Sozialistische Mitteilungen

"Erkämpft Eure Freiheit! Stürzt Hitler!"
Einleitung von Heiner Lindner

Kapitel 4:
Zum Selbstverständnis des Exilvorstandes und der "Sozialistischen Mitteilungen"

1. Selbstverständnis und Legitimation

Das Selbstverständnis des sozialdemokratischen Exilvorstands gründete sich auf dem Anspruch, Rechtsnachfolger der noch in Deutschland gewählten Parteileitung zu sein. Zugleich fühlte man sich als Vertreter der früheren sozialdemokratischen Wählerschaft und als Repräsentant des aktiven Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Man glaubte, mit diesem "anderen Deutschland" ein Land der Kultur, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit, der Freiheit, des Friedens und der Weltoffenheit zu vertreten. Die Mehrheit dieses Kulturvolkes, so meinte man, werde durch eine winzige kriminelle Minderheit unterdrückt.(231)

Die Legitimation des Exilvorstands stützte sich auf folgende Argumentationskette: Erstens: Eine Reichskonferenz der SPD in Berlin wählte am 26. April 1933 eine neue Parteileitung. Parteivorsitzende wurden Otto Wels und Hans Vogel. Zweitens: Auf seiner Sitzung vom 4. Mai 1933, also zwei Tage nach dem Schock der reichsweiten Zerschlagung der Gewerkschaften, beschloss der neue Parteivorstand, dass drei seiner 20 Mitglieder, nämlich der Parteivorsitzende Otto Wels, Vorwärts-Chefredakteur Friedrich Stampfer sowie Parteikassierer Siegmund Crummenerl, jenseits der deutschen Grenze eine Zentrale einrichten sollten. Am 5. Mai erweiterte eine Sekretariats-Konferenz diesen Kreis um Hans Vogel, den anderen der beiden SPD-Vorsitzenden, und den SAJ-Vorsitzenden, Erich Ollenhauer. Paul Hertz schloss sich der Gruppe an, da er aufgrund seiner jüdischen Herkunft besonders bedroht war.(232) Drittens: In seiner Sitzung vom 21. Mai 1933, an der insgesamt zehn Vorstandsmitglieder teilnahmen, beschloss dann der Parteivorstand im damals noch sicheren Saarbrücken, seinen Sitz nach Prag zu verlegen und die genannten sechs Vorstandsmitglieder mit dem Neuaufbau der Partei zu beauftragen.(233) In Prag stießen weitere Vorstandsmitglieder, die ins Exil gegangen waren, wie zum Beispiel Erich Rinner, hinzu. Mit anderen, wie beispielsweise Siegfried Aufhäuser(234), kam es wegen politischer Meinungsverschiedenheiten zum Bruch, wieder andere, wie Emil Stahl (Schweden) oder Marie Juchacz(235) (Saarland, Frankreich, USA), zogen andere Exilländer vor. Viertens: Als der Parteivorstand Anfang 1941 seine Arbeit - nach der Zwischenstation in Paris - von London aus fortführte, hatte der Exilvorstand nur noch zwei gewählte Mitglieder: Hans Vogel und Erich Ollenhauer. Zwei weitere Vorstandsmitglieder waren inzwischen kooptiert worden: Fritz Heine und Curt Geyer.

Obwohl sich die Erwartung der SOPADE auf eine Volkserhebung in Deutschland als trügerisch erwiesen hatte und obwohl der aktive sozialistische Widerstand im Reich 1937/38 fast völlig zum Erliegen gekommen war, war sich die Parteileitung sicher, dass Millionen von Landsleuten in Deutschland erbitterte Gegner des NS-Regimes waren. Die Existenz einer Opposition im Reich wurde bis zuletzt beschworen. Eine offene Auflehnung gegen das Regime sei nur durch die außenpolitischen Erfolge des Regimes und den Gestapoterror verhindert worden. Auch diese Einstellung entsprach dem Selbstverständnis des Exilvorstands, denn, wie Ollenhauer 1941 sagte, der Kurswert der Emigration bestimme sich durch die Haltung des deutschen Volkes und der deutschen Arbeiterschaft, als "Emigration an sich" sei man "nichts oder nur wenig".(236)

