S O Z I A L I S T I S C H E

M I T T E I L U N G E N

der London - Vertretung der SPD.

No. 93



Issued by the London Representative of the German Social-Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London, NW 7 - Telephone: MIL1 Hill 3915

Nov. Dez.
1946



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SPD und Internationale

Einem Brief des Genossen Dr. Kurt Schumacher vom 4. November 1946 aus Hannover an einen Genossen in Schweden entnehmen wir die folgenden Stellen, die fuer alle unsere Freunde im Ausland von Bedeutung sind:[1]

"...Wenn man die Dinge hier nur unter dem engen Blickfeld eines rein nationalstaatlichen Gesichtspunktes betrachten wollte, dann koennte man einfach verzweifeln. Das gilt fuer den gesamtdeutschen und den europaeischen Komplex.

Seitdem wir uns das letzte Mal im Mai ds. Js. gesehen haben, hat sich in diesem Lande sehr viel zum Schlechten geaendert. Die Ernaehrung hat zwar kalorienmaessig nach voruebergehendem Absinken eine kleine Aufbesserung erfahren, ist aber voellig unzulaenglich. Dazu kommt das Fehlen einer auch nur annaehernd ausreichenden Hausbrandversorgung, so dass wir mit einer Millionenarmee von Hungernden und Frierenden zu rechnen haben, denen mit den Mitteln deutscher Leistungsfaehigkeit nicht geholfen werden kann.

Man hat zwar schon im Fruehjahr ds. Js. offiziell anerkannt, dass nur ein Export Deutschland retten koenne, der uns in die Lage versetzen wuerde, unsere Lebensmittel selbst zu bezahlen. Seit dieser Zeit aber ist ein weiterer Prozess der Schrumpfung der Wirtschaftssubstanz eingetreten. Auch die Demontage ist noch nicht zu Ende, und erst im Oktober ist eine Reihe von grossen Werken der Stahlindustrie stillgelegt worden.

An allem soll die mangelnde Produktion an Kohlen schuld sein. Aber wie dieser Mangel zu ueberwinden ist, weiss niemand zu sagen. Das Verfahren von Feierschichten will wenig bedeuten bei einem Bergmann, der heute im Durchschnitt 57 Kilo wiegt anstatt wie frueher 70 Kilo. Ein Kohlenmoratorium[2] wird uns aus aussenpolitischen Gruenden verweigert, im besten Fall stueckweise und zu spaet gewaehrt werden. Das Geschaeft des Siegens ist eben auch eine recht schwierige Angelegenheit, wenn man kein Diktator ist und totalitaer die Geschehnisse in der ganzen Welt regeln kann.

Der Weg zur Ankurbelung der industriellen Produktion kann nicht ueber eine Materialvernichtung gehen, die auch die Schaffung eines Friedens- und Exportpotentials unmoeglich machen wuerde. Das Ziel der Vergroesserung der Kohlenfoerderung aber kann man nur erreichen, wenn man die Bergarbeiter und nach ihnen die Bauarbeiter und die Schwerstarbeiter in Eisen und Chemie durch bevorzugte Deckung ihres Bedarfes an Lebensmitteln und Konsumguetern privilegiert.

Alles das aber kann man aus deutschen Kraeften nicht. Auch eine Politik der groessten individuellen Mildtaetigkeit, fuer die jetzt im Ausland die Stimmung heranwaechst, kann die Probleme nicht loesen. Eine Armee von Fluechtlingen, die die Zahl von zehn Millionen laengst ueberschritten hat und auf Vollendung der zwoelften Million losmarschiert, drueckt die beschraenkten Moeglichkeiten. Dazu kommen Loehne und Sozialverhaeltnisse, die ein so niedriges Niveau zeigen, dass sie unseren nord- und westeuropaeischen Freunden kaum noch vorstellbar sind. Ueberdies hat sich durch die Kriegsverluste, die Zahl der Kriegsgefangenen und die Zurueckhaltung von arbeitsfaehigen Elementen die ganze soziale Struktur unseres Volkes grundlegend geaendert. Es sind z.B. weniger als 10% der Fluechtlinge, die in das Land hereinstroemen, arbeitsfaehige Maenner. Das Resultat ist die Demoralisierung nicht nur der Besitzlosen, sondern gerade der Besitzenden, an denen der Krieg gnaedig voruebergewandelt ist. Sie versuchen, mit allen politischen Mitteln den Konsequenzen des verlorengegangenen Krieges zu entgehen. Die Risse in dem Gebaeude klaffen immer weiter auseinander.

Im Ausland ist man sich vielleicht der Summe des menschlichen Elends, das heute in Deutschland passiert, nicht ganz bewusst. Ich glaube, dass es keine vernuenftige deutsche Politik gibt, bei der man darauf warten darf, von aussen her gerettet zu werden. Wenn aber nicht von den Kraeften, die den Weltreichtum heute in der Hand halten, der Absprung gewagt und Deutschland mit Lebensmitteln versorgt wird, dann kann diese ganze Kausalkette: Kohle, Baustoffe, Eisen, Fertigfabrikate nicht mehr vernuenftig aufgegliedert werden. Ihr seht draussen nur die Resultate bei den politischen Wahlen, aber Ihr koennt ja nicht sehen, was dahinter steckt. Den Deutschen, die an sich nicht gerade ein Uebermass von politischer Begabung gezeigt haben, fehlt jetzt noch die Erfahrung von zwoelf oder dreizehn Jahren. Die Atmosphaere eines Krieges aller gegen alle um des Lebens Notdurft und

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Nahrung haengt drohend in der Luft.

Der Restkapitalismus in den westlichen Zonen ist noch recht lebendig, und die Politik der Industrie-Kombinate in der Ostzone wirkt sich weder sozialistisch noch arbeiterfreundlich aus. Trotz allem ist sehr viel guter Wille im deutschen Volk vorhanden. Wenn man die Wahl in der Britischen Zone betrachtet, dann muss man nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch das heute noch kleine Zentrum, die Kommunisten und einen betraechtlichen linken Fluegel der Christlich-Demokratischen Union als antikapitalistisch ansehen. In dem, was die Menschen von der vernuenftigen oekonomischen Struktur dieses Landes wollen, steckt eine ueberwiegende Majoritaet fuer den Sozialismus.

Der Wahlkampf in Berlin ist in seiner Art ja phantastisch, und was da gezeigt worden ist, dessen braucht sich die Arbeiterschaft keines Landes in der Welt draussen zu schaemen. Man hat ohne die Chance eines materiellen Vorteils und einer Besserung der Verhaeltnisse einfach fuer die Idee der Freiheit der demokratischen Willensbildung gekaempft. Wenn heute, nach der Verstaerkung der Deportationen, noch einmal gewaehlt wuerde, dann muesste die SED viel Glueck haben, wenn sie mehr als 5% der Stimmen in Berlin bekaeme.

Aber hinter all diesen Hoffnungen stecken neue Gefahren. Z.Zt. beginnen ja die Aussenminister fuer die Friedensvertraege bezw. Diktate zu reden. Wenn im Osten die Oder-Neisse-Linie die Reichsgrenze bleibt, dann ist auch unausgesprochen ein neuer Nationalismus geboren. Der Umstand, dass auch Frankreich noch immer nicht ueber die Sicherheitspolitik hinausgehen will und zusammen mit den Anspruechen der Hollaender und eventl. der Daenen auch im Westen Grenzkorrekturen auf Kosten Deutschlands hervorrufen kann, steigert die Spannung unertraeglich.

Auch in dieser Lage wird die deutsche Sozialdemokratie nicht nationalistisch werden, sondern den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen. Um aber kaempfen zu koennen, muss man zuerst leben, und da will ich die Schilderung der Bedingungen, unter denen die groessere Anzahl der Deutschen dahinvegetiert, nicht wiederholen. Es ist geradezu ein Lotteriespiel, von diesem groessten Teil des deutschen Volkes zu sagen, wer von ihm ueber den Winter kommen wird oder wer auf der Strecke bleibt.

Das Furchtbarste aber ist, dass nicht nur Menschen, sondern auch unverzichtbare Ideen einen Schaden davontragen koennen, der nicht wieder gutgemacht werden kann. Alle Persoenlichkeitswerte und die Prinzipien der Humanitaet, der Demokratie und des Sozialismus sind in Gefahr. Immer schwieriger und verworrener werden die Wege nicht nur zu einer gesamtdeutschen, sondern auch zu einer gesamteuropaeischen sozialistischen Planung und Loesung.

Man muss diese Dinge sehen und trotzdem den Mut haben, weiter zu kaempfen. Einmal wird ja der Tag kommen, an dem die fortschrittlich und human denkenden Elemente in der Welt einsehen, dass all das Furchtbare, was vom Dritten Reich ueber Europa gebracht worden ist, nicht mehr entschuldigen kann, was heute in Deutschland geschieht ..."


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der Vorsitzende der SPD, wurde von der britischen Labour Party eingeladen, mit einer Abordnung am 29. November fuer eine Woche nach London zu kommen. Mit ihm werden Franz Neumann, der Vorsitzende der SPD Gross-Berlin, Wilhelm Knothe, der Vorsitzende der SPD Gross-Hessen, und Fritz Heine, der Leiter der Presse-Abteilung des Parteivorstandes in Hannover, erscheinen.

Kurt Schumacher wurde am 13. Oktober 1895 in Kulm a.d. Weichsel geboren. Dort besuchte er auch das Gymnasium, um sich dann dem Studium der Rechte und der Nationaloekonomie zuzuwenden. Das entscheidende Erlebnis Kurt Schumachers war der Erste Weltkrieg. Auf einem russischen Schlachtfeld liess der 20jaehrige seinen rechten Arm und trug mehr als ein Dutzend Schrapnellwunden mit in die Heimat. Von da an wurde die Sorge um die Opfer des Krieges eine seiner wichtigsten Aufgaben. Bald stand Schumacher im Reichsbund der Kriegsbeschaedigten in vorderster Front. Der Krieg und die Kraefte, die zum Krieg fuehrten, wurden das Ziel seiner Angriffe, der Kampf gegen den Militaergeist der Inhalt seiner politischen Taetigkeit. Nach kurzer Arbeit im Reichsarbeitsministerium ging Schumacher nach Stuttgart. Als politischer Redakteur der "Schwaebischen Tagwacht", des sozialdemokratischen Hauptblattes in Wuerttemberg, machte er sich schnell einen guten journalistischen Namen. 1924 wurde er in den Wuerttembergischen Landtag und 1930 in den Reichstag gewaehlt. Wo immer er eine Gelegenheit fand, knoepfte er sich die Nazis vor. Am bekanntesten wurde seine Abrechnung mit Goebbels, in der er den Nationalsozialismus als den "Appell an den inneren Schweinehund im Menschen" bezeichnete. Das haben ihm die Nazis nie vergessen. - Im Juni 1933 wurde Schumacher verhaftet, und damit begann der Leidensweg der deutschen Hitlergegner auch fuer ihn. Heuberg, die Kasematten auf dem Kuhberg bei Ulm, Dachau, Flossenb[uerg] und wieder Dachau, das waren die Stationen dieses Leidensweges, bis 1943 die Gestapo die Freilassung und den Zwangsaufenthalt in Hannover verfuegte. In den Reden, die Schumacher in den letzten Monaten gehalten hat, findet man das politische Glaubensbekenntnis eines Mannes, der aus tiefer Liebe zu seinem Land den Pseudopatriotismus der Nazis und der Reaktionaere bis aufs Messer bekaempft und aus der gleichen Liebe heraus fuer die Wiederaufrichtung Deutschlands im Geist der Demokratie und des Friedens wirbt.


