Sozialistische Mitteilungen

"Erkämpft Eure Freiheit! Stürzt Hitler!"
Einleitung von Heiner Lindner

Kapitel 2
Zur Vorgeschichte des sozialdemokratischen Exils in Großbritannien

1. Ausgangspunkt: der 30. Januar 1933

In der SPD überwogen Skepsis und Resignation, als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht "übernommen" hatten. Sofort nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 setzte die Regierung durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg(39) wichtige Grundrechte außer Kraft und erhielt umfassende Sondervollmachten. Die Kommunistische Partei wurde mit Gewaltmaßnahmen und Massenverhaftungen ihrer Funktionäre unterdrückt und verfolgt, die Presse der Sozialdemokratie mit Verboten überzogen, Funktionäre misshandelt und verhaftet. Schon im März 1933 entstand das erste Konzentrationslager (Dachau). Am 23. März ließ sich Hitler vom Rumpf-Reichstag zum Ausbau seines totalitären Herrschaftssystems ermächtigen. Nur die SPD-Fraktion lehnte das "Ermächtigungsgesetz" ab, und Otto Wels hielt im Auftrage der Fraktion seine berühmt gewordene und mutige Rede.


Abbildung 2: Otto Wels 1932

Abbildung 2: Otto Wels 1932

"Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.", rief er den johlenden Mitgliedern der Regierungsfraktionen und von draußen dröhnenden Nazi-Chören entgegen; und wenig später: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht." Aber auch diese Sternstunde sozialdemokratischer Entschlossenheit und Kampfbereitschaft änderte nichts daran, dass sich die nationalsozialistische Gewaltherrschaft weiter hemmungslos entfalten konnte. Weichen zu einem letzten verzweifelten Aufbäumen wurden von der Führung der SPD auch jetzt nicht gestellt.(40)

2. Prag und der Konflikt des Exilvorstands der SPD (SOPADE) mit dem "Löbe-Vorstand"

Schon in den ersten Wochen der nationalsozialistischen Herrschaft emigrierten wichtige Parteifunktionäre der SPD.(41) Otto Braun(42), Albert Grzesinski(43), Philipp Scheidemann(44), Wilhelm Dittmann(45), Artur Crispien(46), Rudolf Breitscheid(47) und Rudolf Hilferding(48) hatten das Land bereits verlassen, als der Parteivorstand drei seiner Mitglieder - Otto Wels, Siegmund Crummenerl(49) und Friedrich Stampfer - in das unter französischer Besatzung stehende Saarbrücken schickte. Wenige Tage später folgten ihnen Hans Vogel(50), Erich Ollenhauer und Paul Hertz(51). Als am 17. Mai 1933 die von 120 auf 65 Abgeordnete dezimierte Restfraktion der SPD einer von den Nationalsozialisten eingebrachten "Friedensresolution" zustimmte, kam es zu einem ersten Konflikt mit den Vorstandsmitgliedern im Exil, die sich entschieden dafür eingesetzt hatten, dass die Rumpffraktion der Reichstagssitzung fernblieb. Aber die Reichstagsfraktion ließ sich nicht überzeugen und stimmte für die - vom Wortlaut her unbedenkliche - Resolution. Wenngleich die Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion vor der Abstimmung ganz unverhohlen von der nationalsozialistischen Regierung mit Mord und Totschlag bedroht worden waren, man ihnen also für ihr Abstimmungsverhalten Verständnis entgegenbringen muss, war die Abstimmung für sie kein Ruhmesblatt. Die Abstimmung "warf einen Schatten auf den moralischen Kredit, [der] durch die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes" entstanden war.(52)

Am 21. Mai 1933 beschloss der Parteivorstand der SPD auf einer Sitzung im damals noch sicheren Saarbrücken, an der insgesamt zehn Parteivorstandsmitglieder teilnahmen(53), seinen Sitz nach Prag zu verlegen, um die illegale Arbeit zu verstärken und - nach etwa acht bis zehn Tagen - einen Aufruf an die Partei zu veröffentlichen.(54) Die Entscheidung, nach Prag überzusiedeln, entsprach einem Grundsatzbeschluss, den der Parteivorstand bereits im März gefasst hatte: "Im Fall der Lahmlegung der politischen Arbeit oder im Fall eines nationalsozialistischen Zugriffs auf die Einrichtungen der Partei sollte der Vorstand seinen Sitz ins Ausland verlegen."(55) Noch am 21. Mai 1933 konstituierte sich der Exilvorstand als SOPADE in Prag.

Doch schon bald stellte sich heraus, dass viele wichtige Parteifunktionäre mit der in Saarbrücken beschlossenen Linie des Parteivorstands nicht einverstanden waren. Sie hielten die Umstellung auf illegale Arbeit für verfrüht.

Hauptgegner des Saarbrücker Beschlusses war Paul Löbe. Am 24. Mai schrieb er an den Prager Exilvorstand: "So geht es [...] nicht. Ich warne [...] aufs eindringlichste [...]."(56)

Am 28. Mai tagte daraufhin der Prager Vorstand und fällte einige Beschlüsse, die auch die Berliner Vorstandsmitglieder akzeptieren konnten. Insbesondere verpflichteten sich die Prager, eine ständige enge Verbindung zu den in Deutschland verbleibenden Vorstandsmitgliedern und den Vertrauensleuten der Bezirke herzustellen.