Seit seiner Ankunft in Prag zeichnete der Exilvorstand mit "Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE)". Während der gesamten Exilzeit sah er sich als "Treuhänder", der erst dann ins hintere Glied zurücktrete, wenn ein neuer Parteitag einen neuen Vorstand wähle. In einem Aufruf des Exilvorstandes zum Beginn des Zweiten Weltkriegs hieß es z.B.:

"[Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands] ist die letzte Körperschaft, die noch von der sozialdemokratischen Massenorganisation in Deutschland selbst gewählt worden ist. Er spricht für die Partei und darüber hinaus für jene Teile des deutschen Volkes, die den Krieg und die Diktatur verabscheuen und deren Ziel es ist, in Frieden und Freiheit zu leben"(237)

Diese zeitlich begrenzte Treuhänderschaft sollte sich aber nicht auf das Festhalten der Grundsätze der alten Partei beschränken, sondern auch die Übereinstimmung mit der Mitgliedschaft im Lande ermöglichen. Darüber hinaus wurde eine Rechtfertigungspflicht gegenüber der zukünftigen Partei konstatiert.(238) Auf einer Sitzung der Londoner Ortgruppe erklärte der Parteivorsitzende, Hans Vogel, der Parteivorstand im Ausland habe nie daran gedacht, "Partei zu spielen"; er betrachte sich nach wie vor als Treuhänder, der nach der Rückkehr für jede einzelne Handlung Rechenschaft abzulegen habe.(239)

* * *

Da die "Sozialistischen Mitteilungen" während ihrer gesamten Erscheinungszeit - von 1939 bis 1948 - vollinhaltlich die Linie des Parteivorstands vertraten, entsprach auch ihr Selbstverständnis nahtlos dem des Vorstands. Wilhelm Sander wurde zwar offiziell - auch vom Parteivorstand - als Herausgeber der SM bezeichnet, zutreffender - das wurde schon oben erläutert(240) - wäre es aber gewesen, der Parteivorstand hätte als Herausgeber fungiert, denn er bestimmte die Linie des Blatts und trug die Verantwortung. Als beispielsweise der Parteivorstand Ende Januar 1943 einen Arbeitsplan für 1943 festlegte, wurde unter Punkt 7 zum "Ausbau der ,Sozialistischen Mitteilungen'" beschlossen:

"Im Rahmen der durch die Papierknappheit gebotenen Beschränkungen möchten wir die ,Sozialistischen Mitteilungen' zu einem Informationsblatt über die Lage in Deutschland und über die Probleme und Diskussionen, die mit der Zukunft Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung zusammenhängen, ausgestalten. Dieser Ausbau erscheint uns auch wichtig im Hinblick auf den Kontakt mit der sozialdemokratischen Emigration in den Ländern außerhalb Englands, da die ,Sozialistischen Mitteilungen' seit der Einstellung des ,Neuen Vorwärts' das einzige periodisch erscheinende Publikationsorgan des Parteivorstandes darstellen."(241)

Trotzdem: Wilhelm Sander war während der Zeit von 1939 bis 1948 die unbestritten wichtigste Person der Exilzeitung, heute vergleichbar einem Chefredakteur oder "Verantwortlichen Redakteur". Ungeachtet innerer Gegensätze in der Londoner SPD oder auch in den Gruppen in Schweden und den USA, in denen es Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich einer Anerkennung des Mandats des Exilvorstands, bei der Frage einer Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Gruppen oder auch in Grundsatzfragen der Politik gab, vertrat Sander in allen Streitfragen die Position des Exilvorstands und - soweit dieser zerstritten war, wie z.B. beim Rückzug Geyers aus dem Parteivorstand - die Mehrheit des Exilvorstands.

