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SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN News for German Socialists in England | |
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Nr. 69 - 1944 |
Ende Dezember 1944 |
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Der sechste Kriegswinter hat mit Kämpfen an der deutschen Westgrenze begonnen. Sechs Monate nach der Landung an der Normandie hatten die Alliierten den Oberrhein an der Grenze zwischen Elsass und Baden, das Saargebiet und die Pfalz erreicht und drangen zwischen Aachen und Köln vor, während gleichzeitig russische Heere an der Grenze Ostpreussens und unweit von Warschau standen und im Südosten Kämpfe um Budapest im Gange waren, die den Durchbruch auf Wien vorbereiten sollten. Eine Gegenoffensive Rundstedts ist im Westen gefolgt und hat Anfangserfolge erzielt.[1] Aber die Ueberlegenheit der Alliierten an Mannschaften und Material ist ungeheuer, die Einschliessung Deutschlands und der noch von deutschen Truppen besetzten Länder vollständig, und weder die von Goebbels begonnene "totale Mobilisierung" noch die von Himmler vorgenommene Mobilmachung des "Volkssturms" oder die Gegenangriffe Rundstedts werden an dieser Tatsache etwas ändern können. Die militärische Niederlage des Dritten Reiches mag sich aufhalten lassen, aber sie lässt sich nicht abwenden.
Ueber dem von Verzweiflung und Terror aufgepeitschten und vom Bombenhagel der Alliierten erbarmungslos überschütteten Reich liegt der tiefe Schatten der Ungewissheit. Nicht einmal das Rätsel, was mit Hitler geschehen ist, der seit dem Attentat vom 20. Juli aus der Oeffentlichkeit verschwand, oder aus Göring, der mit ihm verschwunden ist, hat bisher eine überzeugende Antwort gefunden. Werden die Nazis eines Tages dem Beispiel des "Führers" folgen und "unsichtbar" werden; bereiten sie den Rückzug in die politische Unterwelt und in Alpenfestungen für den Guerillakrieg vor?[2] Welche Kräfte werden dann in Deutschland sichtbar werden? Wieviele Opfer
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werden diese Kräfte vorher noch zu bringen haben? Und welche Möglichkeiten werden sie nachher haben, sich zu entfalten?
Das alles sind Fragen, die zwar von Tag zu Tag aktueller werden, aber noch nicht beantwortet werden können. Sie stellen, heisst die Probleme andeuten, die am Ende des europäischen Krieges nach ihrer Lösung verlangen werden.
Die an dieser Stelle seit Jahren immer erneut geäusserte Erkenntnis, dass die Probleme dieses Krieges nicht nur militärische, sondern in gleichem Mass politische sind und dass der Versuch gefährlich ist, die Erkenntnis der Tatsachen durch billige Schlagworte zu ersetzen, ist mit dem Tage seit der Landung der Alliierten auf dem Kontinent erneut bestätigt worden.
Auf den militärischen Triumph der Landung in der Normandie, auf die siegreiche Durchbruchsschlacht und den Zusammenbruch der deutschen Armeen in Frankreich ist eine Versteifung des deutschen Widerstandes und eine Verlangsamung des alliierten Vormarsches gefolgt. Es gibt zweifellos Gründe für die Annahme, dass dieser Wechsel im Tempo nicht nur militärische Ursachen hat, und es haben sich zahlreiche Stimmen erhoben, die auf den Zusammenhang zwischen der Verkündung von Annexions- und Verarmungsplänen gegen Deutschland und Strafdrohungen gegen das ganze deutsche Volk auf der einen Seite und der Wiederbelebung des deutschen Widerstandes auf der anderen Seite hingewiesen haben. Es ist eine Frage, die der Erörterung wert ist. Wenn ihre Klärung dazu beiträgt, der verhängnisvollen Goebbels-Propaganda, dass es buchstäblich um das Sein oder Nichtsein nicht nur jedes Nazis, sonder jedes Deutschen gehe, die "Zufuhr" vom Ausland so abzuschneiden, wie sie der deutschen Kriegsindustrie heute abgeschnitten ist, dann kann sie den Krieg um viele opferreiche Wochen verkürzen helfen.
Auch die andere, von uns seit langem geäusserte Ansicht, dass das deutsche Problem nur ein Teil des europäischen ist, das mit verblichenen nationalen Parolen nicht gelöst werden kann, ist von den Tatsachen mit einem Nachdruck bestätigt worden, der auch die ernstesten Warnungen gerechtfertigt hat. Auf den Jubel der Befreiung ist in Belgien eine ernste politische Krise und in Griechenland ein blutiger Bürgerkrieg gefolgt, in dem die britische Besatzungsarmee gegen eine Widerstandsbewegung kämpfte, die eben noch ihr Verbündeter war.[3]
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Noch sind die Einzelheiten zu ungeklärt, um ein eindeutiges Urteil darüber zu erlauben, wie es zu den beklagenswerten Vorgängen kam und wie sie sich hätten vermeiden lassen. Aber soviel ist klar: In allen Ländern Europas erwarten grosse, entscheidende Massen des Volkes von der Befreiung mehr als die Einsetzung einer aus dem Exil heimgekehrten und von den alliierten Grossmächten gebilligten Regierung. Sie erwarten, dass mit den Faschisten im eigenen Lande aufgeräumt wird, sie verlangen die Beseitigung der sozialen Uebel, die der faschistischen Diktatur überall in Europa Vorschub geleistet haben, und sie wünschen bei aller Anerkennung dessen, was die drei Grossmächte für ihre Befreiung geleistet haben, ihr eigenes Schicksal und die politische Erneuerung ihres Landes selbst mitgestalten zu können.