3. Eskalation des Streits und Entscheidung zu Gunsten des Exilvorstandes

Als sich danach aber der Prager Vorstand ermächtigt sah, der Sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI) und deren Mitgliedsparteien offiziell mitzuteilen, der Parteivorstand habe seinen Sitz nach Prag verlegt, kam es zum Bruch: In einer öffentlichen Gegenerklärung beschlossen die im Reich verbliebenen Vorstandsmitglieder, ihnen sei von einer Verlegung des Sitzes des Parteivorstands nach Prag nichts bekannt. Intern verständigten sie sich darauf, die "Prager" müssten sofort nach Berlin zurückkommen, denn die politische und organisatorische Führung der SPD bleibe in Deutschland.(57)

Der Parteivorsitzende, Otto Wels, der zum Prager Exilvorstand gehörte, wollte jedoch nicht nachgeben. Am 9. Juni erklärte er, der Exilvorstand könne die Nachricht über seine Sitzverlegung nicht dementieren, denn dann entstehe "der Eindruck vom völligen Ende der Sozialdemokratie."(58) Außerdem brauche die Sozialdemokratie die Hilfe der SAI.

Gegenposition bezogen fast alle Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, als sie am 10. Juni zu einer Sitzung zusammenkamen:(59) Die Bewegung des Faschismus könne nie von kleinen Gruppen vom Ausland her erschüttert werden, die Arbeit im Inland sei zur Stunde wichtiger als die im Ausland (Max Westphal(60)); die Geschichte habe bewiesen, dass Emigrationspolitik nur selten von entscheidender Wirkung gegen ein absolutistisches oder faschistisches Regime gewesen sei, und die Sozialdemokratie diene im Inland ihrer Sache mehr (Paul Löbe); die Flucht führender Genossen ins Ausland habe bei den Arbeitern Empörung ausgelöst (Franz Künstler(61)); man müsse einen klaren Trennungsstrich zu der Politik der Prager Genossen ziehen (Wilhelm Hoegner(62)); und Emigrationspolitik sei eine "Politik der Feigheit" (Georg Schmidt(63)). Als Einziger sah Kurt Schumacher die Gefahr einer Atomisierung der Partei und verteidigte Wels, Stampfer und Crummenerl, die schließlich im Auftrage der Partei ins Ausland gegangen seien.

Am Ende der Sitzung wurde beschlossen: "Der Sitz des Parteivorstandes ist Deutschland. Sollte sich mit den im Auslande weilenden Mitgliedern des Parteivorstandes eine Einigung nicht erzielen lassen, so haben die verantwortlichen Instanzen der Partei und der Fraktion rasch zusammenzutreten und die erforderlichen Maßnahmen zu treffen."(64)

Doch war es für eine solche Einigung zu spät. Versuche einer Vermittlung scheiterten ebenso wie der Versuch, unter Beteiligung der "Prager" Hans Vogel und Erich Ollenhauer am 18. Juni 1933 in Berlin eine Sitzung des Parteivorstandes einzuberufen. Löbe hielt eine solche Sitzung für sinnlos und verweigerte die Teilnahme, Vogel und Ollenhauer sagten daraufhin ihre Reise nach Berlin ab. Der Versuch eines Brückenschlags zwischen Berlin und Prag war gescheitert.(65)

Während die einen glaubten, nur im Reich könne die Partei überleben und die SPD dürfe ihre eigenen Mitglieder nicht im Stich lassen, waren die anderen sicher, dass eine unabhängige Parteiführung und Widerstandstätigkeiten nur vom Ausland aus möglich seien. Man wollte deshalb von der Tschechoslowakischen Republik aus Aufklärungsmaterial ins Reich schleusen und die Kontakte zur Mitgliedschaft aufrechterhalten, indem zum Beispiel der "Vorwärts" wiederbelebt und illegal im Reich verteilt werden sollte. Und das Ausland sollte - von Prag aus - über den wahren Charakter des nationalsozialistischen Systems informiert werden.

Am 18. Juni 1933 erschien in Karlsbad die erste Ausgabe des "Neuen Vorwärts". Aufmacher war ein Aufruf des Exilvorstandes mit der Schlagzeile: "Zerbrecht die Ketten! Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein".

Abbildung 3: "Zerbrecht die Ketten!". Titelseite des "Neuen Vorwärts" vom 18. Juni 1933

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Abbildung 3: "Zerbrecht die Ketten!". Titelseite des "Neuen Vorwärts" vom 18. Juni 1933

Es war die schärfste Kampfansage, die Sozialdemokraten bisher gegen das Hitler-Regime gerichtet hatten:(66)

Brutaler Terror verhindert in Deutschland jede politische Tätigkeit. Wir erheben uns gegen die Tyrannei und rufen zum Kampf für die Freiheit. [...]

Der Faschismus trat die Herrschaft an. Er schreckte vor keinem Verbrechen zurück, um sie zu halten. [...]

Die Regierung Hitler-Göring(67) [...] verbot die Arbeiterpresse, vernichtete die Wahlfreiheit , sie bewaffnete die braunen Horden und stattete sie mit Polizeigewalt aus. Die [...] Verfassung wurde als ein bloßer Fetzen Papier behandelt und in hundert Stücke zerrissen. [...]

Der Welt die Wahrheit zu sagen und dieser Wahrheit auch den Weg nach Deutschland zu öffnen, ist unsere Aufgabe. [...]

Wir erklären, dass wir die Verantwortung für unser Tun allein tragen und dass keine Organisation oder Körperschaft in Deutschland dafür mit verantwortlich gemacht werden kann. Wir stellen unser Verhältnis zu unseren Genossen in Deutschland auf den Boden vollkommenster Freiwilligkeit. Niemand ist durch Parteidisziplin verpflichtet, sich zu uns zu bekennen. [...]