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ENGLANDS PLAN FUER EIN NEUES DEUTSCHLAND

Am 22. Oktober hielt der britische Aussenminister Ernest Bevin eine wichtige Rede zur Aussenpolitik der englischen Regierung, in der er auch die Stellung Englands Deutschland gegenueber umriss und folgende Ausfuehrungen machte:

"Deutschland - das ist gleichzeitig der Pruefstein fuer die Beziehungen der Besatzungsmaechte untereinander und fuer unsere Faehigkeit, Frieden und Sicherheit als Dauerzustand fuer die ganze Welt zu schaffen.

Man kann auf dreierlei Weise an die Schaffung des europaeischen Friedens herangehen: 1. kann man den Frieden basieren auf dem Machtausgleich von Staaten etwa gleicher Staerke, also auf der Politik der 'Balance of Power'; 2. dadurch, dass eine Macht oder eine Maechtegruppe die Vormacht hat; 3. Zusammenarbeit der vier Grossmaechte unter Mitwirkung ihrer kleineren Verbuendeten.

Ich habe schon auf der Aussenministerkonferenz[3] hingewiesen, dass die britische Regierung den letztgenannten Weg fuer den besten haelt. So schwer wie die Aufgabe ist, eine allgemeine harmonische Zusammenarbeit zu erreichen, so wird diese am allerbesten stabile Verhaeltnisse sichern, und die britische Regierung wird daher auch trotz aller Schwierigkeiten in dieser Richtung weiterarbeiten. Zusammenarbeit in Deutschland bringt Zusammenarbeit in Europa mit sich.

Freilich, bis wir soweit sind, muessen, ganz allgemein gesprochen, zwischen den vier verbuendeten Grossmaechten die Beziehungen sich noch sehr verbessern, und das gegenseitige Vertrauen muss staerker werden. Byrnes' Rede am 6. September in Stuttgart, Stalins Erklaerung, dass Russland keinesfalls die Absicht hat, Deutschland zu einem Machtinstrument russischer Ansprueche gegenueber dem Westen zu machen, sind zwei Kundgebungen von autoritativer Stelle, die eine Bestaetigung der von mir eben wiederholten Auffassung der englischen Regierung sind. Da wir weiter wissen, dass Frankreich durchaus willig ist, den Frieden in Europa durch freundschaftliche Zusammenarbeit zu sichern, so sollte es doch moeglich sein, dieses Ziel auch zu erreichen, wenn wir uns nun an den Konferenztisch setzen, um diese Erklaerungen in die Wirklichkeit umzusetzen. Freilich ist zunaechst noch ziemlich umfangreiche Vorarbeit zu leisten, ehe wir uns ueber den Frieden mit Deutschland einig sein koennen. Es muessen auch die anderen Laender, die mit Deutschland im Kriege lagen, gehoert werden."

Bevin erlaeuterte dann ausfuehrlich die drei Prinzipien, die England fuer die Gestaltung des neuen Deutschland zu Grunde legt. Er sprach zunaechst von der Entwicklung politischer Verantwortung und politischer Reife im deutschen Volk:

"Die Tatsache, dass die Ausuebung politischer Gewalt eine Angelegenheit der Verantwortung ist, abhaengig von der Zustimmung einer freien Waehlerschaft, durch regelmaessig vorzunehmende freie und geheime Wahlen, ohne jeden politischen Druck oder Drohung, ist die wichtigste Lehre, die die Deutschen durchmachen muessen.

In bezug auf die Verfassung sind wir fuer eine moeglichst dezentralisierte deutsche Verwaltung. Deshalb haben wir die Laender Nordrheinland-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein geschaffen, wobei die Hansestaedte Hamburg und Bremen einstweilen noch als selbstaendige Einheiten verbleiben werden. Das gilt fuer die Britische Zone. Wir schlagen fuer spaeter eine deutsche Verfassung vor, welche in jeder Hinsicht das Extreme vermeidet: keine zu lose Foederation, kein zentralisierter Einheitsstaat. Bestimmte Aufgaben muessen ausschliesslich der Gesamtregierung uebertragen werden, die Laender muessen auf allen anderen Gebieten weitestgehende Vollmachten bekommen. Unterschiede der Tradition, der Religion, der wirtschaftlichen Verhaeltnisse, wie sie in den verschiedenen Teilen Deutschlands verschieden sind, koennen dadurch zu ihrem Recht kommen.

Die Zentralregierung koennte etwa aus zwei Kammern bestehen, die eine durch allgemeine Wahlen in ganz Deutschland zustandegekommen, die andere wuerde von den Vertretern der Laender zu bilden sein.

Ein Oberster Gerichtshof, etwa nach dem Muster des 'Supreme Court' der USA, muesste ein einheitliches Recht in ganz Deutschland schaffen und den einzelnen Laendern die entsprechenden Weisungen fuer die Durchfuehrung der Rechtsprechung erteilen."

Bevin kam dann auf das Versagen des Potsdamer Abkommens zu sprechen. Er erinnerte daran, dass dieses Abkommen gewissermassen die Periode des Anlaufens der deutschen Friedenswirtschaft umschliessen sollte, und meinte:

"Das Abkommen war gewiss unvollkommen, wir waren aber, obwohl wir in wichtigen Einzelheiten ueberstimmt wurden, durchaus bereit, es durchzufuehren. Aber natuerlich nur als Ganzes, nicht etwa nur jene Teile, die fuer unsere Zone besonders unguenstig sind. Wir sind in keinem Fall bereit, nach dem Potsdamer Abkommen zu arbeiten, wenn es nicht einheitlich fuer alle Zonen gilt und alle Gebiete umfasst, wirtschaftlicher wie finanzieller Art, und auch die Frage von Reparationsmethoden einschliesst.

Voraussetzung des Abkommens war, dass Deutschland als wirtschaftliche Einheit behandelt wird und dass daher keinerlei Reparationsleistungen aus laufender Produktion aus irgend einer Zone gemacht werden duerfen, solange in einer der anderen Zonen kein Zahlungsausgleich fuer den laufenden Einfuhrbedarf vorhanden ist.

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In der Praxis trat das Gegenteil ein: Ostdeutschland und Westdeutschland sind zwei separate wirtschaftliche Einheiten. Die Amerikaner sowohl wie wir muessen Lebensmittel und andere Waren in die westliche Zone schicken, waehrend die Russen aehnliche Erzeugnisse aus Ostdeutschland nach Russland schicken. So kann es nicht weitergehen - stellte Bevin unter allgemeinem Beifall des Unterhauses fest -, entweder wir fuehren den Potsdamer Plan durch, genau so in allen Einzelheiten, wie er aufgestellt wurde, oder wir muessen ein neues Abkommen schaffen!

Als diese ganzen Verhaeltnisse immer dringlicher wurden, haben wir dann den amerikanischen Vorschlag angenommen, wenigstens aus unseren beiden Zonen eine wirtschaftliche Einheit zu machen[4]. Das ist natuerlich nur ein Notbehelf und schafft keineswegs einen Ausgleich fuer das Nahrungsmitteldefizit unserer Zonen."

Dann kam Bevin auf das Gebiet zu sprechen, wo von Anfang an England im Potsdamer Abkommen den wunden Punkt festgestellt hatte: die zu weit gehende Einschraenkung des deutschen Industriepotentials. "Die Basis dafuer", sagte Bevin, "ist die deutsche Stahlproduktion. Es war von Anfang an unsere Auffassung, dass man Deutschland erlauben muesse, jaehrlich 11.000.000 t Stahl zu erzeugen. Diese Menge wuerde gerade ausreichen, um Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine zu bringen, ohne Gefahr eines Wiederauflebens der Ruestung. Wir sind dabei damals leider auf so allgemeinen Widerstand gestossen, dass wir uns mit der vorlaeufigen Feststellung von 7.500.000 t einverstanden erklaeren mussten; inzwischen haben die Ereignisse unsere Schaetzung bestaetigt."

Damit wandte sich Bevin dem zweiten Fundament der deutschen Industrie zu, der Kohle. "Wenn Deutschland seine Industrie ausbauen soll, dann braucht es dazu Kohle. Die Hauptaufgabe ist also Foerderung der Kohlenerzeugung, gleichzeitig auch als Voraussetzung fuer deutsche Kohlenexporte zur Finanzierung der Einfuhr von Lebensmitteln."

Bevin wies dann auf die schwierige Lage der deutschen Industrie hin, die zum grossen Teil mit verschlissenen oder zerstoerten maschinellen Anlagen, fast ohne Vorraete, arbeitet. "Die deutsche Arbeiterschaft ist mitgenommen durch die schlechten Ernaehrungsverhaeltnisse und beunruhigt durch die Unsicherheit ueber die Zukunft der Industrie.

In dieser Hinsicht stiessen wir zunaechst auf zwei Auffassungen, die der unsrigen entgegenstanden", - sagte er. "Da war der sogenannte 'Morgenthau-Plan'[5] der die amerikanische Auffassung sehr beeinflusst hat: die Absicht, aus Deutschland ein Agrarland zu machen.

Dann die Russen, die, beherrscht von dem Gedanken der Sicherheit, die Schwerindustrie zerstoert haben wollten.

Die englische Auffassung aber, 11.000.000 t Stahlproduktion als Massstab zu nehmen und dementsprechend die deutsche Industriewirtschaft aufzubauen, hat sich als durchaus richtig erwiesen. Danach muessen wir uns jetzt richten. Byrnes hat ja auch schon in Stuttgart betont, dass die amerikanische Politik keineswegs den Deutschen die Moeglichkeit nehmen will, ihre Lage zu verbessern, und auch Molotow sagte im Juli in Paris, dass, wenn die noetigen Sicherheitsgarantien gegeben sind, die deutsche Produktion von Stahl, Kohle und Fertigwaren in gewissen Grenzen erhoeht werden kann.

Es ist unsere wohlueberlegte Ansicht, dass die deutsche Industrie eine ausserordentlich wichtige Rolle in der europaeischen Wirtschaft spielen muss. Der Plan fuer die Ruhr muss in den Plan fuer die Kontrolle der deutschen Abruestung eingebaut werden, wie es Byrnes ja auch schon vorgeschlagen hat, als er im Juli einen Zeitraum von 40 Jahren fuer einen solchen Vertrag zwischen den Besatzungsmaechten vorschlug."

Sozialisierungsplaene

"Dann muessen wir uns klar werden ueber die Eigentumsverhaeltnisse in den deutschen Schluesselindustrien.