Das sind die Erkenntnisse, die wir durch die Ereignisse der letzten Zeit erneut bestätigt sehen und denen sich niemand, der sehen will, verschliessen kann. Die Debatten, die vor kurzem im britischen Unterhaus und auf der Jahreskonferenz der Labour Party stattfanden, zeigten die starke Besorgnis, mit der man die Krise auf dem Kontinent zu beobachten beginnt.[4] Es ist eine Befreiungskrise, und niemand konnte erwarten, dass sich der Uebergang von einer jahrelangen totalen Diktatur zu einer neuen Demokratie ohne Reibungen vollziehen wird. Wenn diese Krise dazu nötigt, die Aufmerksamkeit auf die wahren Probleme Europas zu lenken, dann kann sie eine heilsame und reinigende Wirkung haben.
Man spricht von einer neuen Zusammenkunft der leitenden Staatsmänner der drei Grossmächte in naher Zukunft - Churchill hat dies in seiner Rede in Athen erneut unterstrichen[5] - und nichts könnte der Klärung der Weltsituation besser dienen als eine neue Verständigung der "grossen Drei" im Lichte der Entwicklung, die sich seit dem Sommer in Europa vollzogen hat.
Nicht minder wichtig erscheint uns eine Verständigung der Sozialisten aller Länder über europäische Fragen. Die Probleme, die sich für den internationalen Sozialismus aus der Lage in Belgien, Griechenland und Italien, aus dem polnischen und dem spanischen Problem und bald auch aus dem deutschen ergeben würden, lassen eine Neubelebung der Sozialistischen Internationale immer notwendiger erscheinen, je weiter die Befreiung des Kontinents fortschreitet.
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Der Kongress des Britischen Gewerkschafts-Bundes
in Blackpool (vom 16. - 20. Oktober 1944) war von 700 Delegierten besucht, die rund 7 Millionen Mitglieder und 189 angeschlossene Organisationen vertraten.
Der Kongress hatte auf seiner 76. Jahrestagung nicht nur die üblichen gewerkschaftlichen, geschäftlichen und innerpolitischen Probleme zu erörtern, sondern stand unter dem Stern der beabsichtigten "Welt-Gewerkschafts-Konferenz", der als Gast anwesenden russischen Gewerkschaftsdelegation und des Berichtes des englisch-russischen Gewerkschafts-Komitees. Es ist unmöglich, in wenigen Zeilen der Bedeutung dieser Tagung gerecht zu werden. Wir wollen deshalb nur den Auszug aus einer Entschliessung "Die Gewerkschaften und der Krieg" bringen, weil diese Entschliessung weit über die Grenzen der englischen Gewerkschaftsbewegung hinaus auch für die deutsche Arbeiterbewegung von Bedeutung sein wird.
Ueber das Mass der Verantwortung und Mitschuld der deutschen Arbeiterbewegung wurde natürlich heftig debattiert und der Satz einer Entschliessung, dass "das deutsche Volk nicht freigesprochen werden könne von aller Verantwortlichkeit", wurde mit 5.056.000 gegen 1.350.000 angenommen. An einer anderen Stelle heisst es jedoch, dass der Kongress "nicht einem Straf-Frieden das Wort rede noch irgend einer Regelung, die den Hass und die Gegensätze verewigen würde, die die Welt auseinander gerissen haben. Gerechtigkeit müsse getan werden, nicht im Geist der Rache, sondern mit fester Entschlossenheit, solche politischen und wirtschaftlichen Bedingungen niederzulegen, die eine starke Grundlage für den zukünftigen Frieden der Nationen bieten werden."
Volle Garantie für Ordnung und Gesetzlichkeit in der ganzen Welt, volle Abrüstung Deutschlands und die Kontrolle deutscher Industrien, die für Kriegszwecke umgestaltet werden können, sowie die Schaffung einer Organisation der friedliebenden Nationen, um den Frieden erzwingen zu können, seien Notwendigkeiten.
Die Entschliessung bevollmächtigt schliesslich [den] General Council zu einer Anzahl von Massnahmen, die ihrer Bedeutung wegen im Zusammenhang dargestellt werden sollen. [Der] General Council soll
a) eine Politik und ein Programm entwickeln, die es der
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britischen Arbeiterbewegung ermöglichen, vollen Anteil zu nehmen an der Wiederherstellung der internationalen Bewegung;
b) [er] soll die Schaffung einer Gewerkschafts-Internationale fördern, der alle bona-fide-Gewerkschaften[6] angehören sollen;
c) [er] soll auf der bevorstehenden Welt-Gewerkschaftskonferenz die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme untersuchen, die alle gemeinsam betreffen;
d) [er] soll die Prinzipien einer gerechten Behandlung des deutschen Volkes ausarbeiten und soll
e) diese Prinzipien anwenden in der Regelung der Zukunft Deutschlands unter Bedingungen, die die Errichtung einer echten demokratischen Gewerkschaftsbewegung unterstützen und beitragen helfen zur Gründung und Befestigung der Einrichtungen eines freien Bürgertums;
f) [er] soll eine soziale Charter formulieren, enthaltend die sozialen Ideale und Ziele, wie sie aus der Konferenz in Philadelphia zum Ausdruck kamen und dort die Zustimmung der Regierungsvertreter fanden, damit diese Charter in die Friedensverträge eingeführt werden könne.
Die Entschliessung wurde (ohne Stimmenauszählung) mit grosser Mehrheit vom Kongress angenommen.
