feststellen. In den Protokollen des ISC findet sich im ganzen Jahr 1945 kein Tagesordnungspunkt, der sich speziell mit Deutschland befasst hätte."(811)
Auslöser für diese "Funkstille" bis weit in die Nachkriegszeit hinein war der Vansittartismus- und Nationalismusstreit zwischen Exilvorstand einerseits und Mehrheit der Labour Party sowie dem Geyer/Loeb-Flügel andererseits, auf den bereits oben ausführlich eingegangen wurde.(812) Der Streit darüber, ob die Deutschen an sich aggressiv seien (Vansittart), ob sie Hitler und den Krieg mehrheitlich befürworteten (Geyer/Loeb) oder ob in Deutschland eine nicht-nationalsozialistische Mehrheit von einer NS-Minderheit unterdrückt werde (Exilvorstand), hatte weitreichende Bedeutung für die Behandlung Deutschlands nach dem Krieg.(813) Im letzten Fall konnte man - nach dem militärischen Sieg - den Deutschen selbst die Abrechnung mit den Nationalsozialisten und den Aufbau eines demokratischen Deutschland überlassen. In den beiden ersten Fällen war eine lange Phase der Umerziehung und Kontrolle durch die Besatzungsmächte notwendig, ehe eine Demokratie in Deutschland aufgebaut und sichergestellt werden konnte, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen werde. Die Anfang der vierziger Jahre getroffene Entscheidung der Labour Party für die zuletzt genannte Variante kennzeichnet zugleich den Weg der Isolation, den SPD und "Union" danach gehen mussten. Sie blieben isoliert - bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
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Trotz Funkstille und Streit: "Als Flüchtlinge werden wir in England hoch anständig behandelt"(814), hatte Sander in den SM 1944 geschrieben. Und immerhin war es die britische Labour Party, die sich ab 1946 bei allen internationalen Sozialistentreffen für eine vollberechtigte Teilnahme der deutschen Sozialdemokraten einsetzte.(815) Hinzu kam, dass es der Labour Party zu verdanken war, dass sich die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien zu einer "Union" zusammenschlossen, in der einstmals mit der SPD und untereinander zerstrittene linke Gruppen aufgingen, so dass sie und ihre Führungspersönlichkeiten in der Nachkriegszeit gemeinsam den Neuaufbau der SPD in Deutschland mitgestalten konnten. Die sozialdemokratischen Exilanten hatten ihren britischen Gastgebern also viel zu verdanken.
Am meisten aber profitierten die sozialdemokratischen Exilanten in Großbritannien von der praktischen Schulung in Sachen Demokratie, die vom britischen Gesellschaftsmodell mit starker Arbeiterpartei und starken Gewerkschaften ausging. Nicht dass die deutschen Exilanten nicht schon vorher gute Demokraten gewesen wären, aber das britische Modell öffnete ihnen die Augen für praktisches demokratisches Verhalten ohne feste Ideologie, für reformorientiertes demokratisches Denken, das vom orthodoxen Überbau befreit war.
Vielleicht war dies auch mit ausschlaggebend dafür, dass die Exilanten voll in die Nachkriegs-SPD integriert wurden und viele von ihnen in verantwortliche Parteifunktionen einrückten. Rückkehrer aus dem Exil hatten in den fünfziger und sechziger Jahren immer mehr als die Hälfte der Sitze im SPD-Parteivorstand der westlichen Besatzungszonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland inne.(816) Ollenhauer wurde im Mai 1946 zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt und folgte Schumacher im Parteivorsitz nach, als dieser 1952 gestorben war. Von den Mitgliedern der SPD-Fraktionen der Bundestage 1949 und 1953 waren jeweils mehr als 17 Prozent im Exil gewesen.(817) Es bewahrheitete sich, was Hans Vogel schon am 25. Dezember 1941 in einer Ansprache im Londoner Rundfunk, die nach Deutschland gesendet wurde, verkündet hatte:
"[Emigranten] haben nicht nur gelernt, ,die Welt zu interpretieren', sie werden auch mithelfen können, ,sie zu verändern'."(818)
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Die "Sozialistischen Mitteilungen" trugen die Entwicklung hin zu einem praktischen Demokratiemodell nach englischem Vorbild nicht nur mit, sondern forcierten sie ganz entscheidend. Sie waren in Angelegenheiten, die das Verhältnis zur Labour Party betrafen, nur selten kämpferisch und vermieden damit einen offenen Bruch oder eine Einstellung des Blatts, sie waren auch kein Diskussionsforum, in dem unkommentiert kontroverse Meinungen gegenübergestellt wurden, schon gar nicht waren sie ideologisch orientiert, wie es die linken sozialistischen Organisationen, mit denen die SPD in der "Union" zusammenarbeitete Ende der dreißiger/Anfang der vierziger Jahre noch waren. Sie waren, wie Ollenhauer es formulierte,
"die Fahne der deutschen Sozialdemokratie im Ausland [...], um die sich die Sozialdemokraten in allen Ländern sammelten, und sie wurden zum Sprachrohr der Partei in einer Zeit, in der es weder in Deutschland noch in der Welt [...] eine Plattform gab, auf der deutsche Sozialdemokraten sprechen konnten"(819).
Fußnoten
805 - Vgl. oben, Vorbemerkung: Wilhelm Sander, Gerhard Gleissberg und die "Sozialistischen Mitteilungen".
806 - Brief Hans Vogels an Joseph Klein vom 20. Juni 1945, in: AdsD, Bonn, SOPADE-Bestand, Mappe 142.
807 - Heine, Fritz: Heimkehr, in: Rheinische Zeitung, 30. Juni 1946.
808 - Zur "Atlantik Charta" vgl. oben, Kapitel 3, Ziffer 5. Der Text der Charta wurde 1941 in den SM veröffentlicht (SM, Nr. 29, 1941, S. 4 f.). Hans Vogel hatte sich in der Versammlung der Londoner Gruppe der SPD am 18. Juni 1943 sehr kritisch mit den alliierten Plänen einer Zerteilung Deutschlands ohne Berücksichtigung von Selbstbestimmungsrechten geäußert und die Einhaltung der Atlantik-Charta angemahnt (vgl. SM, Nr. 51, 1943, S. 5 f.). Nachdem Churchill 1944 verkündigt hatte, dass die Charta für das besiegte Deutschland keine Anwendung finden solle (SM, Nr. 60/61, 1944, S. 20), gaben "führende Sozialisten verschiedener Länder", darunter auch Hans Vogel, eine Erklärung ab, in der sie kritisierten, dass die Charta den "Feinden gegenüber nicht verbindlich" sein solle (SM, Nr. 63/64, 1944, S. 20 ff.).
809 - SM, Nr. 60/61, 1944, S. 24.
812 - Vgl. oben, Kapitel 3, Ziffer 5.
813 - Vgl. hier und im Folgenden Eiber, a.a.O., S. CVII.
814 - SM, Nr. 60/61, 1944, S. 24. Ähnlich Fritz Heine: "Der Durchschnitt [des englischen Volkes] ist so anständig und korrekt und verständnisvoll wie wohl kaum in einem anderen Lande." Brief Fritz Heines an Elisabeth Eisner vom 21. Juli 1942, abgedruckt in: Appelius, Stefan (Hg.): "Der Teufel hole Hitler". Briefe der sozialdemokratischen Emigration, Essen 2003, S.317.
815 - Vgl. oben, Kapitel 7, Ziffer 3.
816 - Vgl. Mehringer, a.a.O., Spalte 489.
817 - Vgl. Röder 1969, a.a.O., S. 246.
819 - SM, Nr. 100, 1947, S. 1.
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