Diese Industrien waren von jeher in Haenden jener deutschen Schwerindustriellen, die immer aufs engste mit den militaristischen Kreisen Deutschlands verbunden waren und schliesslich Hitler finanzierten. Sie waren in zwei grossen Kriegen das staerkste Element der aggressiven deutschen Machtpolitik. Wir haben nicht den geringsten Wunsch zu sehen, dass diese Leute ihre Machtpositionen zurueckbekommen, die sie mit so katastrophalen Folgen immer wieder missbraucht haben.

Als eine Uebergangsmassnahme haben wir die Kohlen- und Stahlindustrie uebernommen und sie dem Oberkommandierenden unterstellt. Wir werden in allernaechster Zeit aehnliche Massnahmen in der chemischen Industrie und in der Maschinenindustrie durchfuehren. Wir wollen dabei, dass zukuenftig diese Industrien in den Besitz der oeffentlichen Hand kommen und vom Volk kontrolliert werden. Sie sollen in Besitz und Verwaltung des deutschen Volkes kommen, dabei aber insofern unter internationaler Kontrolle bleiben, dass sie nicht wieder zu einer Bedrohung fuer Deutschlands Nachbarlaender werden koennen.

Die Forderung nach oeffentlichem Besitz der Grossindustrien war niemals dringender als jetzt in Deutschland. Die Deutschen wissen das selbst ganz genau, und ich bin sicher, dass meine heutige Erklaerung eine grosse Befriedigung fuer diejenigen Deutschen sein wird, die wissen, wer sie ins Verderben gefuehrt hat: die Magnaten, die die Arbeitskraft und die Tuechtigkeit der deutschen Arbeiter so geschickt, aber auch mit so katastrophalen Folgen fuer sich und die ganze Welt einzusetzen wussten.

Zusammengefasst sehen also unsere Ziele in bezug auf die deutsche Wirtschaft so aus:

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Die Anfertigung von Kriegsmaterial im weitesten Sinne des Wortes muss endgueltig verboten bleiben; Deutschland muss so schnell wie moeglich auf eigenen Fuessen stehen. Um dies zu ermoeglichen, muss mehr Kohle gefoerdert werden, und es muss auch mehr Kohle fuer die deutsche Binnenwirtschaft zur Verfuegung bleiben.

Die deutsche Industrie muss weiterhin freie Hand bekommen, sich zu entwickeln, vorbehaltlich einer internationalen Kontrolle, wofuer noch die zweckmaessige Form gefunden werden muss. Schliesslich muessen wir den deutschen Plaenen, die Trust und Konzerne zu sozialisieren, unsere volle Unterstuetzung zuteilwerden lassen."


Bevin wandte sich dann den Grenzfragen zu, die zunaechst die Aussenministerkonferenz beschaeftigen werden. Er sagte:

"Wir haben in Potsdam zugestimmt, dass ein grosser Teil von Ostdeutschland vorlaeufig, bis zur endgueltigen Festsetzung der polnisch-deutschen Grenzen, unter polnische Verwaltung gestellt wird. Ueber Deutschlands Westgrenzen wurde in Potsdam nicht gesprochen. Hier wollen die Franzosen das Saargebiet in ihr Wirtschafts- und Verwaltungssystem hineinnehmen, ohne es jedoch formal zu annektieren.

Sie moechten, dass das Rheinland ein separater Staat wird, ebenso das Ruhrgebiet. Dann gibt es noch einige kleinere Fragen, wenn vielleicht die Hollaender, die Belgier, die Daenen oder Luxemburg Ansprueche auf Grenzregulierungen erheben.

Die englische Regierung ist bereit, Frankreichs Vorschlag ueber das Saargebiet anzunehmen. Wir koennen aber nicht die franzoesischen Plaene in bezug auf das Rheinland und die Ruhr unterstuetzen. Es wird sich aber hier ein Weg finden lassen, der Frankreichs Ansprueche auf unbedingte militaerische Sicherheit befriedigt, etwa dadurch, dass in diesem Gebiet auch nach Beendigung der Besetzung Deutschlands alliierte Streitkraefte verbleiben.

Wir haben damals nur mit grossem Widerstreben den ausserordentlichen Veraenderungen zugestimmt, die Russland in bezug auf die polnischen Grenzen forderte. Es war klar, dass eine derartige gewaltsame Emigration deutscher Volksmassen eine schwere Reaktion in Deutschland ausloesen musste. Ich fuerchte, wir sind mit dieser polnischen Angelegenheit noch keineswegs am Ende.

Wir haben schliesslich zugestimmt, angesichts der ausdruecklichen Versicherung der polnischen Regierung, dass Polen eine freie und geheime Wahl durchfuehrt, unter der Kontrolle alliierter Oeffentlichkeit. Ebenso sollten die heimkehrenden polnischen Soldaten frei und ungehindert nach Polen zurueckkoennen, um dort ansaessig zu werden. Wir sehen nicht ein, warum wir schliesslich Polens grosse Landgewinne ratifizieren sollen, wenn nicht auch die uns gemachten Zusicherungen erfuellt werden. Wir wollen auch gerne die Sicherheit haben, dass die Polen in der Lage sind, diese neuen Gebiete wirtschaftlich zu entwickeln, so dass sie nicht zu einer Einoede werden, aus der man die Deutschen vertrieben hat, die die Polen selbst aber gar nicht bevoelkern koennen."

Zum Schluss seiner Ausfuehrungen ueber Deutschland wandte sich Bevin der vielfachen Kritik zu, die die britische Zonenverwaltung gefunden hat. Er meinte, dass diese Diskussionen schon teilweise sehr berechtigt und auch sehr natuerlich waren. "Aber", betonte er, "sowohl hier wie in Deutschland neigen doch viele Menschen dazu, diese Verhaeltnisse nicht in den richtigen Perspektiven zu sehen. Man [darf] schliesslich nicht vergessen, dass Millionen von Deutschen an den Verbrechen beteiligt waren, die Deutschland begangen hat. Das Urteil von Nuernberg waescht das keineswegs alles ab: Wir wollen uns gewiss nicht wie Nazis benehmen, aber man darf sich auch keinerlei Gefuehlsseligkeit hingeben. Das wuerde auch den Deutschen selbst nur schaden und ihnen eine vollkommen falsche Vorstellung geben. Wir muessen von der Tatsache ausgehen, dass wir schliesslich zwei grosse Kriege fuehren mussten, mit den schwersten Opfern fuer uns, und dass wir jetzt endlich eine gerechte Ordnung schaffen muessen, frei von Bevorzugung und frei von Furcht.

Es waere geradezu verhaengnisvoll, etwa um eigner ideologischer Gruende wegen, die Deutschen zu umschmeicheln. Je ferner uns das liegt, je objektiver wir uns von rein rechtlichen Ueberlegungen leiten lassen und dabei das Interesse Europas und der Welt auf lange Zukunft hin im Auge haben, desto besser ist es fuer uns und auch fuer Deutschland selbst!" Bevin schloss seine Bemerkung ueber Deutschland wie folgt:

"Wir haben selbst auch das groesste Interesse daran, dass Deutschland nicht staendig ein Elendsgebiet inmitten Europas wird; das wuerde das Lebensniveau in ganz Europa und schliesslich in der ganzen Welt senken.

Aus all diesen Ueberlegungen den richtigen Mittelweg zu finden, ist gewiss nicht einfach. Wir mussten nach Deutschland gehen, um all den Dreck auszuraeumen, den Hitler verursacht hat. Und die Deutschen waeren selbst sehr viel schlimmer daran, wenn wir nicht da waeren. Das englische Volk und das deutsche Volk, seine politischen Parteien, sie alle wuerden nur gut daran tun, wenn sie die gegenwaertige Lage Deutschlands in dem richtigen Zusammenhang mit der Gesamtlage Europas sehen und wenn sie sich Gedanken darueber machen, wie denn das alles so gekommen ist. Nur dann koennen wir zu einer allgemeinen Verstaendigung kommen. Nur dann kann alles das wiedergutgemacht werden, was die Fehler und die Verbrechen der Nazis angerichtet haben, nur dann kann Deutschland geholfen werden, einen neuen Platz in der Familie der Voelker einzunehmen!"


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Wie aus den Berichten des "Manchester Guardian" hervorgeht, werden in der Britischen Zone Deutschlands unter den Wiedergutmachungsabmachungen nicht allein Ruestungsfabriken geschlossen und abmontiert, sondern auch Fabriken, die intakt bleiben muessten, wenn Deutschland befaehigt werden soll, ein ziviles Leben wieder aufzunehmen. Diese Massnahmen gehen weiter, ungeachtet der Tatsache, dass die Amerikaner aufgehoert haben, Betriebe zu Reparationszwecken abzubauen, und ungeachtet der Erklaerung Bevins, auch Gross-Britannien habe in der gegenwaertigen Situation das Recht, die Potsdamer Reparationsbeschluesse zu revidieren. "Alles dies ist den Mitgliedern der britischen Kontrollkommission noch nicht zu Ohren gekommen", so schreibt der "Manchester Guardian", "sie halten sich weiter strikt an den Buchstaben der Potsdamer Beschluesse und verursachen dadurch in unserer Zone bittere Not und tiefe Unzufriedenheit." Nicht nur "Daily Herald" und "News Chronicle", sondern auch andere Zeitungen der verschiedensten Parteirichtungen berichten ueber eine zunehmende Beruhigung ueber die wirtschaftliche und Ernaehrungslage in der Britischen Zone, die einer Katastrophe entgegengeht.

Der bekannte sozialistische Verleger Victor Gollancz, der sich auf einer mehrwoechigen Reise durch Deutschland befindet, berichtet in einem Brief an die "Times" ueber zahlreiche Faelle von Unterernaehrung, die er mit eigenen Augen gesehen hat, und verweist auf die Zunahme der Tuberkulose in Deutschland. Abgesehen von der Wohnungsnot, sieht er als Grund fuer die Zunahme der Tuberkulose den Mangel an Fleisch in der Ernaehrung an. Victor Gollancz, der durch das Komitee "Save Europe Now" seit Monaten die Forderung erhebt, Lebensmittelpakete nach Deutschland senden zu duerfen, schlaegt zum Schluss seines Briefes in einem Appell an Attlee vor, den Versand von privaten Lebensmittelpaketen von Gross-Britannien nach Deutschland zu gestatten.