Gewerkschaften im besetzten Deutschland
Das Oberkommando der Alliierten Streitkräfte hat in einer Rundfunksendung über den Londoner Rundfunk und den Sender Luxemburg am 15. Dezember 1944 an die deutschen Arbeiter mitgeteilt, dass sich die deutschen Arbeiter nach der Zerschlagung der Nazidiktatur in demokratischen Gewerkschaften zusammenschliessen dürfen. Die Botschaft General Eisenhowers erklärt:
"1) Die deutschen Arbeiter werden sich, sobald die Umstände es gestatten, in demokratischen Gewerkschaften zusammenschliessen dürfen. Diese treten an die Stelle der Deutschen Arbeitsfront und anderer Organisationen der Nazi-Partei, die sofort aufgelöst werden. Alle Formen freier wirtschaftlicher Vereinigungen und Zusammenschlüsse von Arbeitern werden zugelassen, sofern sie nicht politische oder militärische Tendenzen annehmen.
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2) Die Wiederherstellung dieses Grundrechts der Vereinigungsfreiheit, das von den Nazis beseitigt wurde, wird den Arbeitern die Möglichkeit geben, mit Arbeitgebern Kollektivverträge abzuschliessen. Streiks, die unmittelbar oder mittelbar die militärische Sicherheit gefährden, werden verboten. Das gleiche gilt für Aussperrungen.
3) Bis auf weiteres bleiben die Löhne auf Grund der jüngsten deutschen Bestimmungen begrenzt.
4) Alle Lohnabzüge und Sammlungen zugunsten der NSDAP oder irgendeiner der aufgelösten ihr angeschlossenen Organisationen werden eingestellt. Abzüge für Sozialversicherungen, Arbeitslosen- und Unfallversicherung, sowie für normale Reichssteuern werden fortgesetzt.
5) Bestehende Gesetze, Verordnungen und Verfügungen, die die Arbeitsmeldepflicht betreffen, bleiben als Notstandsbestimmungen einstweilen in Kraft.
6) Bei der Zuweisung von Arbeitern haben die Besatzungstruppen für ihren Bedarf an Zivilarbeitern den Vorrang. Hierbei wird jedoch weitgehend Rücksicht genommen auf den Bedarf der öffentlichen Dienste, der Versorgungsbetriebe und lebenswichtiger Industrien an Zivilpersonal in Schlüsselstellungen. Die überschüssigen Arbeitskräfte werden bei von der Militärregierung gebilligten Arbeiten eingesetzt werden.
7) Der Alliierte Oberste Befehlshaber wird den von den Alliierten Streitkräften beschäftigten Deutschen angemessene und gerechte Arbeitsbedingungen gewährleisten."
Die Erklärung, dass "alle Formen freier wirtschaftlicher Vereinigungen und Zusammenschlüsse von Arbeitern" zugelassen werden, bedeutet offensichtlich, dass auch demokratische Arbeiterausschüsse, Betriebsvertretungen und Konsumgenossenschaften Betätigungsrecht haben werden.
An unsere Bezieher der "SM"
kann die weitere Zustellung nur erfolgen,
wenn fürs Jahr 1944 ein Beitrag gezahlt worden ist!
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Der Parteitag der Sozialistischen Partei Frankreichs,
der erste nach der Befreiung, der in Paris vom 9. bis zum 12. November stattfand, hat den Beweis erbracht, dass unsere französischen Genossen nicht nur ungebrochen, sondern sogar verstärkt aus der furchtbaren Prüfung ihres Landes hervorgegangen sind. Nach rücksichtsloser Ausschliessung aller derer, die in Vichy für Pétain-Laval gestimmt hatten, haben sie eine mächtige Partei wiederaufgebaut, in der neben den alten Führern, die sich im Kampf gegen den deutschen und den eigenen Faschismus bewährt haben, viele früher kaum oder gar nicht bekannte jüngere Kräfte eine massgebende Rolle spielen. (Diese Gedanken unterstrich auch Louis Lévy, der am 17. Dezember in einer Versammlung der "Union" in London über die politische und wirtschaftliche Lage in Frankreich berichtete.)
Das gilt insbesondere für den jungen ehemaligen Redakteur des "Populaire", Daniel Mayer, der unter den grössten persönlichen Gefahren die Partei in der Illegalität leitete und im Geheimen Nationalen Widerstandsrat vertrat und jetzt als Generalsekretär bestätigt worden ist.
Seine Eröffnungsrede betonte mit erfrischendem Mut den wahrhaft internationalen Charakter der wiederauferstandenen Partei, der übrigens schon in verschiedenen ihrer Kundgebungen aus der Zeit der Besetzung und der Illegalität nie verleugnet wurde.
Das muss umso höher anerkannt werden, als die Partei, wie übrigens das ganze Land, schwere und schmerzlichste Opfer unter der feindlichen Besetzung zu erdulden hatte. Hunderte von den tapfersten Genossen, vor allem ihr grosser und trotz hohem Alter ungebrochener Führer Léon Blum, sind nach Deutschland deportiert worden. (Das gleiche Schicksal haben u.a. die greisen Genossen J. B. Lebas[7], Amédée Dunois[8] erlitten, während andere wiederum seit 4 1/2 Jahren in Kriegsgefangenschaft leben, z.B. der Chefredakteur des "Populaire", O. Rosenfeld[9] und der Sohn Léon Blums[10]. Nicht wenige sind von der SS und Gestapo als politische Geiseln hingerichtet worden, z.B. fast der gesamte Bezirksvorstand in der Gegend Nantes - St. Nazaire.)
Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn die Stimmung der französischen Genossen gegenüber dem deutschen Nachkriegsproblem durchaus kritisch ist.