Auf neuen Wegen zum alten sozialistischen Ziel! Zerbrecht die Ketten! Vorwärts!"(68)

Der Welt sollten also die Augen über das nationalsozialistische Deutschland geöffnet und die im Reich verbliebenen Sozialdemokraten aus der Schusslinie gezogen werden - das war die Botschaft des Exilvorstandes. Gleichwohl verhärtete sich das Verhältnis zwischen daheim Gebliebenen und Prager Genossen weiter.

Am 19. Juni 1933 fand in Berlin eine Reichskonferenz der "Löbe-SPD" statt, zu der nicht nur die verbliebenen Parteivorstandsmitglieder, sondern auch die Vorsitzenden der Reichstags- und der preußischen Landtagsfraktion sowie die Bezirkssekretäre eingeladen waren. In einer anonymen Aufzeichnung über diese Reichskonferenz heißt es, dass die Stimmung gegen die ins Exil gegangenen Parteimitglieder "sehr gereizt" gewesen sei. Löbe brachte das "Angebot zur loyalen Mitarbeit" an die NS-Regierung in Erinnerung, das schon Otto Wels in seiner Rede zur Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 unterbreitet hatte. Von dieser Linie sei der Parteivorstand in Prag abgewichen, wohingegen die in Deutschland verbliebenen Reichstagsmitglieder bei der Reichstagsdebatte am 17. Mai mit den Nationalsozialisten für die Forderung nach Gleichberechtigung Deutschlands gestimmt hätten. Diese Linie zu verlassen, bedeute für die Partei einfach Selbstmord. So bleibe nichts anderes übrig, als "zwischen den Sozialdemokraten im Inland und dem Parteivorstand im Ausland einen Trennungsstrich zu ziehen."(69)

Der Exil-Parteivorstand wurde für abgesetzt erklärt und anschließend ein rein "arisches" Führungsgremium ("Direktorium") gewählt. Es bestand aus Paul Löbe, Max Westphal, Johannes Stelling(70), Franz Künstler, Paul Szillat(71) und - als einzigem Gegner des Löbe-Kurses - Erich Rinner(72). In einer nach der Wahl dieses Direktoriums veröffentlichten Verlautbarung hieß es: "Deutsche Parteigenossen, die ins Ausland gegangen sind, können keinerlei Erklärungen für die Partei abgeben. Für alle ihre Äußerungen lehnt die Partei jede Verantwortung ausdrücklich ab."(73)

Aber auch diese Verlautbarung nützte nichts mehr: Drei Tage später, am 22. Juni 1933, wurde ein Erlass der Reichsregierung veröffentlicht, in welchem ein politisches Betätigungsverbot für die SPD verhängt wurde: Sämtliche Mitglieder der SPD in Landes- und Gemeindeparlamenten wurden von der Ausübung ihrer Mandate ausgeschlossen. Versammlungen sowie die Herausgabe sozialdemokratischer Zeitungen und Zeitschriften wurden ebenso untersagt wie jedwede propagandistische Betätigung für die politischen Ziele der SPD. Eine Zugehörigkeit von Beamten, Angestellten und Arbeitern, "die aus öffentlichen Mitteln Gehalt, Lohn oder Ruhegeld beziehen", zur SPD wurde für "unvereinbar" erklärt. Vier der sechs neu gewählten Direktoriumsmitglieder - Löbe, Westphal, Künstler und Szillat - wurden noch am selben Tag festgenommen - ebenso wie zahlreiche Parteifunktionäre, Reichstags- und Landtagsabgeordnete. Johannes Stelling, der frühere Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin, wurde von SA-Leuten auf bestialische Weise umgebracht. Das sechste Mitglied des "Löbe-Vorstands", Erich Rinner, entkam nach Prag.(74)


Abbildung 4: Paul Löbe vor seiner Einlieferung ins Konzentrationslager 1933

Abbildung 4: Paul Löbe vor seiner Einlieferung ins Konzentrationslager 1933

Das offizielle Verbot der SPD folgte am 14. Juli 1933. Der Konflikt zwischen Prager und Berliner Parteivorstand war auf makabre Art entschieden. Fortan gab es nur noch den Exilvorstand. Hatten sich die Mitglieder des Prager Parteivorstands noch am 3. Juli 1933 als "die noch in Freiheit befindlichen Mitglieder des Parteivorstandes" bezeichnet, so unterzeichneten sie am 30. Juli 1933 einen Aufruf bereits als "Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE)".

4. Emigranten und daheim Gebliebene - eine kritische Würdigung

Die im Reich verbliebenen SPD-Funktionäre und Vorstandsmitglieder hatten gewiss nicht den leichteren Weg als die Exilanten gewählt. Objektiv unterlagen sie der ständigen Gefahr, schikaniert, mit Berufsverbot belegt, verhaftet oder gar von SA-Chargen misshandelt oder umgebracht zu werden. Sie standen ebenso treu zu ihrer Partei wie diejenigen Mitglieder, die ins Exil gegangen waren. Viele von ihnen - wie Paul Löbe - arbeiteten auch nach dem Krieg engagiert an der Wiedergründung der SPD in Deutschland mit.(75) Doch unterlagen sie bei der Beurteilung des nationalsozialistischen Systems - zumindest 1933 - einer schweren Fehleinschätzung, als sie meinten, man könne das nationalsozialistische Regime durch loyale Mitarbeit daran hindern, die SPD auszulöschen und ihre Mitglieder und Funktionäre zu verfolgen. Der von vielen Sozialdemokraten - auch von Wels - benutzte Vergleich des nationalsozialistischen Regimes mit dem Herrschaftssystem unter dem "Sozialistengesetz"(76) zeigt, dass sich viele Sozialdemokraten die Ungeheuerlichkeiten des totalitären nationalsozialistischen Regimes kaum ausmalen konnten. Sie hofften, der Nationalsozialismus werde eine kurzfristige Periode bleiben. Deshalb sollte die Parteiorganisation intakt gehalten werden.(77)

Alles dies waren ehrenhafte Motive, so dass man der Haltung der freiwillig im Reich gebliebenen Sozialdemokraten Respekt zollen kann, auch wenn die Geschichte ihnen Unrecht gegeben hat.