2. Aufklärung - die selbstgestellte Aufgabe des Exilvorstandes

Der Exilvorstand und sein Organ SM sahen ihre Aufgabe vor allem darin, die Welt über NS-Deutschland aufzuklären. Aufklärungsmaterial - vielfach als Reclam-Klassikerausgaben oder als Werbebroschüren getarnt - wurde anfangs mit Hilfe eines rings um Deutschland errichteten Netzes von Grenzsekretariaten und Kurieren ins Reich befördert, um so die Verbindungen mit den Vertrauensleuten im Reich aufrechtzuerhalten. Mit einer Dokumentation über Konzentrationslager(242) und dem autobiografischen Bericht von Gerhart Seger über seine Erlebnisse im Konzentrationslager Oranienburg - beide Schriften erschienen schon 1934 - sollte das Gewissen der Welt ebenso wachgerüttelt werden wie mit den "Grünen Berichten"(243), die - von Erich Rinner redigiert - zwischen 1934 und 1940 erschienen und in denen von Vertrauensleuten im Reich gesammelte Informationen zusammengestellt wurden. Auch durch die "Grünen Berichte" sollte ein ungeschminktes Bild über die grausame Wirklichkeit im nationalsozialistischen Deutschland vermittelt werden.(244)

Doch von vielen ausländischen Regierungen wurden solche Aufklärungsbroschüren und Berichte nicht wahrgenommen, ja mitunter bewusst unter Verschluss gehalten, um die Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland nicht zu gefährden. "Appeasement-Politik" war angesagt und wurde erst beendet, als Hitler unter Bruch des Münchener Abkommens(245) im März 1939 die "Rest-Tschechoslowakei" besetzte. Erst danach waren der Welt die Augen über das verbrecherische NS-Regime geöffnet. Alle hätten über den wahren Charakter dieses Regimes früher Bescheid wissen können, ja müssen: nicht nur die demokratischen Parteien in Deutschland, sondern auch die ausländischen Regierungen, besonders die Vertragspartner Hitlers beim Münchener Abkommen, die Regierungen in Frankreich und England. Das "Angebot zur loyalen Mitarbeit", das die "Löbe-SPD" der NS-Regierung 1933 gemacht hatte, um die Parteiorganisation der SPD zu retten, liegt auf einer ähnlichen Ebene wie die "Appeasement-Poltik" der englischen und französischen Regierungen: In beiden Fällen liegt eine Fehleinschätzung des Charakters einer totalitären Diktatur vor, die man durch den Versuch der Zusammenarbeit meinte zähmen zu können.

Auch die SM widmeten sich im hohen Maße der Aufklärungsarbeit der SOPADE. Wenn sie z.B. eigene Deutschlandberichte, Berichte über das nationalsozialistische Unterdrückungsregime, Berichte über ihre eigene Parteigeschichte, englischsprachige Texte, ja sogar komplette Beilagen in Englisch veröffentlichten, hatten sie nicht immer nur ihre deutsche Leserschaft im Exil im Blick, sondern auch die Multiplikatoren in den Gastgeberländern.

3. Einstellung zum Nationalsozialismus und zu den alliierten Kriegszielen

Zwei Themen, nämlich die Einstellung zum Nationalsozialismus und zu den alliierten Kriegszielen, markierten Kernbestandteile sozialdemokratischen Selbstverständnisses. Und in der Radikalität der Ablehnung des Nationalsozialismus ließen sich der Exilvorstand und seine "Sozialistischen Mitteilungen" nicht übertreffen. Dafür kann man nicht nur zahlreiche Beispiele nennen, sondern das ganze sozialdemokratische Exil war von dieser festen Grundüberzeugung geprägt. Zu den Belegen zählen sowohl die bereits erwähnten Texte "Zerbrecht die Ketten!" sowie das "Prager Manifest"(246), die im "Neuen Vorwärts" vom 18. Juni 1933 bzw. 28. Januar 1934 veröffentlicht wurden, als auch zahlreiche Beiträge aus den "Sozialistischen Mitteilungen".