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Dies ging aus verschiedenen Reden auf dem Parteitag, namentlich aus der des Genossen S. Grumbach[11], deutlich hervor. Aber umso höher ist es anzuerkennen, dass unsere französischen Freunde, trotz aller Leiden und Opfer, sich nicht [in] jenen engstirnigen Chauvinismus drängen lassen, der anderswo auch in der sozialistischen Welt sein Unwesen treibt.
Deutsche Sozialdemokraten dürften wohl vorbehaltlos mit den Grundgedanken und grösstenteils auch mit der Formulierung der Sätze des Schlussmanifestes des französischen Parteitages zum deutschen Problem einverstanden sein:
"... Nach einer Ausrottung aller Nazi-Institutionen muss Deutschland von den Alliierten völlig besetzt und entwaffnet werden, seine Schwerindustrie sozialisiert und von den europäischen Nationen verwaltet werden, der Grossgrundbesitz aufgeteilt werden, die Verwaltung dezentralisiert, die Kriegsverbrecher bestraft, das Erziehungswesen und die Presse umgewandelt und kontrolliert werden in der Hoffnung, dass eines Tages die demokratischen Elemente und die Arbeitermassen in Deutschland selber aus Deutschland eine menschliche [und] friedliebende Nation machen werden. Aber die Sozialistische Partei betrachtet es als ihre Pflicht, die Aufmerksamkeit Frankreichs auf die Gefahren der nationalistischen Revanche zu lenken, die jede Zerstückelung Deutschlands oder jede Annexion deutschen Gebietes hervorrufen würde."
Ein Begrüssungsschreiben an den französischen Parteitag
richtete im Namen der deutschen Sozialdemokraten Genosse Hans Vogel an den Generalsekretär der SFIO, Daniel Mayer, nach Paris mit folgendem Wortlaut:
"Werter Genosse,
im Namen des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil bitte ich Sie aus Anlass des ersten Kongresses Ihrer Partei in einem befreiten und siegreichen Frankreich unsere herzlichsten Glückwünsche entgegen zu nehmen und den Delegierten zu übermitteln.
Wir hätten gewünscht, dass dieser Kongress im Zeichen einer vollständigen Befreiung Ihres Landes, einschliesslich Elsass-Lothringens, stattfinde, aber wir sind überzeugt, dass binnen kurzem nicht ein Eindringling Ihren
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heimatlichen Boden mehr stampfen wird.
Wir hatten schon in den ersten Septembertagen die erste Versammlung unserer Londoner Gruppe der Befreiung von Paris gewidmet und wir hatten dabei die Freude, den Genossen André Blumel in unserer Mitte zu sehen, der so freundlich war, durch seine Anwesenheit und durch seine Ansprache zu bestätigen, dass der französische Sozialismus Wert darauf legt, seinen Charakter als Sektion der Sozialistischen Internationale zu bestätigen.
Wir wissen auch, um welchen Preis an Opfern, Verlusten und Zerstörungen dieser Sieg über Hitler-Deutschland erfochten wurde. Wir neigen uns ehrfurchtsvoll vor Euren Toten, die hinzugekommen sind zu einer endlosen Liste der Opfer des Nazismus, welche in unserem eigenen Land angefangen hat und sich dort, wie Sie wissen, weiter vermehrt.
Wir geben uns keinerlei Illusionen über das Schicksal hin, das nach dem Kriege unserem Lande bereitet wird, auch denen, die gekämpft haben, um die Machtergreifung seiner jetzigen Herrscher zu verhindern. Aber Ihr möget versichert sein, dass, was immer dieses Schicksal sein mag, wir unsere Pflicht der Solidarität gegenüber allen Völkern nicht vergessen werden, die Hitler-Deutschland zum Opfer fielen, und wir geben unsere Hoffnung nicht auf, eine wiederauferstandene Sozialistische Internationale zu erleben, die einen wirksamen Anteil an dem Wiederaufbau einer besseren Welt nehmen wird.
Es lebe die Sozialistische Partei Frankreichs, es lebe die Sozialistische Internationale!"
Unter dieser Ueberschrift beabsichtigt die Wochenschrift "DIE ZEITUNG", Londoner Deutsches Wochenblatt, von Zeit zu Zeit Beiträge zur Diskussion über Problem des künftigen Deutschland zu veröffentlichen. Die Redaktion der Zeitung glaubt, dass auf diese Weise Fragen, deren Bedeutung auf der Hand liegt, wenn auch nicht gelöst, so doch geklärt werden können. Die in regelmässigen Abständen erscheinenden Artikel dieser Diskussionsbeilage geben immer die Meinung des Verfassers, nicht die Meinung der Redaktion wieder. Die ersten Beiträge lieferten die Gen. Rauschenplat und Sering, in der nächsten Nummer schreiben Gen. Möller-Dostali und ein Katholik.
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Die Gruppe Internationaler Sozialisten
unter dem Vorsitz Prof. Harold Laskis hat kürzlich eine weitere politische Erklärung veröffentlicht: Der Wortlaut dieses Manifests ist:
"Der Sieg ist nicht mehr fern. Aber [der] Nazi-Faschismus reisst in seinem Fall die Zivilisation mit in immer tiefere Abgründe der Verwüstung, und zu den Schrecken des Krieges, die wir erlebt haben, kommen nun die Schrecken des Bürgerkrieges. Die Aufgabe, die Menschheit zu retten und die Gesellschaft wieder aufzubauen, wird gewaltig sein.
In diesem historischen Augenblick wollen wir, die Unterzeichneten, Sozialisten aus vielen Ländern, unsere Ueberzeugung aussprechen, dass der Friede verloren gehen wird, wenn der Krieg nicht auf den Grundsätzen beruhen wird, für die der internationale Sozialismus immer eingetreten ist, und dass kein System der internationalen Regelung, in welcher Form immer es geschaffen wird, funktionieren wird und kann, wenn nicht die Volksmassen und vor allem das arbeitende Volk aller Länder an ihr von Anfang an beteiligt sind. Nur die rückhaltlose Mitarbeit der Arbeiter aller Länder ohne Ausnahme kann den Frieden sichern und den Fortschritt ermöglichen.