Aber auch die Haltung der Emigranten verdient Respekt. In der Nachkriegszeit ist ihnen vielfach Unrecht getan worden. Willy Brandt(78) zum Beispiel wurde wegen seines Exils von dem CSU-Politiker Franz Josef Strauß(79) verunglimpft, als dieser sagte: "Eines wird man doch aber Herrn Brandt fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht?"(80) Schmähschriften gegen Brandt, verfälschte Wiedergaben seiner Texte aus der Exilzeit und Wandschmierereien à la "Willy Brandt - an die Wand" waren in den sechziger und siebziger Jahren oft zu hören oder zu lesen.

In das Wort "Emigration" mischte sich lange Zeit der unterschwellige Vorwurf, man dürfe - zumal als gewählter Politiker - sein Land doch nicht verlassen, wenn einem persönlich Gefahr drohe. Wer so argumentiert, der verharmlost die NS-Diktatur. Niemand von denen, die 1933 oder später Deutschland verließen, ging leichten Herzens außer Land. Emigranten mussten Hab und Gut, Freunde und Verwandte verlassen, um in einem fremden Land, dessen Sprache sie mitunter noch nicht einmal beherrschten, eine neue Existenz aufzubauen. Ohne Geld, ohne Ausweispapiere mussten manche von ihnen buchstäblich über Nacht fliehen. Es begann der Kleinkrieg um das tägliche Brot, um eine Aufenthaltsgenehmigung oder um ein bescheidenes Quartier. "Fast allen Emigranten, gleichgültig, ob sie wegen ihrer politischen Exponierung oder ihrer jüdischen Herkunft - nicht selten traf beides zusammen - das Land verließen, war gemeinsam, dass sie ihre Existenz, ihre Freiheit und ihr Leben durch die Diktatur bedroht sahen; und nicht wenige entschlossen sich erst zur Flucht, nachdem sie Bekanntschaft mit dem Terror, den Konzentrationslagern und den Gefängnissen des Regimes gemacht hatten."(81) Da sind auch die Gleichsetzung von "Flucht" und "Emigration" und der Ausdruck "kopflose Flucht"(82), die der Widerstandskämpfer Julius Leber(83) für seine ins Exil gegangenen Genossinnen und Genossen verwendete, zu denen er einen scharfen Trennungsstrich gezogen wissen wollte, völlig fehl am Platz.

Der Bruch zwischen Exilvorstand und "Löbe-Vorstand", der Bruch also zwischen Menschen, die noch vor Monaten vertrauensvoll und freundschaftlich zusammengearbeitet hatten, ist weniger durch unterschiedliche Anschauungen als vielmehr durch unterschiedliche Perspektiven erklärbar: Die einen lebten in Freiheit, die anderen in Unfreiheit. Versuche, sich gegenseitig zu überzeugen, blieben nicht nur ergebnislos, sondern verfestigten den Konflikt, und das ungewollt. Kompetenzfragen rückten in den Vordergrund, und beide Flügel erhoben Anspruch auf Alleinvertretung. Dabei spielten das Überlegenheitsgefühl der Daheimgebliebenen, die eigene Mitgliedschaft nicht im Stich gelassen zu haben, und ihre Abneigung gegen Emigranten, die doch aus ihrer Sicht das sinkende Schiff als erste und nicht - wie gute Kapitäne - als letzte verlassen hatten, eine stark gefühlsbetonte Rolle.(84)

5. Der Linksruck der SOPADE und das "Prager Manifest"

In den ersten Monaten des Prager Exils vollzog die SOPADE einen Linksruck. Sie näherte sich dem revolutionären Marxismus an, und die reformistische Politik der Weimarer SPD wurde für die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung verantwortlich gemacht.(85) Ihren Höhepunkt erreichten die Linkstendenzen in der SOPADE mit der Veröffentlichung des "Prager Manifests"(86), das am 28. Januar 1934 u.a. im "Neuen Vorwärts" veröffentlicht wurde. Im Hinblick auf den Kampf gegen den Nationalsozialismus sprach es sich gegen Reformismus und Legalitätsfixierung aus.(87) "Das Ziel der Eroberung der Staatsmacht [...] zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft" war jetzt die wichtigste Forderung der Exilpartei, wobei sie sich "zum Sturz der Diktatur aller diesem Zweck dienenden Mittel" bedienen wollte.(88) Auch eine Einheitsfront mit Kommunisten und oppositionellen Linksgruppen wurde nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern die Einigung der Arbeiterklasse in einer neuen revolutionären Partei wurde "zum zentralen Programmpunkt"(89).