Auch in Deutschland selbst bildet das Problem der deutschen Wirtschaft und der schlechten Ernaehrungsbedingungen immer wieder das Thema sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Funktionaersversammlungen. In einer grundlegenden Rede vor ueber 1000 Gewerkschaftsvertretern in Duesseldorf am 5. November, in Abwesenheit der Mehrzahl der Kabinettsmitglieder von Nordrhein-Westfalen und von Spitzenvertretern anderer Behoerden, entwickelte der sozialdemokratischen Wirtschaftsfachmann Dr. Victor Agartz, der zugleich Mitglied der Zweizonenausschusses fuer Wirtschaft[6] ist,

die Grundzuege einer kuenftigen deutschen Wirtschaftspolitik:

"... Die gegenwaertige Hoehe der Kohlenfoerderung mit rund 170.000 t pro Tag gegenueber der mehr als doppelt so hohen Foerderung in normalen Zeiten ist in erster Linie aus dieser Ernaehrungslage und dem Ernaehrungszustand zu erklaeren", fuehrte Dr. Agartz zur Kohlenfrage aus. "Nach den Standardzahlen des Voelkerbundes benoetigt der nichtarbeitende Mensch taeglich 2400 Kalorien netto. Bei den Bergarbeitern liegt der Nettobedarf bei ueber 5000 Kalorien taeglich. Eine niedrigere Rationierung unter gleichzeitiger Unterschreitung des Eiweiss- und Fettminimums spricht dem Menschen das elementarste Recht, naemlich das Recht auf Weiterleben, ab."

"Der entscheidende Schritt, die Ernaehrungslage zu verbessern, ist jedoch nicht getan worden. Die deutsche Industrie ist", unterstrich Dr. Agartz, "in ihren Rohstoffzufuhren genau so abhaengig von den Maerkten des Auslandes wie die Ernaehrung. Trotz dieser Tatsache hat aber bis heute keine Export- und Import-Planung stattgefunden. Alle Bemuehungen deutscherseits, die Ausfuhr in Gang zu bringen, sind bisher gescheitert aus Gruenden, die ausserhalb der Militaerregierung liegen. Es verblieb somit bei den Rohstoffmengen des Inlandes, die mehr und mehr zusammenschmolzen und in Kuerze ganz ausgelaufen sind.

Erst in den letzten Tagen ist", so fuhr Dr. Agartz fort, "nach monatelangen Bemuehungen diese exekutive Vollmacht den deutschen Behoerden uebertragen worden. Ein exekutives Einschreiten der Behoerden setzt aber voraus, dass diese willens und in der Lage sind, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Ich wuerde es lebhaft begruessen, wenn laufend durch besondere Ausschuesse ueberprueft wuerde, an wen Bezugsrechte verausgabt werden.

Ueberschattet werden alle Erscheinungen durch die Geld- und Schuldenlage des Reiches, die in letzter Zeit durch Veroeffentlichungen in der Presse den wirtschaftlichen Krisenzustand noch verschaerft hat. Eine Entscheidung ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, da allgemein Uebereinstimmung darueber herrscht, dass erst einmal die Wirtschaftsproduktion so weit angelaufen sein muss, dass man von einer beginnenden Normalisierung der Wirtschaft sprechen kann.

Planung und Lenkung der gesamten Erzeugung waren und sind auch ueberwiegend noch heute Aufgabe der britischen Militaerregierung. In den einzelnen Fachabteilungen sitzen Fachleute, die mit Muehe und Umsicht versuchen, den Produktionsproblemen ihrer Sparte gerecht zu werden. Ihre Arbeit ist ausschliesslich technischer Art, ohne in einer grundsaetzlichen wirtschaftspolitischen Linie, aus der das wirtschaftliche Wollen gegenueber der deutschen Wirtschaft erkennbar waere, zusammengefasst zu sein.

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Dieses Nichterkennenkoennen einer prinzipiellen Wirtschaftspolitik gegenueber Deutschland", so meinte Agartz, "setzt die deutsche zentrale Wirtschaftsbehoerde in eine ueberaus schwierige Lage. Es entsteht in allen Kreisen der Wirtschaft ein Gefuehl der Unsicherheit, und es entwickelt sich eine [psycho]logische Belastung, die in ihrem Pessimismus und der hieraus erwachsenden Lethargie den ohnehin gefahrdrohenden Krisenzustand unloesbar erscheinen laesst."

"Ich kann jedoch nicht verhehlen", betonte Dr. Agartz in seinem Vortrag weiter, "dass insbesondere in den Kreisen der Wirtschaft durchaus der Eindruck vorherrscht, dass eine systematische Schwaechung oder gar Zerstoerung der industriellen Grundlagen in den Absichten der Siegermaechte eingeschlossen seien."

"Nur zu oft wird mir aus ehrlicher Ueberzeugung entgegengehalten, dass die gegenwaertige Verwaltung Deutschlands sich in keiner Weise von frueheren Kolonialmethoden unterscheidet."

"Neuerdings wird die Britische Zone durch groessere Stillegungen und durch Ankuendigung umfangreicher Demontagen beunruhigt. Hunderttausende von Arbeitern werden von Auswirkungen dieser Massnahmen betroffen. Insbesondere nimmt die in dem Potsdamer Plan festgelegte Kapazitaetsbegrenzung in keiner Weise Ruecksicht auf den Grad der Zerstoerungen, die durch den Krieg angerichtet wurden. Den errechneten Produktionskapazitaeten liegen Zahlen zugrunde, die fuer ein normales Friedensjahr notwendig sein koennen. Die Nichtberuecksichtigung dieses zusaetzlichen Bedarfes wuerde den Neuaufbau unnoetigerweise um Jahrzehnte verzoegern."

"Ausserdem liegen den Demontageanordnungen", fuhr Agartz fort, "Absichten zugrunde, die auf deutscher Seite den Eindruck eines unsystematischen Vorgehens erwecken muessen: ein Spezialbetrieb der eisenverarbeitenden Industrie, der als einziger in der Britischen Zone vorhanden ist, soll abmontiert werden, ohne dass fuer den Ausfall eine Ersatzmoeglichkeit besteht."

"Der angeordnete Abbau des Bochumer Vereins und der Kloeckner-Werke in Osnabrueck, die als Spezialbetriebe fuer Eisenbahnradsaetze heute schon nicht in der Lage sind, den Bedarf zu decken, werden die Wiederinstandsetzung des Eisenbahnverkehrs und die Behebung der ueberaus schwierigen Transportfragen unmoeglich machen."

"Besonders beunruhigend", so fuehrte Dr. Agartz weiter aus, "hat die Anordnung gewirkt, Zementfabriken zu demontieren. Ein solcher Demontagebefehl ruft in der Bevoelkerung die Auffassung wach, dass es der Wille der Alliierten Regierungen ist, einen Neuaufbau in Deutschland nicht zuzulassen."

"Aufgabe einer Planungswirtschaft ist es", betonte Dr. Agartz, "die einzelnen Betriebe vor den Auswirkungen der Konjunkturschwankungen zu bewahren und dafuer Sorge zu tragen, dass die Betriebe in ihren Kapazitaeten voll ausgenutzt sind. Sie will den Betrieben alle stoerenden Einfluesse nehmen, die aus der ueberbetrieblichen Sphaere eingewirkt und die darueber hinaus volkswirtschaftliche Kosten verursacht haben, die insgesamt die Kosten einer Planungs- und Lenkungswirtschaft wesentlich uebersteigen wuerden. Gerade in einer solchen Wirtschaft ist besondere Unternehmerinitiative notwendig. Die deutsche Wirtschaft kann sich zukuenftig schlecht geleitete Betriebe nicht mehr leisten."

"Die Lenkungsmittel der Planungswirtschaft", fuehrte Agartz weiter aus, "sind durchweg indirekter Art: Zins, Kredit, Steuerpolitik, die nicht mehr statusmaessig, sondern wirtschaftspolitisch zu orientieren ist, sowie Preis, Lohn und viele andere Mittel."

"Nicht mit Hilfe des nationalsozialistischen Arbeitseinsatzes darf kuenftig ueber den Menschen als Objekt verfuegt werden. Die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen gibt die Gewaehr fuer eine wirksame Lenkung der Arbeitskraft."

"Der Neuaufbau der deutschen Wirtschaft setzt eine einheitliche wirtschaftliche Willensbildung voraus, um den strukturellen und produktionstechnischen Aufgaben im Rahmen der deutschen Wirtschaftspolitik die groesstmoeglichste Wirkung zu sichern."

"Bei der Zonenvereinigung hat sich mit Hilfe der Besatzungsmaechte das staatenbuendlerische Prinzip in der neuen Wirtschaftsverwaltung mehr durchzusetzen vermocht. Die Staatsgewalt geht dabei nicht mehr vom Volk, sondern von den Regierungen aus."

"Es war fuer mich unmoeglich", so betonte Dr. Agartz, "dieser Auflockerung des deutschen Wirtschaftsgebietes zuzustimmen, auch wenn diese von aussen an uns herangetragen wird. Ich verkenne dabei keineswegs die Notwendigkeit, aus realpolitischen Erwaegungen die uns Deutschen als Reparation aufgezwungene Laenderbildung als vorlaeufig gegebene Tatsache hinzunehmen."

"Angesichts des Notstandes der deutschen Wirtschaft ist ein Neuaufbau nur durch eine deutsche Zentralregierung moeglich, die von dem einheitlichen Willen eines Parlaments gefuehrt wird. Mit der Politik von Zaunkoenigen mit vielleicht zwoelf Laenderkabinetten und einer koordinierenden Zentralregierung, d.h. mit 130 Ministern, ist solch eine Aufgabe nicht zu loesen."

"Wenn wir eine aktive Wirtschaftspolitik wuenschen und fordern, wissen wir, dass diese Forderung nur erfuellt werden kann, wenn eine ausreichende Ernaehrung gesichert ist, ausreichend in Quantitaet und Qualitaet. Neben der Ernaehrung steht die Notwendigkeit, die Kohlenfoerderung zu steigern. Der deutsche Bergarbeiter hat dabei nicht vergessen, dass die Zechen 5 Pfennig fuer die Tonne Kohlen zur Finanzierung der nationalsozialistischen Bewegung ablieferten. Daher spielt die Loesung der Eigentumsfrage zur Steigerung

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der Kohlenfoerderung eine der wichtigsten Rollen. Seit fast einem Jahre sind die Bergwerke beschlagnahmt. Aktive Wirtschaftspolitik wuerde bedeuten, dass die Bergleute durch ihre Gewerkschaften in technischer und grundsaetzlicher Hinsicht mitentscheiden koennen. Vor kurzem wurde als Parallelerscheinung ein Amt fuer Eisen und Stahlkontrolle[7] errichtet."

"Vor wenigen Tagen hat der englische Aussenminister angekuendigt, dass bestimmte Industrien vergesellschaftet werden sollen. Von deutscher Seite wird in Kuerze ein Plan vorgelegt werden, der diese Umwandlung zum Gegenstand hat."

"Gerade von gewerkschaftlicher Seite wird erwartet, dass dieser Plan als Instrument einer aktiven Wirtschaftspolitik die gemeinschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Besatzung und den deutschen demokratischen Kraeften foerdert."

"Das Denken der Nationalstaaten war nicht zuletzt Ursache der Katastrophe, die vor uns liegt. Eine aktive Wirtschaftspolitik hat in Rechnung zu stellen, welche politische Formel den wirtschaftlichen Produktionsverhaeltnissen, die in einem neuen Europa zugrunde liegen, entsprechen muss.

Drei kleine Laender, Luxemburg, Belgien und Holland, haben vor wenigen Tagen die wirtschaftlichen Grenzpfaehle niedergerissen.[8] Moege diese Tat der Wegweiser einer neuen Zukunft sein."