Die Zwiespältigkeit der ökonomischen und politischen Struktur der Siegermächte birgt die Gefahr der Uneinigkeit in sich. Wenn der Sieg Frieden bringen soll, so müssen wenigstens die Arbeiter einig sein. Die gewaltige Grösse der Aufgabe allein begründet die dringende Notwendigkeit der Einigkeit.
Wir sind stolz auf den ruhmreichen Anteil, den die Arbeiter und die sozialistischen Bewegungen Italiens, Belgiens, Polens, Jugoslawiens und anderer Länder an der Befreiung ihrer Mutterländer und Europas gehabt haben. Wir sind voll Freude darüber, dass in einigen dieser Länder die Arbeiter darangehen, die Gestaltung des Friedens und die Verwirklichung der Freiheit in ihre eigenen Hände zu nehmen.
Die erste internationale Aufgabe besteht darin, die eheste Wiederherstellung einer freien und demokratischen Gewerkschaftsbewegung in jedem Lande zu fördern, aus dem der Faschismus verjagt wurde. Durch Erfüllung dieser internationalen Pflicht werden die Arbeiterbewegungen Grossbritanniens und der freien Länder nicht nur ihren Genossen
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Hilfe leisten, sondern auch ihre eigene Zukunft vor der Ansteckungsgefahr chaotischer Arbeitsbedingungen schützen. Zugleich werden sie den Weg für die europäische Demokratie ebnen helfen.
Die britische und die internationale Arbeiterbewegung müssen daher darauf bestehen, dass der Wiederaufrichtung von Gewerkschafts- und Arbeiterorganisationen in keinem befreiten oder von den Verbündeten besetzten Lande Hindernisse in den Weg gelegt werden. Das muss, wie der Vorsitzende in seiner Ansprache an den jüngst abgehaltenen Gewerkschaftskongress ausgeführt hat, auch für Deutschland gelten.
In manchen Ländern ist ein weites Mass von Einheit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung erzielt worden; in Italien ist die Zusammenarbeit auf der Grundlage eines gemeinsamen Aktionsprogramms in der Arbeiterbewegung ohne Unterschied der Partei zustandegekommen. Wir begrüssen alle Zeichen der Einigkeit der fortschrittlichen Kräfte im nationalen Masstabe. Vor allem würden wir wünschen, die Zusammenarbeit aller Arbeiter- und fortschrittlichen Kräfte auf das internationale Gebiet ausgedehnt und hier fest begründet zu sehen.
Wir nehmen den vor kurzem von der britischen Arbeiterpartei gefassten Entschluss zur Kenntnis, ein internationales Komitee einzusetzen, um die Wiederaufrichtung der Sozialistischen Internationale zu erwägen und vorzubereiten, wir nehmen Kenntnis von dem Nachdruck, den die Konferenz der Arbeiterparteien der britischen Völkergemeinschaft auf "die eheste Wiederbelebung der Sozialistischen Internationale nach dem Siege" gelegt hat. Diese Aufgabe gestattet keinen Aufschub, und es liegt in der Natur der Sache, dass Sozialisten aller Länder ohne Ausnahme daran beteiligt sein sollten, genauso wie alle Sozialisten in diesem Kriege für den Sieg über Hitler und den Faschismus eingetreten sind.
Wir erwarten zuversichtlich, dass die wiedererstandenen sozialistischen Parteien in den befreiten Ländern die Einberufung eines Internationalen Sozialistenkongresses zum ehest möglichen Zeitpunkt und auf der Grundlage voller Gleichberechtigung drängen werden. So wird Hoffnung und Vertrauen überall in der internationalen sozialistischen Bewegung wiederhergestellt und dadurch ihre Kraft erneuert werden. Wir hoffen ferner, dass dies der erste Schritt sein kann zur Herstellung einer welt-weiten
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Einigkeit aller Arbeiterkräfte auf der Grundlage echten, internationalen Sozialismus.
Endlich nehmen wir mit Befriedigung zur Kenntnis, dass die internationale Gewerkschaftsbewegung wiederholt die Forderung erhoben hat, dass die Arbeiter volle Partner jeder Friedensregelung sein und den gebührenden Platz in jeder kommenden Weltorganisation einnehmen müssen.
Wir erachten es als unsere Pflicht, mit allem Nachdruck, der uns zu Gebote steht, zu betonen, dass die Arbeiter der Welt weder Frieden und Sicherheit für ihr Heim noch Freiheit und eine bessere Zukunft für ihre Kinder erringen werden, wenn sie nicht dafür sorgen, dass Friede, Sicherheit, Demokratie, wirtschaftlicher Verkehr und Arbeitsbedingungen ebenso wie die anderen Lebensnotwendigkeiten der modernen Welt international organisiert werden.
Wir beharren darauf, dass sie diese internationale Organisation nicht sichern werden, wenn sie sie nicht stützen durch ihre eigene, vereinte internationale Aktion."