Abbildung 5: "Prager Manifest". Titelseite des "Neuen Vorwärts" vom 28. Januar 1934

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Abbildung 5: "Prager Manifest". Titelseite des "Neuen Vorwärts" vom 28. Januar 1934

Doch schon wenige Monate später zeigte sich, dass das revolutionäre Pathos des "Prager Manifests" nicht mit der Konzeption der SOPADE übereinstimmte.(90) Nicht nur, dass das Manifest kein Aktionsprogramm war, das den Widerstandskämpfern im In- und Ausland hätte Handlungsanweisungen geben können, es unterlag auch der Illusion, dass sich unter der NS-Herrschaft die Krise des kapitalistischen Systems verschärfen werde und sich deshalb positive Bedingungen für den revolutionären Kampf einstellen würden, dessen Erfolg zudem von der erwarteten Isolierung Deutschlands durch die Westmächte abhing.(91) Aber die Wirklichkeit sah anders aus: Hitlers Herrschaft verfestigte sich, und die Hoffnungen der SOPADE auf einen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft erfüllten sich nicht. Zugleich nahmen England und Frankreich nicht nur Hitlers Aufrüstungspolitik hin, sondern begannen ihre "Appeasementpolitik", weil sie ihre Beziehungen zum nationalsozialistischen Staat nicht gefährden wollten und weil sie - ebenso wie die SOPADE - den totalitären Charakter des Systems unterschätzten. "So blieb die Prager Erklärung im wesentlichen Dokument eines kurzfristigen [...] revolutionären Willens. Sie wurde zwar in der Folgezeit nicht widerrufen, hatte aber keine handlungsleitende Bedeutung. [...] Nicht das Drängen in eine Einheits- und Volksfront war für den demokratischen Sozialismus der Exiljahre nach 1935 charakteristisch, sondern eine intensive Neubesinnung auf die liberaldemokratischen Freiheits- und Humanitätsideen des Westens, deren Realisierung und [...] Weiterentwicklung zur Aufgabe der künftigen freien Arbeiterbewegung erklärt wurden."(92) So wurde denn auch schon bald entschieden für die Prinzipien einer parlamentarischen Demokratie geworben.(93)

6. Der Umzug des Exilvorstands nach Paris und seine Emigration nach Großbritannien

Im Frühjahr 1938 musste der Exilvorstand der SPD Prag verlassen. Er nahm seinen neuen Sitz in Paris, wo Hans Vogel nach Otto Wels' Tod am 16. Oktober 1939 den Parteivorsitz übernahm. Ende 1939 reiste Ollenhauer zu Gesprächen mit der Labour Party nach London, um dort einen SPD-Stützpunkt vorzubereiten. Nachdem Hitler im Mai 1940 seinen Feldzug gegen Frankreich begonnen hatte, wurde die Lage des Parteivorstands auch in Paris riskant. Im Frühjahr 1940 wurden sowohl Vogel als auch Ollenhauer in Paris interniert, jedoch auf Intervention von Léon Blum(94) schon bald wieder freigelassen. Sie flohen nach Südfrankreich und von dort durch Spanien weiter nach Lissabon, um von hier aus die von Rudolf Katz(95) vorbereitete Schifffahrt in die USA anzutreten.

Doch auf Grund einer missverständlichen Mitteilung der GLD entschloss sich der Exilvorstand im Januar 1941, nach London zu emigrieren, obwohl Visa und Schiffskarten für die USA-Reise bereits vorlagen.(96) Katz hatte an Vogel telegraphiert, dass er und Ollenhauer nach London gehen sollten, da sie ihre politische Arbeit in New York nicht fortsetzen könnten.(97) Ausschlaggebend für die Entscheidung, nach London zu gehen, war aber, dass in London mit Hilfe der Labour Party schon vor Kriegsbeginn Grundlagen für ein künftiges Zentrum der Exil-SPD geschaffen worden waren. Nach Vogels Meinung gab es dort bessere Arbeitsmöglichkeiten als in New York.(98) Er flog mit seiner Frau am 28. Dezember 1940 nach London, Ollenhauer und seine Familie folgten ihm am 13. Januar 1941(99), Heine und Geyer(100) traten ihre Schiffsreise am 31. Mai 1941 an. Noch ehe Heine in London eintraf, hatte Vogel ihm auf Grund seiner ersten Erfahrungen in London brieflich mitgeteilt, dass derjenige, der mit großem Tatendrang nach England komme, sich zunächst in Geduld zu fassen habe - ein wahrhaft prophetisches Wort, wie sich schon bald zeigen sollte.(101)

Die Familien Vogel und Ollenhauer bezogen in London eine Doppelhaushälfte in der Fernside Avenue, zugleich Sitz des Exilvorstandes und der "Union". Wilhelm Sander hatte ebenfalls ein Haus in dieser Straße bezogen. Und auch Fritz Heine nahm (bis 1942) seinen Wohnsitz in der Nähe, nämlich in Mill Hill, dem organisatorischen Zentrum der sozialdemokratischen Emigration.(102) "33 Fernside Avenue" war auch Anschrift der SM, die in das Impressum aller Hefte aufgenommen wurde.