Anfang 1940 veröffentlichen die SM unter der Überschrift "Sieben Jahre Hitler" beispielsweise eine ausführliche Analyse des Aufstiegs und des verbrecherischen Charakters des nationalsozialistischen Regimes.(247) Noch eindrucksvoller sind zwei inhaltlich gleiche Beilagen, die eine in deutscher, die andere in englischer Sprache, die Ende 1941 erschienen: "Klar im Erkennen. Klar im Ziel. Der Kampf der deutschen Sozialdemokratie gegen das Hitler-Regime"(248) bzw. "Firm our View. Firm our Aim. The Struggle of German Social Democrats against Hitler"(249). Anhand zahlreicher Dokumente sollten die Leser der "Sozialistischen Mitteilungen" darüber informiert werden, wie stark die SPD - vor und nach 1933 - im Abwehrkampf gegen Hitler engagiert war und dass die SPD immer auf der richtigen Seite stand - eine Darstellung, die vor allem bei den englischen Gastgebern keinen Zweifel an der festen Haltung der deutschen Sozialdemokratie aufkommen lassen sollte. Allerdings war diese Beilage stark defensiv geprägt, so dass man dem Text immer wieder anmerkte, dass sich der Exilvorstand gezwungen fühlte, sein Verhalten vor und nach 1933 zu rechtfertigen. Die "Defensivstrategie" erreichte Anfang 1942 ihren Höhepunkt, als die "Sozialistischen Mitteilungen" fünf Seiten lang aus einem Aufsatz Hans Vogels im "International Socialist Forum" zitierten.(250) Vogel hatte in seinem Beitrag zusammengetragen, was man gegen die Beschuldigung einwenden konnte, die deutsche Sozialdemokratie habe vor und nach der "Machtergreifung" versagt. Er formulierte zum Beispiel Folgendes:

Das sind sehr beeindruckende Worte, die für die hohen menschlichen Qualitäten Vogels sprechen. Aber sie brachten die deutsche Sozialdemokratie im Exil gegenüber der gastgebenden Regierung und der britischen Schwesterpartei nicht aus ihrer schwachen Position heraus. Dazu fehlte es den deutschen Sozialdemokraten an Souveränität und den Gastgebern an der Bereitschaft, Gegnerschaft und Widerstandstätigkeit der Sozialdemokratischen Partei anzuerkennen. Nach Kriegsbeginn, besonders nach Hitlers Bombenangriffen auf England, machten die Engländer die deutschen Exilanten zunehmend für ihre eigene Situation mitverantwortlich. Ein großer Teil sozialdemokratischer Exilanten in Großbritannien wurde interniert. Zugleich wurde der gegen alles Deutsche eingestellte Vansittartismus herrschende Staatsdoktrin.

Ganz auf der Linie sozialdemokratischen Selbstverständnisses liegt es auch, dass der Exilvorstand schon während des Krieges mit der Zusammenstellung von Material zu einem "Weißbuch der deutschen Opposition gegen die Hitlerdiktatur" begann, in welchem er eine "erste Zusammenstellung ermordeter, hingerichteter oder zu Freiheitsstrafen verurteilter deutscher Gegner des Nationalsozialismus" sah. Eine Ankündigung der Broschüre, die dann 1946 erschien, erfolgte in einer Beilage der "Sozialistischen Mitteilungen"(254). Diese Beilage enthielt neben einem kompletten Inhaltsverzeichnis des Weißbuches eine Musterseite sowie einen Bestellzettel, mit dessen Hilfe man die Broschüre für 10 Schilling bei Wilhelm Sander bestellen konnte. Das Weißbuch, zu dem Hans Vogel ein Geleitwort geschrieben hatte, war zwar sehr unvollständig und beruhte nur auf Informationen, die den Londoner Exilanten während der NS-Zeit zugänglich waren, es unterstrich aber noch einmal, dass sich die Exilpartei als Partei der Gegner des Nationalsozialismus, der Verfolgten und Geschundenen, der in Lagern Eingesperrten und Ermordeten sah, die Widerstand geleistet hatte.

* * *

Hatte der Parteivorstand in den ersten Jahren des Exils - im Gegensatz zur realistischeren Position der Parteilinken - noch geglaubt, das NS-Regime werde an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen, wurden später das militärische Eingreifen der Alliierten und die deutsche Niederlage als unvermeidlich angesehen. Während des gesamten Krieges war der Parteivorstand einverstanden mit den Kriegszielen der Alliierten. Dagegen entstanden bei der Parteilinken Ressentiments wegen eventueller imperialistischer Ziele der alliierten Kriegspolitik.