Ammon; Karl Ausch, Mildred Bamford, H.N. Brailsford, Jul. Braunthal, F.S. Cocks, M.P., Karl Czernetz, G. Daggar, M.P., Rhys J. Davies, M.P., John Dugdale, M.P.[12], Lord Faringdon, Victor Gollancz, Barbara Ayrton Gould, D.R. Grenfell, M.P, Fr. Horrabin, John Hynd, M.P., W. Jaksch, Harold J. Laski, Louis & Marthe Lévy, Fred Messer, M.P., Nathan, A. Ramos Oliveira, Erich Ollenhauer, Oskar Pollak, Ben Riley, M.P., Victor Schiff, R. Sorensen, M.P., G.R. Strauss, M.P., Tofahrn, Paolo Treves, Hans Vogel, W.N. Warbey, Leonhard Woolf, Robert Young, M.P., Louis de Brouckère.
Die Jahreskonferenz der Labour Party,
die im Frühjahr vertagt wurde, tagte vom 11. bis 15. Dezember in der Central Hall in London und fasste den Beschluss, vor der Neuwahl des Parlaments im nächsten Jahr die Regierung zu verlassen. Der Führer der Labour Party, C. Attlee, M.P., begründete die Entschliessung, die u.a. sagt, dass das deutsche Volk als ganzes nicht von aller Verantwortlichkeit für die Verbrechen freigesprochen werden könne, die in seinem Namen begangen wurden; es sei daher nur gerecht, dass es Wiedergutmachungen zu leisten habe. Die Entschliessung über die internationale Nachkriegspolitik der LP brachten wir bereits in Nr. 62.[13]
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Gegen verleumderische Angriffe
Aus Anlass einiger kürzlich in der Oeffentlichkeit erhobener Beschuldigungen gegen den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hans Vogel, und andere deutsche Sozialdemokraten in England geben die Mitglieder der Londoner Ortsgruppe der SPD ihrem Abscheu vor einer politischen Kampfesweise Ausdruck, die an die Stelle der Diskussion Fälschung, Verleumdung und Denunziation setzt.
Sie verurteilen aufs entschiedenste eine Taktik, die unter Verwendung entstellter oder erfundener Zitate Hitlergegner, weil deren Auffassungen über die Probleme Deutschlands und Europas mit den neuesten Auffassungen der Beschuldiger nicht übereinstimmen, als Helfer Hitlers und Gegner des alliierten Kampfes gegen Nazi-Deutschland verächtlich und verdächtig machen will.
Wir deutschen Sozialdemokraten sind immer Anhänger des Rechtes freier Diskussion, auch in unseren eigenen Reihen, gewesen und sind der Ueberzeugung, dass auch die Frage der Zukunft Deutschlands Gegenstand freier Diskussion sein soll.
Wir wissen, dass Beschuldigungen der genannten Art deutsche Sozialdemokraten nicht treffen können, am allerwenigsten, wenn sie aus Kreisen stammen, deren Haltung zum Kriege gegen Hitler lange genug mehr als zweifelhaft war. Dennoch erheben wir gegen den begonnenen Denunziationsfeldzug Einspruch, weil seine Fortsetzung uns jede menschliche Gemeinschaft und jede Zusammenarbeit mit den Urhebern und Wortführern einer solchen Kampagne auf immer unmöglich machen würde.
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Im Zusammenhang mit den oben gekennzeichneten verleumderischen Angriffen in der "Freien Tribüne" gegen die deutsche Sozialdemokratie und im Hinblick darauf, dass Karl Rawitzki noch immer Mitglied des Redaktionskomitees der "Freien Tribüne" ist, stellen wir noch einmal fest, dass Karl Rawitzki seine Funktionen in dem Komitee "Freies Deutschland" in London niemals im Auftrage oder mit Zustimmung der Partei ausgeübt hat.
Wir sehen jetzt in den unter seiner Mitverantwortung in der "Freien Tribüne" erschienenen unsachlichen Angriffen gegen die Partei den Beweis, dass Karl Rawitzki sich ausserhalb der Gemeinschaft der SPD-Emigration gestellt hat.
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Die verleumderischen Angriffe der "Freien Tribüne"
richteten sich auch gegen unseren Genossen Fritz Heine. Da die von Fritz Heine eingeschickte Richtigstellung von der Redaktion der "Freien Tribüne" nicht im Wortlaut gebracht wurde, geben wir diesen Brief unseren Lesern und Freunden hiermit zur Kenntnis:
"An die Redaktion 'Freie Tribüne', London, N.W.3.
In Ihrer Oktober-Ausgabe bringen Sie 'Drei Beispiele zur Politik des Sozialdemokratischen Parteivorstandes'. Eines dieser drei Beispiele ist ein 4-Zeilen-Brief von mir, mit einer beigefügten 20-Seiten-Analyse, in der einer meiner Freunde seine Gedanken zur kommenden Neuordnung niederlegt.
Ich stelle fest: 1) Sie benutzen eine auf nicht korrekte Weise in Ihren Besitz gekommene Postsendung zu einer ungerechtfertigten, verleumderischen Attacke. 2) Sie behaupten fälschlich, die private Denkschrift eines meiner Freunde sei symptomatisch für die Politik des Parteivorstandes. 3) Sie verkehren die Tendenz der Analyse in ihr Gegenteil durch Wiedergabe aus dem Zusammenhang gerissener 'Zitate'. 4) Sie machen falsche Angaben über meine Tätigkeit.
Ich erwarte, dass Sie diesen Brief Ihren Lesern in der nächsten Ausgabe Ihrer Zeitschrift zur Kenntnis bringen."
