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Kapitel 1
Politisches Exil und sozialdemokratisches Exil
Dem "politischen Exil" werden solche Emigranten zugerechnet, die als Einzelpersönlichkeiten oder im Rahmen von Parteien, Gewerkschaften oder sonstigen politischen oder weltanschaulichen Gruppierungen ins Ausland gingen, um von dort aus die aktive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus fortzusetzen.(30) 1935 befanden sich nach Angaben des Völkerbundes - weltweit - neben etwa 65.000 "rassisch" verfolgten Emigranten aus Deutschland 5.000 bis 6.000 Sozialdemokraten, 6.000 bis 8.000 Kommunisten und etwa 5.000 Oppositionelle anderer Richtungen als Flüchtlinge im Ausland. Schneider schätzt, dass bis Frühjahr 1939 etwa 30.000 bis 40.000 Menschen Deutschland aus politischen Gründen verlassen mussten, "davon etwa drei Viertel Angehörige der unterschiedlichen Flügel der Organisationen der Arbeiterbewegung"(31).
Die Vertreter der alten Arbeiterbewegung wurden dem Anspruch, Repräsentanten des Widerstands zu sein, am ehesten gerecht. Sie lieferten in den ersten Jahren der NS-Herrschaft über ein Netz von Grenzstellen illegale Materialien ins Reich, hielten Kontakt zu Widerstandskreisen, sammelten Material über die politische und wirtschaftliche Entwicklung im Reich und begannen - nachdem viele dieser Wege versperrt waren - einen publizistischen Kampf gegen das NS-Regime vom Ausland aus. Weit über 400 diesbezügliche Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichtendienste Rundbriefe und Bulletins können nachgewiesen werden(32), ganz abgesehen von einer Vielzahl politischer Broschüren und sonstiger Einzelpublikationen aus dem Exil.
Der Handlungsspielraum politischer Exilgruppen wurde durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs nachhaltig eingeschränkt: "Eigenständiges Handeln war kaum noch möglich, und Aktivitäten nach Deutschland hinein konnten fast nur noch im Dienste der Alliierten stattfinden."(33) Die Auslandsleitungen der Parteien und Gewerkschaften beschränkten sich fortan auf die Betreuung ihrer Emigrantengruppen und auf die Erarbeitung deutschlandpolitischer Initiativen, die dann - oft erfolglos - bei den Parteien und Regierungsstellen des Gastlandes eingebracht werden sollten. Zugleich begann bei vielen Exilanten aufgrund der Auseinandersetzung mit den ganz anderen politischen Traditionen des Gastlandes ein Lern- und Denkprozess, in welchem sie sich bürgerlich-liberalen Einstellungen, die an den politischen Erfahrungen westlicher Demokratien orientiert waren, annäherten.(34) Letztendlich brachten viele von ihnen nach der Emigration diese Denktraditionen in ihre politischen Gruppierungen mit ein und trugen - mitunter in führenden Positionen - dazu bei, dass im Nachkriegsdeutschland eine funktionierende Demokratie entstand.