Abbildung 6: Fernside Avenue 3: Wohnhaus der Familien Vogel und Ollenhauer in London, zugleich Sitz des Exilparteivorstandes (Nachkriegsaufnahme)

Abbildung 6: Fernside Avenue 3: Wohnhaus der Familien Vogel und Ollenhauer in London, zugleich Sitz des Exilparteivorstandes (Nachkriegsaufnahme)

Als der Exilvorstand Anfang 1941 seine Arbeit in London aufnahm, lebten etwa 160 sozialdemokratische Flüchtlinge in Großbritannien, davon zirka 60 in London.(103) Als Anfang Juli 1941 ein Fragebogen an die Mitglieder verschickt wurde, konnten 84 Mitglieder als Beitragszahler registriert werden.(104) Die Zahl der Mitglieder stieg bis 1944 auf mehr als 100 an, darunter 11, die erst im Exil der SPD beigetreten waren. (105) Viele Mitglieder der Londoner Ortsgruppe standen dem Exilvorstand von Anfang an kritisch gegenüber. Sie wollten weder die Treuhänderschaft anerkennen, noch sich mit "Prager Methoden" vom Exilvorstand regieren lassen. Nur mit Hilfe der Labour Party gelang es damals dem Parteivorstand, seinen Vertretungsanspruch durchzusetzen und zum Beispiel Wilhelm Sander als offiziellen Vertreter der sozialdemokratischen Flüchtlinge in die Gremien der Hilfsorganisationen zu entsenden.(106) Die Lage entspannte sich ein wenig, nachdem Mitte 1942 unter dem Vorsitz von Wilhelm Sander ein Ortgruppenausschuss als Verbindungsorgan zwischen Parteivorstand und Ortsgruppe gebildet worden war, dem auch drei Mitglieder der Opposition angehörten und in den je ein Vorstandmitglied und ein Gewerkschaftsvertreter ohne Stimmrecht delegiert wurden.




Fußnoten

39 - Paul von Hindenburg und Beneckendorff (1847-1934), Generalstabschef (1916-1918), Reichspräsident (1925-1934). Er gab, wenn auch zögernd, im Januar 1933 den Weg zur Bildung der Regierung Hitler frei.

40 - Zum Vorstehenden vgl. Potthoff, Heinrich/Miller, Susanne: Kleine Geschichte der SPD. 1848-2002, Bonn 2002, S. 144, sowie Schneider, a.a.O., S. 34 ff.

41 - Fast alle im Folgenden genannten Sozialdemokraten, die in die Emigration gingen, wurden mit ihren Familienmitgliedern in NS- Deutschland ausgebürgert, auch wenn das Ausbürgerungsdatum in den folgenden Kurzbiographien nicht genannt wird. In kaum einem Fall wurde ihnen eine englische, amerikanische etc. Staatsbürgerschaft angeboten, und nur in wenigen Fällen wurde eine solche Staatsbürgerschaft von ihnen angestrebt. Obwohl also fast alle sozialdemokratischen Emigranten während der Zeit ihres Exils staatenlos waren, fühlten sie sich immer, auch noch nach zehn Jahren, verpflichtet, sich für Deutschland einzusetzen.

42 - Otto Braun (1872-1955), SPD, preußischer Ministerpräsident (1920-1921, 1921-1925, 1925-1932/33), Exil in der Schweiz (ab 1933).

43 - Albert Grzesinski (1879-1947), SPD-Mitglied des preußischen Landtags (1921-1933), Polizeipräsident von Berlin (1925-1926, 1930-1933), preußischer Innenminister (1926-1930), Exil: Schweiz (1933), Frankreich (1933), USA (1937). Vorsitzender der German Labor Delegation, New York (1939-1943).

44 -

45 - Wilhelm Dittmann (1874-1954), USPD, SPD, Mitglied des SPD-Parteivorstandes (1922-1933), MdR (1920-1933) und Mitvorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion (1928-1933). Emigration in die Schweiz (1933).

46 - Art(h)ur Crispien (1865-1946), USPD, SPD, Vorsitzender der USPD (1919-1922), MdR (1920-1933), Mitglied des SPD-Parteivorstandes (ab 1922), Emigration über Österreich in die Schweiz (März 1933).

47 - Rudolf Breitscheid (1874-1944), USPD, SPD, MdR (1920-1933) und Mitvorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion (1928-1933), Emigration in die Schweiz (März/April 1933) und nach Frankreich (Mai 1933), zusammen mit Hilferding von Vichy-Behörden an die Gestapo ausgeliefert (11. Dezember 1941), danach Haft, Verhöre und Konzentrationslager. Tod im Konzentrationslager Buchenwald bei einem alliierten Luftangriff (24. August 1944).

48 - Rudolf Hilferding (1877-1941), USPD, SPD, maßgeblicher Theoretiker der Weimarer SPD (vgl. schon "Das Finanzkapital", 1910), Mitglied des SPD-Parteivorstandes (1922-1933), Reichsfinanzminister (1923, 1928-1929), MdR (1924-1933), Flucht nach Dänemark (März 1933), von dort Emigration in die Schweiz und nach Frankreich (1938), zusammen mit Breitscheid von Vichy-Behörden an Gestapo ausgeliefert und (angeblich) durch Freitod gestorben (1941).

49 - Siegmund Crummenerl (1892-1940), Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Parteikassierer (1929-1940), Emigration in die Tschechoslowakische Republik (1933) und nach Frankreich (1938).

50 - Hans Vogel (1881-1945), SPD-MdR (1920-1933), Vorsitzender des Exilparteivorstandes der SPD (1939-1945), Exil: Tschechoslowakische Republik (1933), Frankreich (1938) und Großbritannien (1941).

51 - Paul Hertz (1888-1961), USPD, SPD, MdR (1920-1933), Fraktionssekretär (ab 1922), Exil: Tschechoslowakische Republik (1933), Frankreich (1938), USA (1939), Mitglied des Exilvorstandes (ab 1933), De-fakto-Ausschluss wegen Verkleinerung des Vorstandes (1938), danach Bruch mit der SOPADE und Annäherung an die Gruppe Neu Beginnen, nach dem Zweiten Weltkrieg Senator in Berlin (1951-1953, 1955-1961).