- . - . - . - . - . -

Das Ergebnis der Diskussion über die SPD auf dieser Konferenz ist als ein grosser Fortschritt in der internationalen Anerkennung der SPD zu bewerten. Der wesentliche Fortschritt besteht darin, dass spezifisch nationalistische oder "Vansittartistische" Widerstände gegen die Aufnahme der SPD in die internationale Zusammenarbeit in überraschend grossem Masse liquidiert sind; die grössten Restbestände weist seltsamerweise die Schweizer Partei auf. Die wesentliche Opposition hat nichts mehr mit der Kriegserfahrung zu tun - Parteien der besetzten Länder waren führend in der Forderung nach Zulassung der Deutschen -, sondern beruht auf dem Misstrauen der Osteuropäer gegen die angeblichen Absichten der Engländer, die angeblich anti-russische SPD als Werkzeug ihrer Westblockpolitik einzusetzen. Auch dieser Widerstand lässt sich bei der nächsten Tagung, wo die Vertreter der SPD ihre Sache selbst führen sollen, wahrscheinlich bei fast allen Parteien überwinden. Bemerkenswert war noch, dass keine einzige Partei versuchte, die SED in die Debatte zu ziehen und als mögliche Kandidaten der Zusammenarbeit zu bezeichnen: Auch die Osteuropäer waren, soweit sie in der Debatte sprachen, echte Sozialdemokraten und hatten in dieser Frage keine Illusionen. Alle eingeladenen Parteien wussten, dass

die Frage der Zulassung der SPD das politische Hauptthema

der Konferenz bilden würde.

Anwesend waren Delegierte aus 18 Ländern, die 19 Parteien vertraten (Belgien hatte Stimmrecht für Luxemburg), und zwar: Minister Shinwell als Delegationsführer der Engländer und Kongressvorsitzender, Morgan Phillips, Denis Healey, Prof. Harold Laski, Barbara Ayrton-Gould, Harold Clay und Tom Williamson[9] für England; Van der Goes[10] und Willems[11] für Holland; Andersen[12] für Dänemark; Haakon Lie[13] für Norwegen; Aaman[14] für Schweden; Varjonen[15] für Finnland, Schaerf[16] für Oesterreich, Shulman[17] für Kanada, Lombardo[18] für Italien; de Brouckère und Lark[19] für Belgien; Oprecht[20] und Bringolf[21] für die Schweiz; Hochfeld[22], Grosfeld[23] und Kurylowicz[24] für Polen, Vilím[25] und Hajek[26] für die Tschechoslowakei; Szakasits[27], Anna Kethly[28] und Horvåth[29] für Ungarn.

Weiter waren von überseeischen Parteien Palästina, Australien und Chile vertreten; Frankreich konnte wegen der Wahlen keinen Vertreter entsenden.

Bereits am Freitagabend erwähnte

Shinwell in seiner Eröffnungsrede,

die sonst mehr ein Willkommensgruss als eine politische Rede war, drei bedeutsame Ereignisse der Weltpolitik seit der letzten Tagung in Clacton: die Diskussionen der Friedenskonferenz, die amerikanischen Wahlen und den Wahlsieg der deutschen Sozialdemokratie. Am selben Abend wurde allen Delegierten ein von der Labour Party ausgearbeitetes Memorandum über die SPD zugestellt.

Das Memorandum enthielt Tatsachenangaben über den Wiederaufbau der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die Entstehung der Sozialistischen Einheitspartei (SED), das Manifest des Parteitages der SPD in Hannover vom 8.-11. Mai 1946, die Ergebnisse der verschiedenen Wahlen in allen Teilen

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Deutschlands und eine Resolution des Parteivorstands ueber die Bekaempfung des Nationalismus. Es zog keine Schlussfolgerungen.

Da der ganze Sonnabend den allgemeinen Problemen der Organisation der internationalen Zusammenarbeit gewidmet war und erst der Sonntag fuer die deutsche Debatte reserviert war, hatten die Delegierten reichlich Zeit, die Dokumente zu studieren und sich gegenseitig zu beeinflussen. Die Tatsachen des Labour Party-Memorandums wurden dabei von niemandem in Zweifel gezogen, und waehrend der ganzen Dauer der Konferenz war es nicht notwendig, zur Klaerung von Tatsachenfragen auf weitere Dokumente zurueckzugreifen.

Die Debatte

eroeffnete Morgan Phillips mit einer kurzen Erklaerung. Unter Hinweis auf die von der Labour Party bereits hergestellten Kontakte und auf das vorliegende Memorandum befuerwortete er die bedingungslose Einladung der SPD zu kuenftigen Konferenzen und forderte diejenigen Parteien auf, zuerst zu sprechen, die bereits selbst Kontakt mit der SPD haetten, Van der Goes, Holland, folgte. Er erwaehnte Vorrinks Teilnahme am Berliner Wahlkampf und hob die Notwendigkeit einer verlaesslichen sozialistischen Kraft in Deutschland hervor. Die Gefahr des Rueckfalls in Nationalismus bestuende sicher auch bei vielen, die heute Sozialdemokraten waeren. Man kann nicht in einem Jahr Millionen verlaesslicher Demokraten erziehen. Aber sie haetten das Vertrauen, dass die Fuehrer der SPD sich ehrlich um eine solche Erziehung bemuehten, und dabei muesse man ihnen helfen durch internationale Rueckendeckung.

Haakon Lie, Norwegen, folgte mit einer kurzen, aber energischen Rede. Auch sie haetten Parteivertreter in den deutschen Wahlkaempfen gehabt. Die Mehrheit ihrer Exekutive haette in deutschen Gefaengnissen gesessen, aber sie haetten sich einstimmig fuer die Einladung der Deutschen ausgesprochen. Man muesse der Partei helfen, damit sie ein neues Deutschland aufbauen koennte, und zwar jetzt.

Den Gegenstandpunkt begruendete Grosfeld, Polen, mit einer langen Rede. Die deutschen Parteien wetteiferten in nationalistischen Grenzforderungen. Sie suchten Ost und West gegeneinander auszuspielen. Auch die SPD sei nicht frei von Nationalismus und nicht reif fuer Internationalismus. Sie einzuladen wuerde von den Russen als Affront aufgefasst werden. Manche Delegierte schienen die Einladung gerade deshalb zu wollen - nicht aus internationaler Solidaritaet, sondern als Puffer gegen Russland. Auch formal sei die Einladung unzulaessig. Die SPD operierte nicht in einem souveraenen Staat und nicht einmal auf dem ganzen Territorium ihres Landes.

Dann kam eine eindrucksvolle Antwort von de Brouckère. Er erklaerte zunaechst, dass seine Delegation frei sei zu entscheiden. Kurz nach dem Kriege wuerde seine Partei sicher mit grosser Mehrheit gegen jede Zusammenarbeit mit Deutschen gewesen sein. Seither habe sich allmaehlich ein Umschwung vollzogen. So war es auch nach dem letzten Krieg, natuerlicherweise. Vielleicht haetten sie damals gewartet, bis es zu spaet war. Ohne eine sozialistische Kraft in Deutschland gaebe es keine Hoffnung fuer Frieden und Sozialismus. Er lehne es ab, Blockpolitik zu betreiben: Wenn der Friede nicht gerettet werden koenne, sei die Sache des Nationalismus ohnehin verloren, wer auch immer gewinne. "Wir haben nur die Wahl, den Frieden zu gewinnen oder alles zu verlieren."

Andersen, Daenemark, sprach von der illegalen Arbeit der deutschen Sozialdemokratie, die seine Partei aus eigener Erfahrung kenne, und dankte den Englaendern fuer ihre Initiative in der Wiederherstellung direkter Beziehungen.

Oprecht, Schweiz, erinnerte daran, dass seine Partei lange Zeit die einzig legale ueberlebende deutschsprachige Partei gewesen sei. Sie haetten sich immer mit dem Problem auseinandersetzen muessen und haetten mehr Erfahrung als andere. Sie haetten praktische Schritte schon frueher verlangt, aber seien nicht gehoert worden. Ihre Erfahrungen mit der deutschen Bewegung seien nicht ermutigend. Viele Funktionaere seien nationalistisch verseucht. Bei dieser Schwaeche der deutschen Bewegung haenge umso mehr von der Politik der Besatzungsmaechte ab. Er saehe in den Westzonen keine Erziehung in der richtigen Richtung. In der Franzoesischen und Amerikanischen Zone machten sich Kapitalismus und Klerikalismus wieder breit. Von der Englischen Zone haette Bevin eben erst im Unterhaus gesagt, es sei Zeit, eine Politik in Deutschland zu haben. Bis jetzt habe die englische Militaerregierung offenbar keine Politik gehabt. Darum sei die deutsche Schwerindustrie noch nicht nationalisiert. Wenn die Deutschen das naechste Mal eingeladen werden, dann sollte man mit ihnen nicht nur ueber ihre Zulassung, sondern ueber das politische Problem Deutschlands sprechen.

Shinwell antwortete auf Oprechts Kritik der Politik in der Britischen Zone. Er zaehlte die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf, die fuer die Englaender aus der Zonenaufteilung entstanden sind. Verstaatlichung der Ruhrindustrie sei vor allem durch die franzoesische Forderung nach Abtrennung der Ruhr erklaert worden, aber zu deren Kritik habe Oprecht kein Wort gesagt. Dennoch haetten die Englaender sich zur Nationalisierung entschlossen und dies angekuendigt. Aber um sie durchzufuehren, muesse man sich auf Deutsche verlassen, und dazu brauche man Zusammenarbeit mit der SPD.

Sehr mutig zugunsten der Deutschen sprach dann Schaerf. Der Unterschied zwischen Deutschland und Oesterreich sei, dass die deutschen Sozialisten vor 1933 in die Gefaengnisse gegangen waeren. 19 von 20 Mitgliedern des oesterreichischen Parteivorstandes haetten nach

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1938 in deutschen Gefängnissen oder Konzentrationslagern gesessen - und dort hätten sie die deutschen Genossen schätzen gelernt. Resolutionen über Kollektivschuld, die im Kriege in Abwesenheit der Parteien der betreffenden Länder angenommen worden seien, könnten nicht stillschweigend in die neue Zusammenarbeit übernommen werden.

Nach der Mittagspause sprach noch Aaman, Schweden, der sich warm für die Einladung aussprach. Dann folgte eine versöhnliche Rede von Vilím, Prag. Er betonte, dass seine Partei einen Kampf gegen chauvinistische Tendenzen im eigenen Land fuehre. Tausende von sudetendeutschen Sozialdemokraten hätten wirklich gegen die Nazis gekämpft. Es sei den Anstrengungen seiner Partei gelungen zu erreichen, dass diese unter Mitnahme ihres Besitzes nach Bayern gehen konnten. Er sehe dem Zusammentreffen mit deutschen Sozialisten auf einer internationalen Konferenz gern entgegen. Aber im Augenblick hätten sie noch nicht genug Informationen über die neue SPD.