Nach dem Eintritt Russlands in den Krieg erklärte der Parteivorstand sogar, mit "allen Freunden der Demokratie und der Freiheit der Sowjetunion [...] jede mögliche moralische und materielle Hilfe zu leisten." Das war ein Wendepunkt, denn die Beurteilung der Sowjetunion durch die SPD hatte sich bisher weitgehend in Stellungnahmen zum Verhältnis zur KPD erschöpft, im Kampf gegen den innenpolitischen Gegner und in der Abwehr von Volksfrontversuchen.(255)

Die Identifizierung des Parteivorstands mit den Kriegszielen der Alliierten kam auch in zahlreichen Artikeln, Aufrufen und Rundfunkbeiträgen, die in den "Sozialistischen Mitteilungen" veröffentlicht wurden, zum Ausdruck. Das begann mit dem Abdruck des Aufrufs "An das deutsche Volk"(256), den der Exilvorstand, damals noch in Paris, zu Hitlers Überfall auf Polen veröffentlicht hatte, und endete mit der Publizierung der "Erklärung der deutschen Sozialdemokratie" zum Ende des Zweiten Weltkriegs(257). Im März 1941 publizierten die SM sogar eine ganze Kette von Aufrufen des Exilvorstands sowie einen eigenen Bericht, in denen die eindeutige Haltung der Exilpartei zu den unterschiedlichen Etappen des Hitlerschen Eroberungsfeldzuges - Polen, Tschechoslowakei, Dänemark, Norwegen, Überfall im Westen - dokumentiert wurde.(258) Darüber hinaus veröffentlichten die SM Rundfunkvorträge Vogels, die von der BBC nach Deutschland gesendet wurden. Eine am 9. und 10. November 1941 viermal ausgestrahlte BBC-Ansprache Hans Vogels zum Jahrestag der Novemberrevolution zeigte z.B., dass der Exilvorstand, wenn er sich direkt an seine Hörer in Deutschland wendete, nicht anders argumentierte als bei Verlautbarungen im Gastland. Vogel:

"Nazi-Deutschland muss sterben, damit ein demokratisches und freiheitliches [...] Deutschland erstehen und die Welt in Frieden [...] leben kann."(259)

Auch ein "Appell an die deutschen Antifaschisten", den die "Union" im September 1943 beschlossen hatte, kam zur Veröffentlichung in den SM. Dieser Appell, der sowohl der BBC als auch der britischen Presse zugeleitet wurde, enthielt u.a. folgende Aufforderungen:

"Deutsche Antifaschisten! Zehn Jahre lang habt Ihr dem Terror der Hitlerdiktatur standgehalten. Ihr habt euch nicht gebeugt, weil Ihr wusstet, dass der Tag der Abrechnung und der Befreiung kommen würde. Jetzt bedürften Millionen verzweifelter und hoffnungsloser Menschen Eurer Führung in ihrem Wunsch nach Freiheit und Frieden.

Dem deutschen Nationalsozialismus muss das Schicksal des italienischen Faschismus bereitet werden. Handelt nach Eurem Ermessen. Ihr allein könnt die Möglichkeiten und Mittel des Kampfes abschätzen. Millionen Freiheitskämpfer, Sozialisten und Gewerkschafter in der ganzen freien Welt blicken auf Euch. Ihr Feind ist Euer Feind: Die Hitlerdiktatur und die deutsche Kriegsmaschine. Ihr Ziel ist Euer Ziel: Frieden und Freiheit. Die Zukunft eines freien, demokratischen und sozial fortschrittlichen Deutschlands hängt entscheidend vom Einsatz deutscher Antifaschisten ab."(260)

In diesem Text - wie auch in vielen anderen Stellungnahmen und Aufrufen - kommt aber nicht nur die befürwortende Haltung des Exilvorstands zu den alliierten Kriegszielen zum Ausdruck ("Tag der Abrechnung und der Befreiung"), sondern auch die Hoffnung, ja Gewissheit, dass die deutsche Arbeiterschaft gegen das NS-Regime eingestellt sei und sich kämpferisch dagegen einsetzen werde. Für den Exilvorstand und SM war sicher, dass "die Stunde sich nähert, da auch das deutsche Volk selbst seinen entscheidenden Teil zu diesem Befreiungswerk beiträgt"(261) (Hans Vogel in einer Rundfunkrede). Schon bei dem berühmten Aufruf zum Kriegsausbruch 1939 "An das deutsche Volk" hatte es geheißen:

"Erkämpft Eure Freiheit! Stürzt Hitler! Der Sturz des Systems verkürzt den Krieg, bewahrt Millionen vor dem Tode, rettet das Volk!"(262)