52 - Zum Zitat und zum Vorstehenden vgl. Potthoff/Miller, a.a.O., S. 146 f.

53 - Vgl. Mehringer, a.a.O., Spalte 477.

54 - Vgl. Schneider, a.a.O., S. 107 - 117, hier insbesondere S. 111 - 114. Vgl. ferner Winkler, Heinrich August: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Band 11, hrsg. von Gerhard A Ritter, Bonn 1990, S. 939.

55 - Winkler, ebd.

56 - Zitiert nach ebd., S. 940.

57 - Vgl. ebd., S. 939.

58 - Zitiert nach ebd., S. 941.

59 - Zum Folgenden vgl. ebd., S. 941 f.

60 - Max Westphal (1893-1942), SPD, SAJ-Vorsitzender (1921-1928), Mitglied des "Löbe-Vorstandes"(1933).

61 - Franz Künstler (1888-1942), SPD-MdR (1920-1933), Mitglied des "Löbe-Vorstandes" (1933).

62 - Wilhelm Hoegner (1887-1980), SPD-MdR (1930-1933), Anhänger des "Löbe-Kurses", Ministerpräsident in Bayern (1945-1946, 1954-1957).

63 - Georg Schmidt (1875-1946), SPD-MdR (1920-1933), Anhänger des "Löbe-Kurses".

64 - Zitiert nach Winkler, a.a.O., S. 942.

65 - Vgl. ebd., S. 943.

66 - Vgl. ebd., S. 944.

67 - Hermann Göring (1893 - 1946), NS-Politiker, federführend an der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beteiligt.

68 - "Neuer Vorwärts", Nr. 1, Karlsbad, 18. Juni 1933.

69 - Vgl. Winkler, a.a.O., S. 945, der sich bezüglich der Zitate auf Hoegner (Der schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten, München 1959, sowie: Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik, München 1977) bezieht.

70 - Johannes Stelling (1877-1933), SPD-MdR (1920-1933), Innenminister (ab 1919) und Ministerpräsident (1921-1924) von Mecklenburg-Schwerin. Mitglied des "Löbe-Vorstandes" der SPD (1933). Stelling wurde in der "Köpenicker Blutwoche" am 22. Juni 1933 von SA-Banden brutal ermordet.

71 - Paul Szillat (1888-1958), Abgeordneter (1925-1933) und SPD-Fraktionsvorsitzender (1933) im preußischen Landtag, Mitglied des "Löbe-Vorstandes" (1933).

72 - Erich Rinner (1902-1982), Sekretär der SPD-Reichstagsfraktion (1923-1928, 1930-1933), als einziger Gegner des Löbe-Kurses Mitglied des "Löbe-Vorstandes" der SPD (1933), Exil: Tschechoslowakische Republik - dort Aufnahme in den Exil-Parteivorstand (1933), Frankreich (1938) und USA (1940), Redakteur der "Deutschland-Berichte" (1934-1940), Wirtschaftsexperte bei einer New Yorker Privatbank (ab 1945).

73 - Zitiert nach Appelius, a.a.O., S. 46.

74 - Zum Vorstehenden vgl. Winkler, a.a.O., S. 946. Vgl. ferner Schneider, a.a.O., S. 115.

75 - Wie Peter Merseburger in seiner Brandt-Biographie zeigt, war Paul Löbe auch ein engagierter Helfer Willy Brandts. Brandt verstand den früheren Reichstagspräsidenten als eine "väterlich-gütige" Figur, die den jungen Deutsch-Norweger förderte und auch später, nachdem Willy Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin geworden war, unterstützte. In den "Ernst Reuter-Briefen" veröffentlichten beide - Brandt und Löbe - Texte zur Erneuerung der SPD, und Brandt hielt die Laudatio zur Verleihung der Berliner Ehrenbürgerschaft an Löbe. Vgl. Merseburger, Peter: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist, Stuttgart, München 2002, S. 267, 282, 310 und 330.

76 - Seit dem 21.10.1878 geltendes, von Bismarck durchgesetztes Ausnahmegesetz "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie", zunächst auf 2 ½ Jahre befristet, dann - bis 1890 - mehrfach verlängert. Sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Vereine, Versammlungen und Druckschriften wurden verboten. Agitatoren konnten ausgewiesen werden. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion blieb allerdings bestehen. Für Bismarck erwies sich das Gesetz als ein Fehlschlag, denn die Sozialdemokratie ging gestärkt aus der Zeit ihrer Verfolgung hervor.

77 - Vgl. Potthoff/Miller, a.a.O., S. 146.

78 - Willy Brandt (1913-1992), Regierender Bürgermeister von Berlin (1957-1966), Mitglied des Parteivorstandes der SPD (1958-1992), Vorsitzender der SPD (1964-1987), Bundesaußenminister (1966-1969), Bundeskanzler (1969-1974), Exil: Norwegen (1933), Schweden (1940).

79 - Franz Josef Strauß (1915-1988), CSU-Vorsitzender (1961-1988), Bundesminister in verschiedenen Ressorts (1953-1962, 1966-1969), bayrischer Ministerpräsident (1978-1988).

80 - Zitiert nach Willy Brandt: a.a.O., Band 1, S. 15.

81 - Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration. Aus dem Nachlass von Friedrich Stampfer ergänzt durch andere Überlieferungen. Hrsg. i.A. der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien von Erich Matthias. Bearb. von Werner Link, Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1968, S. 8 (im Folgenden "Link" genannt). Vgl. im Übrigen: Potthoff/Miller, a.a.O., S. 157.