Die Abstimmungen

Nach diesem positiven Verlauf der Diskussion versuchte Shinwell zunächst, die grösstmögliche positive Festlegung zu erreichen. Er stellte daher die Frage, welche Parteien einverstanden seien, dass die SPD grundsätzlich in die internationale Zusammenarbeit der Sozialisten eingereiht werden müsste - zunächst unabhängig vom Zeitpunkt der Einladung. Auf diese Frage antworteten 12 Parteien mit ja: England, Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Oesterreich, Italien, Kanada, Ungarn und Chile. Die ungarische Stimme wurde von Anna Kethly abgegeben.

5 Delegationen enthielten sich der Stimme, nämlich die Tschechen, Rumänen, Palästinenser, Australier und Schweizer. Namens der Polen erklärte Hochfeld, dass sie sich weigerten, über eine solche Fragestellung abzustimmen. Als internationale Sozialisten könnten sie sich unmöglich grundsätzlich und für alle Zeiten gegen Zusammenarbeit mit Deutschen erklären. Aber als Politiker w[ü]ssten sie, dass eine solche allgemeine Frage jetzt nur gestellt würde, um sie als Grundlage für praktische Schritte zu nutzen, die sie bekämpften. Die Engländer machten darauf einen praktischen Vorschlag.
Die Diskussion solle auf der nächsten Konferenz fortgesetzt werden, und die SPD solle eingeladen werden, eine Delegation zu entsenden. Diese solle vor der Konferenz sprechen und Fragen beantworten.

Für diesen Vorschlag stimmten dieselben Parteien wie vorher, ausser den Ungarn, die sich diesmal enthielten. Dagegen stimmten nur die Polen.

In dem von Morgan Phillips an die Presse gegebenen Kommunique wurde nur die zweite Abstimmung, nicht aber die erste erwähnt. Auf Befragen erklärte Phillips: "Wir suchen lieber Einigung durch Diskussion, als dass wir Mehrheitsentscheidungen durchsetzen." Mit anderen Worten, die erste Abstimmung wird nicht als eine bindende Entscheidung betrachtet, weil die Diskussion noch nicht abgeschlossen ist, sondern als eine informatorische Feststellung der Meinung der Parteien.

* . * . *

Von privater Seite erfahren wir, dass in Kürze eine Deutschland-Delegation sozialdemokratischer Parteien der skandinavischen Länder zusammentreten und Deutschland bereisen wird. Ausserdem wird in diesen Kreisen eine Einladung Dr. Kurt Schumachers und weiterer Vertreter des Vorstandes der SPD nach Schweden ernsthaft erwogen.

* . * . *

wird auf Einladung der "Cambridge University Society for International Affairs", des "Cambridge University Labour Club" und der "Cambridge University German Society" zur Studentenschaft in Cambridge sprechen.

Die Mitglieder der Abordnung der SPD werden Gelegenheit erhalten, zu den deutschen Kriegsgefangenen in englischen Gefangenen- und Arbeitslagern zu sprechen. Ferner erhalten Mitglieder der Abordnung Gelegenheit, über die BBC zu sprechen. Eine von der Labour Party einberufene Presse-Konferenz gibt Gelegenheit zu persönlichem Kontakt mit Vertretern der englischen Presse. Franz Neumann, der Vorsitzende der SPD Gross-Berlins, wird bei einer Zusammenkunft der Berliner, Sonntag, d. 8. Dezember, nachm[ittags], 2.00 Uhr, im Vortragssaal, 1 Broadhurst Gds., über Probleme des neuen Berlin sprechen.

In einer grossen Kundgebung, veranstaltet von der Vereinigung deutscher Sozialdemokraten in England, wird Dr. Kurt Schumacher sprechen über "Deutschland und Europa". Eintrittskarten (sh 1/-) sind ab 29. November erhältlich. Nähere Mitteilungen in der "Tribüne", "Statesman and Nation", "DAILY HERALD", "NEWS CHRONICLE" und durch Plakate in London.




[Beilage zu SM, Nr. 93, 1946]



[Beilage, Seite im Original:] - 1 -

In Ergaenzung unseres in den SM Nr. 93 gebrachten Berichtes ueber die Internationale Sozialisten-Konferenz in Bournemouth, 8.-10. Nov. 1946, bringen wir noch einige Informationen, die fuer die Beurteilung des wirklichen Verlaufes und der Bedeutung dieser Konferenz von Wichtigkeit sind. Diese ergaenzenden Mitteilungen dienen nur zur persoenlichen Information und sind nicht fuer die Presse bestimmt.

London-Vertretung der SPD.

Selbst die schaerfsten Gegner, die polnischen Sozialisten, betonen im Privatgespraech, dass sie von der Notwendigkeit der Kontaktaufnahme mit den deutschen Sozialisten ueberzeugt sind, wenn dies nur in einem anderen Rahmen als dem der englisch-gefuehrten internationalen Konferenz geschehen koennte. Ihre schliessliche Bereitschaft nachzugeben oder ihr Entschluss, die Zusammenarbeit abzubrechen, wird weit mehr von der Entwicklung der inneren Lage in Polen bestimmt werden als von spezifischen Argumenten in der deutschen Frage.

Der Standpunkt der einzelnen Delegationen bei der Ankunft in Bournemouth war etwa der folgende:

1. Die Delegation der Labour Party (Shinwell, Delegationsfuehrer und Konferenzvorsitzender, Morgan Phillips und Healey als einzige andere Sprecher, ferner Laski, Ayrton-Gould, Harold Clay, Tom Williamsen) war instruiert, die Einladung der Deutschen vorzuschlagen und darauf so energisch zu draengen, wie es unter Vermeidung eines Bruches mit den Osteuropaeern moeglich war. Sie hatten im Anfang eine vage Idee, dass die Zulassung der Deutschen als "Beobachter" ein moeglicher Kompromiss waere, liessen sich aber ueberzeugen, dass dies moralisch nur schaden wuerde und dass im schlimmsten Falle eine offene Bekanntgabe der Differenzen, d.h. die Mehrheitsstandpunkte und des Vetos der Osteuropaeer, begleitet von der Erklaerung, die Mehrheit wuerde direkte Kontakte aufnehmen, besser waere als ein fauler Kompromiss.

2. Die Hollaender (Van der Goes, Willens),Daenen (Andersen), Norweger (Haakon Lie), Schweden (Aaman), Finnen (Varjonen) und Oesterreicher (Schaerf) hatten Mandat, fuer die Einladung der Deutschen einzutreten, und waren bereit, taktisch mit den Englaendern zu operieren. Fuer die kanadische Partei war ein in England lebender Funktionaer (Major Shulman) als Beobachter anwesend, hatte aber ebenfalls ausdrueckliches Mandat zugunsten einer Einladung der Deutschen. Mit den Englaendern gab das einen Block von acht mandatierten Delegationen.

3. Der italienische Parteisekretaer Lombardo hatte wohl kein ausdrueckliches Mandat in dieser Frage, wusste aber, dass seine Exekutive praktisch geschlossen fuer Zulassung der Deutschen sein wuerde.

4. Der belgische Parteivorstand hatte die Frage seit Anfang Mai nicht diskutiert. Damals hatte er die Entsendung von Vertretern zum Hannoveraner Kongress mit knapper Mehrheit abgelehnt; zwischen grundsaetzlichen Gegnern und Anhaengern der Zusammenarbeit hatte die Sorge der Schwankenden vor der deutsch-feindlichen Volksabstimmung im wallonischen Landesteil den Ausschlag gegeben. Jetzt delegierte die belgische Partei zwei Mitglieder der damaligen Minderheit, de Brouckère und Larock, und gab ihnen freie Hand. Das lief auf eine stillschweigende positive Entscheidung hinaus.

5. Die Schweizer Partei (Oprecht und Bringolf) hatte seit Claeton grosse internationale Aktivitaet entwickelt. In Diskussionen mit der tschechischen, ungarischen, oesterreichischen und belgischen Partei bei Gelegenheit von Besuchen hatten ihre Vertreter sich bemueht, eine mittlere Linie in der deutschen Frage herauszuarbeiten. Bei Besuchen in der Franzoesischen und Amerikanischen Zone hatten sie lokal auch direkten Kontakt mit deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern aufgenommen. Neben der aktiven Hilfe fuer die deutsche Bewegung hatten sie dabei versucht, die Frage der historischen Mitverantwortung der deutschen Arbeiterbewegung fuer die Katastrophe von '33 aufzurollen und waren dabei nach ihrem Eindruck bei vielen, wenn auch nicht allen deutschen Genossen auf erschreckendes Unverstaendnis gestossen. Sie kamen mit der Vorstellung, die Frage solle nicht organisatorisch, sondern politisch geloest werden: Die nichtdeutschen Parteien sollten zunaechst eine gemeinsame Haltung zum deutschen Problem herausarbeiten und dann die Deutschen zu einer Diskussion einladen, um zu sehen, ob sich Uebereinstimmung erzielen liesse.

6. Die Polen und Tschechen hatten klare Instruktionen, eine Einladung der SPD einstweilen zu verhindern. Die Polen (Hochfeld als Hauptdelegierter und Grosfeld als Beobachter, die anderen, darunter der Arbeitsminister Kurylowicz, sprachen nicht englisch) fuehlten sich stark unter Druck und erklaerten im Privatgespraech offen, es sei die Politik ihrer Partei, die eigene Selbstaendigkeit und die Demokratie in Polen durch eine Kombination von Widerstand gegen kommunistische Uebergriffe mit bedingungsloser Unterstuetzung der russischen Aussenpolitik zu retten. Der tschechische Hauptdelegierte, Parteisekretaer Vilím, schien sich wesentlich freier zu fuehlen und sprach in einem Ton, der seinem mehr kommunistenfreundlichen Mitdelegierten Hajek, dem Internationalen Sekretaer, wenig Freude bereitet haben kann.

[Beilage, Seite im Original:] - 2 -

7. Die ungarische Delegation hatte kein Mandat und war geteilter Meinung. Der Standpunkt des Hauptdelegierten, Vizepremier Szakasits, ist unbekannt geblieben, da er keine Sprache ausser ungarisch spricht. Die zweite Delegierte, Anna Kethly, war schon in Glaeton persoenlich positiv zur Einladung der Deutschen eingestellt. Mit ihnen war jedoch als Beobachter der Redakteur der "Népszava"[30], Zoltan Horvåth, der allgemein als den Kommunisten mehr nahestehend gilt.

8. Die Vertreter dreier ueberseeischer Parteien - Palaestina, Australien und Chile - hatten keine Instruktionen und waren nicht prominent genug, um auf eigene Faust Entscheidungen zu treffen. In derselben Lage befand sich ein rumaenischer Delegierter aus Paris, da der rumaenische Hauptdelegierte, Voinea[31], nicht eintraf.


Am Ausgangspunkt gab es also acht Parteien mit positivem Mandat, zwei ohne Mandat mit klar positiver Einstellung, eine mit geteilter Meinung, eine mit vermittelndem und zwei mit negativem Mandat, und vier Delegationen ohne Meinung und ohne Handlungsfreiheit.