Dass sich der Exilvorstand in seiner Ablehnung des Nationalsozialismus und in seiner die Kriegsziele der Alliierten unterstützenden Politik nicht übertreffen lassen wollte, zeigte auch ein Protestbrief Hans Vogels in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der "Union", als am 2. September 1942 kein Vertreter der deutschen Sozialdemokratie als Redner zu einer von der Labour Party veranstalteten Protestkundgebung gegen den Naziterror in Polen und der Tschechoslowakei eingeladen war. Vogel fügte eine Resolution der "Union" bei, die - ebenso wie der Brief - an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.(263)

4. Das Vermächtnis des Parteivorsitzenden Hans Vogel

Auf die Nachkriegsgeschichte des sozialdemokratischen Exils wird vor allem weiter unten eingegangen werden(264), jedoch sei hier schon darauf hingewiesen, dass der Parteivorsitzende Hans Vogel durch Krankheit daran gehindert war, selbst an der ersten überregionalen sozialdemokratischen Parteikonferenz in Deutschland teilzunehmen, die vom 5. bis 6. Oktober 1945 in Wennigsen bei Hannover stattfinden sollte. Vogel starb am 6. Oktober in London. Er konnte deshalb seinen Treuhänderauftrag nicht mehr zur Vollendung bringen und vor einem Parteitag der Nachkriegs-SPD Rechenschaft über seine Tätigkeit im Exil ablegen, um dann, wenn ein neuer Parteivorstand gewählt war, ins hintere Glied zurückzutreten.(265) Als sich abgezeichnet hatte, dass Vogel nicht nach Wennigsen würde reisen können, richtete er am 23. September 1945 eine schriftliche Botschaft an die Teilnehmer der Parteikonferenz. Die Botschaft ist zugleich sein Vermächtnis. Sie wurde sowohl in der deutsch- als auch englischsprachigen Broschüre über die Parteikonferenz abgedruckt, und beide Broschüren waren Beilagen der "Sozialistischen Mitteilungen".(266) Zum Mandat des Exilvorstands schrieb Vogel:

"Wir haben den Versuch gemacht, in diesem Brief einen Beitrag zu Euren Diskussionen zu liefern. Wir haben es getan als Vertreter der Partei, die seit 1933 im Ausland versucht haben, für die Leistungen und die Auffassungen der Partei zu werben und für die Genossen im Lande zu sprechen, die durch die Diktatur mundtot gemacht worden waren. Unsere Mission geht mit der Rückkehr der Partei in die Legalität ihrem Ende entgegen. Wir hoffen, dass wir bald die Möglichkeit haben werden, unseren Genossen im Lande Rechenschaft abzulegen und ihnen unser Mandat zurückzugeben. Es ist unser dringlichster Wunsch, dann wieder in den Reihen der Parteigenossen in Deutschland mit Euch allen gemeinsam für die gemeinsame Sache wirken zu können."(267)




Fußnoten

231 - Vgl. Röder 1969, a.a.O., S. 111.

232 - Vgl. hier und im Folgenden: Mehringer, a.a.O., Spalten 477, 479 und 481.

233 - Zur Kontroverse mit dem "Löbe-Vorstand" vgl. oben, Kapitel 2, Ziffer 2.

234 - Siegfried Aufhäuser (1884 - 1969), SPD, Vorsitzender der AfA (1921 - 1933), MdR (1921 - 1933), Mitglied des Parteivorstands (1933; faktischer Ausschluss 1935, weil Aufhäuser Mitglied der Revolutionären Sozialisten Deutschlands, RSD, geworden war und ihm deshalb vom Parteivorstand Spaltungsabsichten vorgeworfen wurden), Exil: Frankreich, Tschechoslowakei (1933), Frankreich (1939), USA, Redakteurstätigkeit und weitere Funktionen in New York, nach seiner Rückkehr nach Deutschland (1951) Vorsitzender der DAG in Berlin (1952).

235 - Marie Juchacz (1879 - 1956), zentrale Frauensekretärin der SPD und Mitglied des Parteivorstands (1917 - 1933), MdR (1920- 1933), Wiederwahl in den Parteivorstand (1933), Exil: Saarland 1933), Frankreich (1935), USA (1941), nach ihrer Rückkehr nach Deutschland (1949) Tätigkeiten in AWO und SPD-Frauenarbeit.