82 - Vgl. Leber, Julius: Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie, in: Schriften, Reden, Briefe, hrsg. von Dorothea Beck und Wilfried F. Schoeller, mit einem Vorwort von Willy Brandt und einer Gedenkrede von Golo Mann, München 1976, S. 179-246, hier S. 182-184. Im Vorwort des Buchs nennt Willy Brandt Lebers Urteil "hart" und "wohl nicht immer gerecht" (ebd., S. 6).

83 - Julius Leber (1898-1945), Politiker und Journalist, SPD, Beteiligung an der Niederwerfung des Kapp-Putsches (1920), Chefredakteur des "Lübecker Volksboten" (1921-1933), MdR (1924-1933), Anhänger des "Löbe-Kurses", Konzentrationslager (1933-1937), Mitglied des Kreisauer Kreises, Beteiligung an den Vorbereitungen des 20. Juli 1944, Verhaftung (Juli 1944), Verurteilung zum Tode (Oktober 1944) und Hinrichtung (Berlin, 5. Januar 1945).

84 - Vgl. Matthias, Erich: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Matthias, Erich/Morsey, Rudolf (Hrsg): Das Ende der Parteien 1933, Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1960, S. 99-278, S. 185 f.

85 - Vgl. Appelius, a.a.O., S. 57 f.

86 - Das Manifest wurde am 20. Januar 1934 vom Prager Exilvorstand verabschiedet und acht Tage später im "Neuen Vorwärts" sowie in der "Sozialistischen Aktion" veröffentlicht. Titel: "Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus. Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands". Der ganz wesentlich von Rudolf Hilferding beeinflusste Text ist veröffentlicht in: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, hrsg. von Dieter Dowe und Kurt Klotzbach, 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn 1990, S. 221-232.

87 - Vgl. Schneider, a.a.O., S. 891.

88 - Programmatische Dokumente, a.a.O., S. 222.

89 - Ebd., S. 39.

90 - Vgl. Schneider, a.a.O., S. 895.

91 - Vgl. Programmatische Dokumente, a.a.O., S. 38

92 - Ebd., S. 39.

93 - Vgl. Schneider, a.a.O., S. 895, der dort Beispiele von Veröffentlichungen aus dem "Neuen Vorwärts" anführt.

94 - Léon Blum (1872-1950), französischer Sozialist, Ministerpräsident (1936-1937), von der Vichy-Regierung verhaftet (1940), Internierung in deutschen Konzentrationslagern (1943-1945), erneut Ministerpräsident (1946-1947).

95 - Rudolf Katz (1895-1961), SPD, Exil: China (1933), USA (1935), Mitarbeiter (1936-1938) und danach Redakteur der von Gerhart Seger geleiteten "Neuen Volkszeitung" in New York (1938-1946), Mitbegründer und Sekretär der "German Labor Delegation" (GLD) in den USA (1939-1946), nach dem Zweiten Weltkrieg Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts (1951-1961).

96 - Vgl. hier und im Folgenden Biographisches Handbuch, a.a.O., S. 540 f., 782 f.

97 - Vogel war nicht in erster Linie an Katz' Meinung, sondern an den Ansichten Stampfers und Rinners zur Frage des Exillands für den Parteivorstand interessiert (England oder USA?), doch fing Katz das Telegramm Vogels ab und antwortete seinerseits mit einer Empfehlung für London, was Vogel dann irrtümlich als gemeinsame Empfehlung der New Yorker Exilanten interpretierte. Zu dem Missverständnis vgl. den Brief Vogels an Katz vom 25.11.1940, abgedruckt in: Link, a.a.O., S. 474 f. Vgl. ferner Appelius, a.a.O., S. 202.

98 - Vgl. Appelius, a.a.O., S. 200.

99 - Die "Sozialistischen Mitteilungen" berichten in SM, Nr. 21, 1941, S. 11, über Vogels, in Nr. 22, 1941, S. 10, über Ollenhauers Ankunft in London.

100 - Curt Geyer (1891 - 1967), USPD (1917), KPD (1920-1921; Parteiausschluss), USPD (1922) und (seit 1922) SPD, Mitglied des Reichstags (1920-1924): zunächst als Mitglied der USPD, dann der KPD und schließlich der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG), Innenpolitischer Redakteur des "Vorwärts" (1925-1933), Emigration in die Tschechoslowakische Republik (1933), Mitglied des SOPADE-Büros sowie (zusammen mit Stampfer) Leiter des "Neuen Vorwärts" sowie Chefredakteur (1935-1940), Emigration nach Frankreich (1937), kooptiertes Mitglied des Parteivorstands (1938), Flucht nach Südfrankreich (1940) und in Marseille zusammen mit Fritz Heine einer der Hauptorganisatoren der Hilfsaktionen für bedrohte Flüchtlinge, Flucht über Spanien nach Lissabon und Emigration nach Großbritannien (1941), nach Konflikten Austritt aus dem Parteivorstand (1942), Annäherung an "vansittartistische" Ideen (vgl. unten Kapitel 3, Ziffer 5), von denen er jedoch bald wieder abrückte, Rückzug aus der Exilpolitik (1943), nach dem Zweiten Weltkrieg Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in London (1947-1963).

101 - Vgl. Appelius, ebd., S. 209.

102 - Vgl. Eiber, a.a.O., S. LXXXII, Fußnote 367.

103 - Vgl. Röder 1969, a.a.O., S. 32.

104 - Ebd., S. 34.

105 - Ebd., S. 35.

106 - Ebd., S. 32.





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