Horvåth (Ungarn) bemuehte sich sofort um die Bildung eines Blocks von Osteuropaeern und Schweizern. Im Anfang sassen die Tschechen, Schweizer und Ungarn dauernd zusammen und eroerterten den Vorschlag, die Debatte ueber die SPD in einem Generalangriff auf die englische Aussenpolitik umzuwandeln. Das sprach sich herum, und am Sonnabend nachmittag eroeffneten die Englaender, die inzwischen herausgefunden hatten, wieviele Parteien ihren Vorschlag unterstuetzten, die Gegenoffensive, auch im Privatgespraech. Sie sagten ganz offen, russischem Druck standzuhalten, wenn die Demokratie bedroht sei, sei keine Verfehlung, sondern die Pflicht einer echten sozialdemokratischen Partei, und zeigten in jeder Weise ihre Entschlossenheit, zu einer klaren Stellungnahme zu kommen. In der Sitzung selbst, als bei der Beratung der Tagesordnung fuer die naechste Konferenz die Tschechen ein umfassendes politisches Programm vorschlugen, sagte Healey: "Wir werden ja morgen sehen, ob wir bereits genuegend politische Uebereinstimmung haben, um uns an solche Fragen heranzuwagen."

Ein wichtiges Argument fuer eine Verschiebung der Entscheidung war in allen Gespraechen die Abwesenheit der Franzosen. Die SFIO hatte Grumbach senden wollen, der ihr Spezialist fuer Deutschland ist; durch das Zusammentreffen der Konferenz mit dem franzoesischen Wahltag konnten weder er, der selbst Kandidat war, noch andere prominente Fuehrer kommen, und die SFIO, durch die Wahl des Tages etwas verletzt, sandte niemanden. Tatsaechlich wuerde sie wohl dieselbe Stellung eingenommen haben wie die anderen westlichen Parteien, aber es lag nichts Offizielles vor.


Schaerf (Oesterreich) zerpflueckte u.a. die Argumente der Polen. Woher wuessten sie, was die Russen als Affront auffassen wuerden? In Wien haetten sie die Erfahrung gemacht, dass die Kommunisten sich mit ihren Voraussagen, was die Russen dulden oder nicht dulden wuerden, immer irrten. Die polnischen Kommunisten wuessten es wahrscheinlich genau so wenig. Jedenfalls wuerden sie sich nicht weigern, die SED zu unterstuetzen. Die Kommunisten helfen ihren Genossen, warum sollten wir nicht unseren helfen?


Nach der ersten Abstimmung wurde die Sitzung unterbrochen, und die Schweizer und Oesterreicher mussten sie verlassen, um einen Zug zu erreichen. Die Polen erklaerten privat in grosser Aufregung, das Verhalten der Englaender sei illoyal: In der organisatorischen Diskussion am Tag vorher hatten sie klargemacht, dass keine Mehrheitsbeschluesse gefasst werden sollten, und noch am selben Tag haette Healey sie ueber die Moeglichkeit eines Kommuniqués, das Differenzen feststelle, sondiert und sie haetten zugestimmt. Nun habe Shinwell doch einen Mehrheitsbeschluss forciert. Das sei ein Manoever der englischen Machtpolitik, offenbar ein Kabinettsbeschluss.


Schlussfolgerungen.

Wer den Verlauf der Diskussion nicht kennt und nicht geneigt ist, ueberall Geringschaetzung und Misstrauen zu erwarten, koennte aus der Formulierung der Einladung an die SPD leicht den Schluss ziehen, sie sollte sich gewissermassen vor der Internationale "rechtfertigen". Wenn man jedoch die Resolution ueber die Einladung mit der vorherigen Diskussion und der prinzipiellen Abstimmung zusammenhaelt, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Die Anwesenheit der SPD-Vertreter beim Abschluss der Diskussion im naechsten Fruehjahr soll mit dazu helfen, die letzten Widerstaende gegen ihre endgueltige Wiedereingliederung zu ueberwinden. Es ist fuer die Mehrheit der Parteien moralisch unmoeglich, nach dieser Diskussion die SPD-Vertreter ohne positive Loesung wieder abziehen zu lassen.

Diesmal sind im Verlauf der Diskussion die Belgier, Italiener und Ungarn positiv festgelegt worden und die Tschechen ins Schwanken gekommen. Vor der naechsten Konferenz kann auch die Haltung der Australier und Palaestinenser in positivem Sinne geklaert sein - es war reiner Zufall, dass Berl Locker diesmal nicht da war, sonst haetten die Palaestinenser schon diesmal positiv gestimmt - und eine Stellungnahme der Franzosen kann vorliegen. Von all diesen positiv festgelegten Parteien wird es informative Fragen

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geben, aber keine feindseligen Fragen. Und inzwischen kann die direkte Zusammenarbeit weiterentwickelt werden.

Das ist besonders wichtig im Falle der bisher zoegernden Parteien. Die Schweizer sind nicht wirklich feindselig; sie sind nur erstens verkrampft und zweitens masslos schlecht informiert. Zwanzig Jahre ohne diplomatische Beziehungen mit Russland, in denen ihre Partei staendig fuer Aufnahmen der Beziehungen gekaempft hat, und die Sturheit ihrer heimischen Reaktion haben bei ihnen Illusionen konserviert, die anderswo laengst verschollen sind. Sie glauben wirklich, dass der Berliner SPD-Sieg etwas Schlechtes sein muss, wenn die Schweizer buergerliche Presse ihn begruesst.


Die Frage, was die neue Form der internationalen Zusammenarbeit selbst, die an die Stelle der SAI getreten ist, grundsaetzlich bedeutet, kann in diesem Zusammenhang nicht ausfuehrlich behandelt werden. Die Konferenz von Bournemouth hat entschieden, dass die SAI mit ihren oeffentlichen Kongressen, ihren politischen Resolutionen und Abstimmungen und ihrer gewaehlten Exekutive nicht wiederbelebt werden wird. Die neue Zusammenarbeit wird nicht die Form einer internationalen Organisation haben, sondern die regelmaessiger Konferenzen von Parteifuehrern zur gegenseitigen Information und Verstaendigung, ohne den Versuch, Einigung da vorzutaeuschen oder zu erzwingen, wo sie sich nicht wirklich herbeifuehren laesst, ergaenzt durch die Taetigkeit eines gemeinsamen Informationsbueros unter der Aufsicht eines internationalen beratenden Komitees in London. Diese lose Form, von den Englaendern nach ihrer empirischen Methode entwickelt, ist besonders geeignet, den Kontakt zwischen ost- und westeuropaeischen Parteien trotz Differenzen aufrechtzuerhalten, und damit den Sozialdemokraten Osteuropas im Kampf um die Bewahrung ihrer Unabhaengigkeit einen Rueckhalt zu geben, und das ist eine ihrer wichtigsten Funktionen in englischen Augen. Auf Grund der Haeufigkeit der Konferenzen und der Rolle der sozialistischen Parteien in den Regierungen von fast ganz Europa kann diese Zusammenarbeit dennoch allmaehlich mehr praktische Bedeutung gewinnen, als die anspruchsvolleren Funktionen der alten Internationale, und die Einschaltung der SPD wird daher nicht nur moralischen, sondern auf laengere Sicht auch praktisch-politischen Wert haben.


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/Zur Veroeffentlichung/

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands trat am 19. Nov. 1946 in Frankfurt/Main zu einer Sitzung zusammen. Im Mittelpunkt der Beratungen stand die Not des deutschen Volkes, vor allem die Ernaehrungslage in den Industriegebieten.

In einem Telegramm an den Kontrollrat fordert der Parteivorstand entscheidende und sofortige Massnahmen zur Erfassung der deutschen Ernte und erbittet die Erweiterung der internationalen Ernaehrungshilfe fuer Deutschland.

In einem Appell werden die Sozialdemokraten zum energischen Eingreifen gegen den inneren Feind aufgerufen, der Deutschland ins Chaos treibt.

Die Beratungen der Aussenminister zur Vorbereitung des Friedensvertrages mit Deutschland, die Wiederaufnahme internationaler sozialistischer Verbindungen und die sozialdemokratische Englanddelegation fuehrten zu einer aussenpolitischen Aussprache und zur Bildung eines Ausschusses fuer aussenpolitische Fragen.

Dass das bisherige Entnazifizierungsverfahren voellig unbefriedigt ist und durch entschlossene Abkehr von den bisherigen Methoden geaendert werden muss, wurde einmuetig festgestellt. Eine Kommission soll neue Vorschlaege in Kuerze ausarbeiten.

Ueber die Arbeiten des Verfassungspolitischen Ausschusses der Partei wurde an Hand eines Richtlinienentwurfes ueber den Aufbau von Reich und Laendern diskutiert.

Der gegenwaertige Mitgliederbestand der SPD in den westlichen Zonen und Berlin ist hoeher als am 31. Dez. 1931, wie aus einer Veroeffentlichung der SPD hervorgeht. In den genannten Gebieten verfuegt die Partei ueber 5597 Ortsvereine in 23 Bezirken.

Die Zahl der eingeschriebenen Mitglieder in diesen Bezirken belief sich am 31. Maerz 1946 auf ueber 390.000, waehrend am 30. Juni 1946 528.000 gezaehlt wurden. Am 30. Sept. d[e]s J[ahre]s. war die Mitgliederzahl auf 610.000 angestiegen.


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Editorische Anmerkungen


1 - Der Brief ist eher als offener Brief an die deutschen Emigranten in Schweden zu verstehen. In der Veröffentlichung ("Sopade-Informationsdienst" vom 9.11.1946) lautet der Titel: "Kurt Schumacher an einen Freund".

2 - "Kohlenmoratorium" = die vorläufige Einstellung des Kohlenexports als eines Teils der vorweggenommenen Reparationsleistungen an die Siegermächte.

3 - 15. Juni bis 12. Juli 1946 in Paris.

4 - 1946 hatten die USA schon sehr früh einen Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Zone in Deutschland zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet vorgeschlagen. Im Dezember 1946 wurde in New York das Fusionsabkommen von den beiden Außenministern Byrnes und Bevin unterzeichnet, das im Januar 1947 in Kraft trat. Der in Frankfurt a. M. eingesetzte Wirtschaftsrat (eine Art Wirtschaftsparlament) hatte gewisse legislative Kompetenzen, die allerdings der Genehmigung der beiden Militärregierung unterlagen. Vgl. Christoph Stamm: Die SPD-Fraktion im Frankfurter Wirtschaftsrat 1947-1949. Protokolle, Aufzeichnungen, Rundschreiben, Bonn 1993.

5 - Benannt nach Henry Morgenthau (1891 - 1967). H.M., 1934-1945 US-Finanzminister, entwarf 1944 einen 14-Punkte-Plan, nach dem Deutschland - vergröbert formuliert - zu einem Agrarstaat gemacht werden sollte. US-Präsident Roosevelt zog diesen Plan letztlich zurück.