236 - Zitiert nach: Röder 1969, a.a.O., S. 112.

237 - SM vom 3. September 1939, Beilage, S. 1.

238 - Vgl. Röder 1969, a.a.O., S. 30.

239 - Ebd., S. 35.

240 - Vgl. oben, Vorbemerkung.

241 - Abgedruckt in: Eiber, a.a.O., S. 662.

242 - Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt. Ein Buch der Greuel. Die Opfer klagen an. Dachau - Brandenburg - Papenburg - Königstein - Lichtenburg - Colditz - Sachsenburg - Moringen - Hohnstein - Reichenbach - Sonnenburg (zusätzlich auf dem Außentitel: "Adolf Hitler. Deine Opfer klagen an!") [herausgegeben von Irene Herzfeld], Probleme des Sozialismus, Nr. 9: Konzentrationslager, Karlsbad 1934.

243 - Deutschland-Berichte der SOPADE (1934-1936) bzw. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE) (1937-1940), in sieben Bänden wiederveröffentlicht, Frankfurt am Main 1980.

244 - Zum Vorstehenden vgl. Potthoff/Miller, a.a.O., S. 158 f.

245 - Am 29. September 1938 zwischen Hitler (Deutschland), Chamberlain (Großbritannien), Daladier (Frankreich) und Mussolini (Italien) in München geschlossener Vertrag zur Lösung der deutsch-tschechoslowakischen Krise um das Sudetenland. Die Tschechoslowakei, die an den Verhandlungen nicht teilnahm und das Abkommen unter Druck annahm, musste deutsch besiedelte Gebiete Böhmens und Mährens an Hitler-Deutschland abtreten.

246 - Vgl. oben, Kapitel 2, Ziffern 3 bzw. 5.

247 - SM, No. 3, 1940, S. 3 ff.

248 - SM, Nr. 32, 1941, Beilage 1.

249 - SM, Nr. 32, 1941, Beilage 2.

250 - SM, Nr. 34, 1942, S. 15 ff.

251 - Gescheiterter Umsturzversuch (13. bis 17. März 1920) von rechtsradikalen Politikern um Wolfgang Kapp und unzufriedenen Teilen der deutschen Armee gegen die Weimarer Reichsregierung unter Reichskanzler Gustav Bauer (SPD). Wolfgang Kapp (1858-1922), Alldeutscher Verband, Deutsche Vaterlandspartei, Generallandschaftsdirektor in Ostpreußen (1906-1920), verantwortlich für den nach ihm benannten Putsch im März 1920.

252 - Franz von Papen (1879-1969), Zentrum, Mitglied des preußischen Landtags (1920-1928, 1930-1932), Reichskanzler (Mai - Dezember 1932), Vizekanzler (1933-1934).

253 - Ebd., S. 19.

254 - SM, Nr. 85/86, 1946, Beilage.

255 - Vgl. Röder 1969, a.a.O., S. 105.

256 - SM vom 3. September 1939, Beilage.

257 - SM, Nr. 73/74, 1945, S. 1 ff.

258 - SM, Nr. 24, 1941, S. 9 f.

259 - SM, Nr. 32, 1941, S. 7 f., hier S. 8.

260 - SM, Nr. 53/54, 1943, S. 10.

261 - SM, Nr. 33, 191942, S. 5 f.

262 - SM vom 3. September 1939, Beilage, S. 1. Dies ist auch die Fundstelle für den Titel dieser Einleitung.

263 - SM, Nr. 41, 1942, S. 10 f. (Protestbrief), und SM, Nr. 39, 1942, S. 11 (Resolution).

264 - Vgl. Kapitel 7.

265 - Siehe oben, Ziffer 1 dieses Kapitels.

266 - SM, Nr. 79/80, 1945, Beilage 1: "Die Wiedergeburt der deutschen Sozialdemokratie", S. 16 ff., und Beilage 2: "Rebirth of German Social Democracy", S. 15 ff.

267 - Ebd., Beilage 1, S. 20, bzw. Beilage 2, S. 18.





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