* * *
Schon in den ersten Monaten nach der "Machtergreifung" durch das nationalsozialistische Regime sahen sich zahlreiche sozialdemokratische Funktionäre, Politiker und Beamte gezwungen, aus politischen Gründen in die Nachbarstaaten zu fliehen. Zuverlässige Zahlen über die sozialdemokratische Emigration existieren nicht. Nach Schätzungen der SOPADE - unter diesem Namen arbeitete der sozialdemokratische Exilvorstand ab Mai 1933 in Prag, ab 1938 in Paris und schließlich ab 1941 in London - betrug die Zahl sozialdemokratischer Emigranten im Sommer 1933 zwischen 2.000 und 3.000 Personen; davon waren die meisten in das damals noch unter Völkerbundsverwaltung stehende Saarland und nach Frankreich geflohen.(35) Für das Jahr 1935 gibt es die oben genannte Schätzung des Völkerbundes von 5.000 bis 6.000 sozialdemokratischen Flüchtlingen; als Schwerpunkte sozialdemokratischer Emigration werden die Tschechoslowakei, das Saargebiet und Frankreich angegeben. Für das Jahr 1939 nennt Schneider die Zahl von etwa 10.000 sozialdemokratischen Exilanten; das sind nach seinen Berechnungen etwa 5 Prozent der Funktionäre der Partei.(36)
Für die Zeit von 1934 bis 1938 spricht Mehringer von insgesamt vier Emigrationsschüben: 1. Aus Österreich flohen nach dem Schutzbund-Aufstand gegen das Dollfuß-Regime( 37) (Februar 1934) mehrere Tausend Aktivisten der Arbeiterparteien und der Freien Gewerkschaften vor allem in die Tschechoslowakei; diese Flüchtlinge blieben organisatorisch von der deutschen sozialdemokratischen Emigration getrennt. 2. Nach der Saarabstimmung Anfang 1935 stießen etwa 6.000 Saar-Flüchtlinge, zu einem nicht unerheblichen Teil Vertreter der Arbeiterbewegung, zur deutschen politischen Emigration hinzu; sie flohen überwiegend nach Frankreich. 3. Nach dem "Anschluss" Österreichs (März 1938) und 4. nach der Besetzung des Sudetengebiets (Oktober 1938) setzten erneut Fluchtwellen ein. Zwar war die Zahl der aus Österreich geflohenen Sozialdemokraten relativ klein, aber die sudetendeutsche Emigration umfasste etwa 4.000 bis 5.000 Sozialdemokraten, die sich ebenfalls getrennt von der deutschen sozialdemokratischen Emigration organisierten; ihr Aufenthaltsschwerpunkt wurde Großbritannien.(38)
Fußnoten
30 - Vgl. Röder, Werner: Die politische Emigration, in: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, hrsg. von Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen, Gerhard Paul und Lutz Winkler unter redaktioneller Mitarbeit von Elisabeth Kohlhaas in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Exilforschung, Darmstadt 1998, Spalten 16 ff., hier Spalte 17 (im Folgenden "Röder 1998" genannt).
31 - Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Gerhard A. Ritter, Band 12, Bonn 1999, S. 854 f.
32 - Vgl. Röder 1998, Spalte 24.
34 - Vgl. ebd., Spalte 26. Vgl. ferner Brandt, Willy: "Hitler ist nicht Deutschland. Jugend in Lübeck - Exil in Norwegen 1928-1940" sowie "Zwei Vaterländer. Deutsch-Norweger im schwedischen Exil - Rückkehr nach Deutschland 1940-1947", bearbeitet von Einhart Lorenz, Berliner Ausgabe, Band 1 und Band 2, hrsg. i.A. der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung von Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler, Bonn 2002 (Band 1) bzw. 2000 (Band 2). In diesen Bänden wird der dargestellte Annäherungsprozess bezogen auf eine Persönlichkeit - Willy Brandt - exemplarisch dargestellt.
35 - Vgl. Mehringer, Hartmut: Sozialdemokraten, in: Handbuch, a.a.O., Spalten 475 ff., hier Spalte 475.
36 - Vgl. Schneider, a.a.O., S. 853. Schneider geht von rund 200.000 Funktionären der SPD aus. Er macht zusätzlich detaillierte Angaben zur Anzahl der Emigranten in den Führungsgremien von SPD, KPD und Gewerkschaften, ferner in den Reichstagsfraktionen von SPD und KPD (ebd.).
37 - Dollfuß, Engelbert (1892 - 1934), österreichischer Politiker, Bundeskanzler und Außenminister (1932 - 1934), autoritäre Regierung auf christlich-ständischer Grundlage, Kampf gegen den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, bei einem nationalsozialistischen Putschversuch ermordet.
38 - Vgl. Mehringer, a.a.O., Spalte 476.
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