6 - Obwohl Großbritannien noch nicht seine offizielle Zustimmung zu der Fusion der beiden Besatzungszonen gegeben hatte, arbeiteten deutsche Vertreter aus der Amerikanischen und Britischen Zone schon ab Sommer 1946 entsprechend den Militärregierungsrichtlinien fünf Verwaltungsabkommen für Ernährung und Landwirtschaft, für Verkehr, für Wirtschaft, für Finanzen und für das Post- und Fernmeldewesen aus. Agartz gehörte dem Ausschuss an, der über das Abkommen über die Wirtschaft verhandelte.
Victor Agartz (1897 - 1964), Wirtschaftswissenschaftler (Dr. rer. pol.), seit 1915 Mitglied der SPD, in der Weimarer Republik Tätigkeit für eine Konsumgenossenschaft, Dozent für die Freien Gewerkschaften, in der NS-Zeit Wirtschaftsprüfer, 1944 durch Untertauchen einem Haftbefehl entkommen. Nach 1945 am Wiederaufbau von SPD und Gewerkschaften maßgeblich beteiligt, 1946 Generalsekretär des Zentralamts für Wirtschaft in der Brit. Zone, 1947 Leiter des Verwaltungsamts für Wirtschaft (der Bizone), 1946/1947 MdL NRW, 1947/1948 SPD-Mitglied des Frankfurter Wirtschaftsrates, 1947 ff. Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI) des DGB, nach Differenzen mit dem DGB Ende 1955 Ausscheiden aus dem WWI, 1956 Gründung einer eigenen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsgesellschaft und Herausgabe einer Korrespondenz (WISO), 1957 Prozess vor dem Bundesgerichtshof wegen angeblich verfassungswidriger Beziehungen zu SED und FDGB, trotz Freispruchs 1957 Ausschluss aus der SPD und 1960 aus der IG Druck und Papier.

7 - Vollständiger Name: Verwaltungsamt für Stahl und Eisen, das 1945 von der britischen Militärregierung ins Leben gerufen wurde und das ab Oktober 1946 die Planung und Lenkung der Eisen- und Stahlindustrie in der Britischen Zone übernehmen sollte.

8 - Schon 1944 hatten die Exilregierungen der drei Länder ein gemeinsames Zollabkommen unterzeichnet, das nach und nach ab 1946 realisiert wurde. Aus dem gemeinsamen Zollabkommen entwickelte sich schließlich der Benelux-Vertrag, der eine Wirtschaftsunion von Belgien, den Niederlanden und Luxemburg vorsah (seit 1960).

9 - Thomas Williamson (1897 - 1983), 1945-1948 Labour-MP, 1946-1961 Generalsekretär der National Union of General and Municipal Workers, 1947-1962 Mitglied des General Council und 1956-1957 Chairman des TUC.

10 - Marinus van der Goes van Naters (geb. 1900), niederländischer Rechtsanwalt, SDAP-Mitglied von 1937-1940, 1940-1944 im KZ. 1945-1951 Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten (PvdA), bis 1967 PvdA-Mitglied der II. Kammer, Anhänger der europäischen Einigung.

11 - J. M. Willems (geb. 1909), 1946 führender Funktionär der niederländischen PvdA.

12 - Alsing Andersen (1893 - 1962), dänischer Sozialdemokrat, Mitglied des Folketing, vor 1940 Mitglied des Exekutivkomitees der SAI, 1935-1940 Verteidigungsminister, 1941-1945 Vorsitzender der dänischen Sozialdemokraten, 1947 kurzfristig Innenminister und 1957 bis 1962 Präsident der Sozialistischen Internationale.

13 - Haakon Lie (geb. 1905), 1932-1940 Sekretär des Arbeiterbildungsverbandes, 1945-1967 Generalsekretär der Norwegischen Arbeiterpartei (DNA).

14 - Aaman: Vgl. SM 50, Juni 1943, Anm. 7.

15 - Unto Varjonen (1916 - 1954), gehörte zum rechten Flügel der finnischen Sozialdemokratischen Partei, Gegner der Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten, Parteisekretär und Chefredakteur des Organs der finnischen SP, ab 1948 Mitglied des Reichstags, 1949 Minister.

16 - Adolf Schärf (1890 - 1965), Jurist, trat nach dem I. Weltkrieg der SPÖ bei, bis 1934 rechtsanwaltliche Tätigkeit für die Partei, zeitweise Sekretär des Präsidenten des österreichischen Nationalrates (=Parlament), 1934 unter dem Regime Dollfuß für neun Monate inhaftiert, danach Rechtsanwaltstätigkeit bis 1945, 1938 und 1944 vorübergehend inhaftiert. 1945-1957 SPÖ-Vorsitzender, 1957-1965 österreichischer Bundespräsident.

17 - Zu M. Shulman konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden.

18 - Ivan Matteo Lombardo (geb. 1902), ab 1920 Redakteur des sozialistischen "Avanti", 1922-1925 Militärdienst in Libyen, dann Tätigkeit für verschiedene Handels- und Industrieunternehmungen, 1942 Mitbegründer der illegalen Sozialistischen Partei Italiens, 1943 bis 1944 eingekerkert. 1946 Generalsekretär der PSI, 1945 ff. Unterstaatssekretär, 1948 Minister für Wirtschaft und Industrie.

19 - "Lark": Schreibfehler, gemeint ist Victor Larock (1904 - 1977), 1936-1940 im Höheren Schuldienst, gleichzeitig Mitarbeiter an Zeitungen und Zeitschriften der belgischen Sozialisten, während des Krieges illegale Tätigkeit. 1944-1954 Herausgeber der Parteizeitung "Le Peuple", 1949-1977 sozialistischer Parlamentsabgeordneter, ab 1954 verschiedene Ministerposten, 1958 Autor eines Plans zur Deutschlandfrage und zur deutschen Wiedervereinigung.

20 - Hans Oprecht (1894 - 1978), 1927-1947 Zentralsekretär des Verbandes Personal öffentlicher Dienste (VPÖD), 1925-1963 SPS-Nationalrat, 1936-1953 Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS).

21 - Walther Bringolf (1895 - 1981), 1925-1971 Schweizer SPS-Nationalrat, 1953-1962 SPS-Präsident.

22 - Julian Hochfeld (1911 - 1966), Jurist, Mitglied der polnischen Sozialisten (PPS), Mitarbeit an PPS-Organen, ab September 1939 Widerstandstätigkeit, 1940 Flucht in die SU, dort polnischer Soldat, 1944-1945 in London bei der polnischen Exilregierung. 1945 Rückkehr nach Polen, im Vorstand der polnischen Sozialisten bis zu deren Fusion mit den Kommunisten, später wissenschaftliche Arbeit und ab 1962 bei der UNESCO in Paris.

23 - Ludwik Otto Grosfeld (1889 - 1955), Rechtsanwalt, PPS-Mitglied, 1939 über Rumänien nach Frankreich, 1940 bei der polnischen Exilregierung in Großbritannien, 1945 Rückkehr nach Polen, bis zur vorzeitigen Pensionierung 1949 Tätigkeit im Handelsministerium.

24 - Adam Kurylowicz (1890 - 1966), Eisenbahner, seit 1909 Mitglied der Polnischen Sozialistischen Partei, seit 1918 Mitglied und 1921-1937 Vorsitzender der Eisenbahnergewerkschaft, 1920-1939 im PPS-Vorstand, Sejm-Abgeordneter, Widerstandstätigkeit, 1941-1945 KZ Auschwitz. 1945-1948 im PPS-Vorstand, 1948-1954 im ZK der KP Polens.

25 - Blazej Vilím (1909 - 1976), tschechischer Sozialdemokrat, vor 1939 Sekretär der Metallarbeitergewerkschaft, 1940-1945 KZ Buchenwald. 1945-1948 hohe Funktionen bei CSR-SP, 1948 Flucht nach London, tschechische Exil-SP.

26 - Jirí Hajek (1913 - 1993), Jurist, später auch Historiker, 1939-1945 Zwangsarbeiter in Hamburg und Häftling im Rendsburger Zuchthaus. Nach Kriegsende Funktionär der tschechischen Sozialdemokratischen Partei, 1945-1958 zuerst sozialdemokratischer, dann kommunistischer Abgeordneter in der Nationalversammlung, ab 1946 verschiedene Professuren, 1955-1958 CSSR-Botschafter in Großbritannien, 1958-1962 stellv. Außenminister, 1962-1965 CSSR-Botschafter bei der UNO, 1965-1968 Minister für Schulwesen und Kultur, während des sog. Prager Frühlings Außenminister, 1970 aus der KPTsch ausgeschlossen, ab 1977 Bürgerrechtler und Angehöriger der Bewegung Charta 77.

27 - Arpád Szakasits (1888 - 1965), Tischler, Gewerkschaftsmitglied, 1918 zur Sozialdemokratischen Partei, als Vorsitzender der Bauarbeitergewerkschaft im Kampf gegen das Horthy-System, nach der deutschen Besetzung Ungarns im Widerstand und für einen Waffenstillstand mit der UdSSR. Nach der Befreiung Generalsekretär der ungarischen Sozial-demokraten, nach dem Zusammenschluss von Sozialdemokraten und Kommunisten 1948 1. Vorsitzender der neuen Einheitspartei, 1945-1947 stellvertretender Ministerpräsident, 1948-1950 Staatspräsident, 1951 verhaftet und "wegen Spionage" zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt, 1953 entlassen, 1956 rehabilitiert.

28 - Anna Kethly (1889 - 1976), Angestellte, Mitglied einer Gewerkschaft und der ungarischen Sozialdemokratischen Partei (SPU), ab 1920 deren Vorstandsmitglied, 1939 Generalsekretärin der ungarischen Gewerkschaft der Privatangestellten, Parlamentsmitglied ab 1922, während der deutschen Besetzung Ungarns untergetaucht. Nach Kriegsende stellv. Vorsitzende der ungarischen Sozialdemokratischen Partei, Mitglied der Nationalversammlung, Gegnerin der Fusion von Kommunisten und Sozialdemokraten, 1950-1954 ohne Gerichtsurteil inhaftiert, während des ungarischen Aufstandes 1956 Vorsitzende der wiedergegründeten Sozialdemokratischen Partei und wenige Tage Staatsministerin in der Revolutionsregierung, nach einer Tagung der Sozialistischen Internationale in Wien im November 1956 im Ausland geblieben, ab 1957 im belgischen Exil.

29 - Zoltan Horvåth, ungarischer Sozialist und Herausgeber der sozialdemokratischen Parteizeitung, trotz seiner Befürwortung der Fusion von Kommunisten und Sozialisten 1949 bis 1956 inhaftiert.

30 - "Népszava" = Parteizeitung der ungarischen Sozialisten/Sozialdemokraten.

31 - Serban Voinea, führender rumänischer Sozialist, 1945-1947 rumänischer Botschafter in Paris.

32 - Die vom SPD-Parteivorstand im November 1946 beschlossene Resolution lautete: "Gegen den inneren Feind. Aufruf des Parteivorstandes an die Funktionäre der Sozialdemokratie". Vgl. SPD-Jahrbuch 1946, Göttingen 1947, S. 78-80. Dort ebenso der Wortlaut des Telegramms an den Kontrollrat.



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