B. F. Heine
Fast 100.000 Flüchtlinge in der Schweiz
Nach einem Bericht der "Neuen Zürcher Zeitung" befinden sich nach dem Stande vom 1. Nov. 1944 98.000 Emigranten und Flüchtlinge in der Schweiz, davon sind allein rund 8.000 im Oktober 1944 eingetroffen. Die Schweizer unterscheiden zwischen den 7.500 Emigranten, die vor Kriegsbeginn einreisten und unter einem besonderen Statut stehen, und den später gekommenen Flüchtlingen. Aus einem halben Dutzend Ländern sind rund 40.000 Militärpersonen, darunter 510 deutsche Deserteure, eingetroffen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge befindet sich in Arbeits- und Internierungslagern, über 7.000 sind in Flüchtlingsheimen, über 2.000 stehen im Arbeitseinsatz und fast 800 haben Erlaubnis zum Universitätsstudium. Die Mehrzahl der Flüchtlinge ist erst in den Jahren 1943 und 1944 in [der] Schweiz eingetroffen.
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Deutsche Gewerkschafter in [den] USA
Unter dieser Ueberschrift brachten wir in Nr. 65/66 der SM eine Mitteilung über die Bildung eines deutschen Gewerkschafts-Komitee in [den] USA. Dazu wird uns von unserer German Labor Delegation mitgeteilt, dass neun von uns aufgeführte bekannte Gewerkschafter an dieser Neugründung nicht mitarbeiten, nämlich Alfred Braunthal, Rich. Hansen, Paul Levy, Martin Plettl, Willy Snell, Albert Grzesinski, Wilhelm Sollmann, Hans Unterleitner und Georg Reinbold. Die Genossen Braunthal und Hansen gehören der German Labor Delegation an, Paul Levy, Martin Plettl und Willy Snell sind ihr beigetreten.
Für die American Federation of Labor hat ihr Vizepräsident Matthew Woll, der die Abteilung der auswärtigen Verbindungen und des gewerkschaftlichen europäischen Wiederaufbaus unter sich hat, erklärt, dass sich die AFL auch in Zukunft an ihre der German Labor Delegation am 28. Februar 1940 erteilte offizielle Anerkennung gebunden betrachtet und mit dem neuen Gewerkschaftskomitee unter der Leitung Siegfried Aufhäusers keine Beziehungen unterhalten wird.
Die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter
in Gross-Britannien hielt am 30. und 31. Dezember 1944 in der Caxton Hall in London ihre erste Delegierten-Versammlung ab. Sie war von 64 Vertretern aus London, Manchester, Yorkshire, Birmingham, Glasgow, Peterborough, Bristol, Gloucester, North Wales und Südengland besucht. Unter den 18 Gästen befanden sich der Generalsekretär der Transportarbeiter-Internationale Oldenbrook. Für den IGB hatte Gen. Schevenels ein Begrüssungsschreiben an die Konferenz geschickt. Kollege Gottfurcht erstattete den Geschäftsbericht, Kollege Schoettle den Bericht über die politische Erklärung und das Programm der Landesgruppe, und die Kollegen [!] Becker leiteten die Debatten ein zum Abschnitt "Wiederaufbau der Gewerkschaften", Rauschenplat zum Abschnitt "Erziehung", Gottfurcht (in Vertretung des Kollegen Berkow) zum Abschnitt "Sozialpolitik" und Kollege Schilde zum Abschnitt "Wirtschaftspolitik". Kollege Tofahrn sprach über den Wiederaufbau der internationalen Gewerkschaftsbewegung und die Welt-Gewerkschaftskonferenz.
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Ein informatorisches Landestreffen
von Parteigenossen und Gesinnungsfreunden brachte am 29. Dezember etwa 30 Genossen aus den verschiedensten Teilen Englands mit Mitgliedern des PV und des Londoner Ausschusses der SPD zusammen. Gen. Dr. Ernst Meyer, Cambridge, der als Korrespondent der Schweizer sozialdemokratischen Presse kürzlich zweimal in Frankreich und Paris war, erstattete einen Bericht über die Lage in Frankreich. Erich Ollenhauer konnte ergänzende Mitteilungen über unsere neu gebildete Parteigruppe in Paris und Bestrebungen in Belgien machen. Ferner berichtete er über die letzten Berichte aus dem Dritten Reich, die ein deutscher Sozialdemokrat, Freund und Mitarbeiter Leuschners[14], der am Unternehmen des 20. Juli beteiligt war und sich rechtzeitig der Verhaftung durch die Gestapo entziehen konnte, erstattet hatte und die bisher nicht veröffentlicht wurden. Ueber unsere Gewerkschaftspolitik gab Genosse Gottfurcht einen Kurzbericht. Auf verschiedene Anfragen und Wünsche teilte der Sitzungsleiter, Gen. Wilh. Sander, mit, dass die nächsten "SM" einige der im Referat behandelten Berichte aus dem Dritten Reiche veröffentlichen werden.
Die "Baseler Arbeiterzeitung"[15] vom 4.11.44 brachte eine Notiz, dass der ehemalige badische Reichstagsabgeordnete der SPD, Stephan Meyer, in einem Konzentrationslager gestorben ist.[16] Das Blatt fügt hinzu, dass er nach längerer Gefängnisstrafe ins KZ kam. Seinen Angehörigen wurde mitgeteilt, er hätte vor einem halben Jahre entlassen werden können, falls er ein Gnadengesuch gemacht hätte. "Er zog es aber vor, im KZ zu sterben, weil er es ablehnte, um Begnadigung zu bitten!" - Die "Neue Volkszeitung" in New York berichtet über den Tod des ehemaligen Reichskanzlers Gustav Bauer in Berlin. Privatmeldungen zufolge ist der ehemalige Redakteur Gg. Bayer der Kölner "Rheinischen Zeitung" in Südfrankreich gestorben.[17] Gen. Bayer war seit mehreren Jahren in Toulouse schwer krank. - In Brasilien ist der ehemalige staatsparteiliche Reichsinnen- und Justizminister Koch (Weser) gestorben[18].
Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London N.W.7
Editorische Anmerkungen 1 - Die sog. Ardennenoffensive begann am 16.12.1945 und endete bald (24.12.) nach einigen deutschen Anfangserfolgen. 2 - Alpenfestungen waren in der Tat bei der nationalsozialistischen Propaganda im Gespräch; die Verwirklichung diesbezüglicher Pläne verhinderte der weitere Kriegsverlauf. 3 - Am 15. November 1944 hatte die belgische Regierung eine Aufforderung an die belgische Widerstandsbewegung gerichtet, alle Waffen bis zum 18. d. M. abzuliefern. Durch den darauf folgenden Rücktritt zweier kommunistischer Minister kam es zu einer Kabinettskrise. Die Belgische Kommunistische Partei hatte eine Widerrufung der Entwaffnung verlangt. 4 - Die Jahreskonferenz der Labour Party hatte vom 11. bis zum 15.12.1944 in London stattgefunden. 5 - Churchill war während der Weihnachtstage 1944 in Athen gewesen. 6 - 'bona-fide' hier im Sinne von antifaschistisch. 7 - Jean-Baptiste Lebas (1878 - 1944), französischer sozialistischer Politiker und Parlamentarier, 1936/37 Arbeitsminister und 1937/38 Postminister in den Kabinetten Léon Blums, 1940 in der Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer, 1941 durch die Gestapo verhaftet, nach Deutschland verschleppt. Im KZ Sonnenburg (bei Berlin) umgekommen. 8 - Amédée Gabriel Dunois (1878 - 1945), französischer Sozialist und Marxist, Historiker und Publizist, nach dem I. Weltkrieg zeitweise Kommunist, verließ 1927 die Kommunistische Partei und schloss sich der SFIO an. Ab 1940 in der Widerstandsbewegung, 1944 durch die Gestapo zum zweiten Mal verhaftet; auf dem Transport ins KZ Bergen-Belsen im Februar 1945 umgekommen. 9 - Oreste Rosenfeld (1891 - 1964), russischer Herkunft, schloss sich im Alter von 13 Jahren der russischen Sozialdemokratie an, wurde im Alter von 15 Jahren vom Gymnasium ausgeschlossen und mehrere Monate inhaftiert, 1914 freiwillige Meldung zum Militär, während der Kerenski-Regierung (1917) Militärattaché an der Russischen Botschaft in Paris, nach dem Frieden von Brest-Litowsk Bruch mit dem neuen Regime in Russland, kämpfte dann als Offizier für die Entente in Frankreich, 1936 französischer Staatsbürger, schloss sich der SFIO an und arbeitete als Journalist, Spezialist für den Kommunismus, 1939 erneut Offizier, 1940 gefangengenommen, verbrachte er 5 Jahre in einem Kriegsgefangenenlager in Lübeck. Ab 1945 wieder journalistische Tätigkeit (u. a. bei "Le Populaire"), nach Konflikten wegen der Algerienpolitik der SFIO Gründung einer eigenen linken sozialistischen Partei (1956). 10 - = Robert Blum (1902 - 1975). 11 - Salomon Grumbach (1884 - 1952), französischer Sozialist aus dem Elsass, 1902 Mitglied der SPD, ab 1908 Korrespondent des "Vorwärts" in Paris, Mittlerfunktion zwischen SPD und SFIO, nach 1914 in der Schweiz Korrespondententätigkeit für SFIO-Zeitungen, nach dem I. Weltkrieg SFIO-Mitglied, in den 20er und 30er Jahren Mitglied der Nationalversammlung, 1940/1941 inhaftiert, schloss sich 1942 der Résistance an, 1945/1946 wieder Parlamentsabgeordneter. 12 - John Dugdale (1905 - 1963), Labour-MP seit 1941, vorher Mitarbeiter von C.Attlee. 13 - Vgl. SM Nr. 62, Mai 1944, S. 5 "Internationale Nachkriegspolitik der Labour Party" 14 - Bei dem Freund und Mitarbeiter Wilhelm Leuschners handelt es sich um Willy Jesse (1897 - 1971). W. Jesse war vor 1933 SPD-Funktionär; bei einer Verhaftung nach dem Juli-Attentat 1944 konnte er entfliehen und über Kopenhagen nach Schweden entkommen. 1945 Rückkehr nach Deutschland (Rostock). Als Gegner der Zwangsvereinigung von SPD und KPD verhaftet, langjährige Haft in der SBZ und Sibirien. 1954 in die BRD entlassen, dann Mitarbeiter beim PV der SPD in Bonn. 15 - "Arbeiterzeitung", von 1925 bis 1928 "Basler Arbeiterzeitung" = sozialdemokratische Tageszeitung in Basel Stadt und Basel Land. 16 - Stefan Meier (1889 - 1944), Kaufmann, SPD-MdR 1924-1933, 1933/34 im KZ, 1941 wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, anschließend KZ Mauthausen, dort ermordet. 17 - Georg Beyer (1884 - 1943), sozialdemokratischer Redakteur und Schriftsteller, seit 1917 an der "Rheinischen Zeitung" in Köln, 1933 Emigration in das Saargebiet, redigierte dort bis 1935 mit seinem Freund Wilhelm Sollmann die Tageszeitung "Deutsche Freiheit", 1935 nach Frankreich, dort unheilbar erkrankt (völlige Lähmung), 1936 ausgebürgert. 18 - Erich Koch-Weser (1875 - 1944), deutscher Politiker (Deutsche Demokratische Partei bzw. später Deutsche Staatspartei), 1919-1920 MdNV bzw. MdR, 1919-1921 Reichsinnenminister, 1928-1929 Reichsjustizminister, 1933 Emigration nach Brasilien. |