SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

News for German Socialists in England

This Newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

Nr. 55/56 - 1943

Mitte November

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Ueber die internationale Politik deutscher Sozialisten

hat die "Union deutscher sozialistischer Organisationen in Grossbritannien" am 23. Oktober 1943 folgende Erklaerung beschlossen:

1. Als internationale Sozialisten erstreben wir eine internationale Ordnung, die die Ursachen kriegerischer Konflikte beseitigt. Wir sehen in der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung und in den anderen demokratischen Bewegungen, vor allem der Bauern und der Intellektuellen, die entscheidenden Kraefte fuer die Erreichung dieses Zieles. Wir erstreben die engste Zusammenarbeit der organisierten Arbeiterschaft aller Laender in einer neuen internationalen Organisation, die eine gemeinsame Politik der sozialistischen Arbeiterbewegung erarbeitet und verwirklicht.

2. Wir setzen uns ein fuer eine Foederation aller europaeischer Voelker, da die volle nationalstaatliche Souveraenitaet nicht laenger mit den wirtschaftlichen und politischen Existenzbedingungen in Europa vereinbar ist. Es ist ein Lebensinteresse der deutschen und europaeischen Demokraten und Sozialisten, dass der Frieden Europas durch die Zusammenarbeit der Britischen Voelkergemeinschaft, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika eine stabile Grundlage erhaelt. Nur in der freundschaftlichen Zusammenarbeit mit allen diesen Maechten, nicht in Anlehnung nur an eine oder die andere Seite, kann sich ein einiges und freiheitliches Europa entwickeln.

In der Schaffung von Foederationen, die nur Gruppen von Voelkern umfassen, sehen wir nur dann eine Friedenssicherung, wenn sie sich einer internationalen Organisation ein- und unterordnen.

3. Die Aussenpolitik deutscher Sozialisten nach dem Krieg muss in erster Linie der Eingliederung eines demokratischen Deutschland in eine solche internationale Ordnung dienen.

Fuer den Erfolg einer solchen Politik ist es wesentlich, dass die Grundsaetze der Atlantik-Charter in vollem Umfang auch auf ein demokratisches Deutschland Anwendung finden. Wir deutschen Sozialisten erkennen die realen Sicherheitsbeduerfnisse der jetzt von den nationalsozialistischen und faschistischen Angreifern ueberfallenen und unterdrueckten Voelker an.

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Wir sind dabei ueberzeugt, dass alle technischen Friedenssicherungen nur dann auf die Dauer wirksam sein koennen, wenn sie eingebaut werden in ein wahrhaft internationales Sicherheitssystem. Dieses System muss eine starke Exekutivgewalt zur Niederhaltung von Angreifern mit weitgehenden Schiedsvollmachten zur friedlichen Beilegung von Konflikten vereinigen. Ein solches System der kollektiven Sicherheit wird auch den Frieden und die Sicherheit eines demokratischen Deutschland gewaehrleisten.

Der erste Beitrag eines demokratischen Deutschland zu diesem System wird die sofortige militaerische Abruestung Deutschlands sein. Wir sind ueberzeugt, dass die Vernichtung des deutschen Militaerapparates nicht genuegt. Wir sind entschlossen, die gesellschaftlichen Machtpositionen der wirtschaftlichen und politischen Traeger des deutschen Militarismus durch die Enteignung der deutschen Kriegs-Industrie und des Grossgrundbesitzes und durch den demokratischen Neuaufbau des Verwaltungsapparates von Grund auf zu beseitigen.

Wir betrachten es als eine Ehrenpflicht des kommenden freien Deutschland, an der Wiedergutmachung des Unrechts, das Hitlerdeutschland den Voelkern zugefuegt hat, und am Wiederaufbau Europas mit allen Kraeften mitzuhelfen.

Eine unserer wesentlichen Aufgaben wird es sein, durch eine tiefgreifende Reform des deutschen Erziehungswesens die geistigen und sittlichen Voraussetzungen fuer die Durchfuehrung einer konsequenten Verstaendigungs- und Friedenspolitik der neuen deutschen Demokratie zu schaffen.

Die Gewinnung des deutsches Volkes fuer eine solche Politik haengt in hohem Masse davon ab, dass dem deutschen Volk Gelegenheit gegeben wird, in der Gestaltung seiner inneren politischen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten seiner eigenen Initiative zu folgen.

Vor allem muesste die Auferlegung von Bedingungen, die langandauernde Massenarbeitslosigkeit hervorrufen und eine wirksame Politik der sozialen Sicherheit [verhindern] wuerden, verhaengnisvolle Folgen fuer die innere Entwicklung Deutschlands haben.

4. Wir werden den innerpolitischen Kampf fuer eine solche Aussenpolitik auch nach dem Sturz der Hitlerdiktatur gegen starke reaktionaere Kraefte zu fuehren haben. Wir hoffen, dass wir in diesem Kampf das Vertrauen und die aktive Unterstuetzung der Kraefte der internationalen Arbeiterbewegung und des Friedens und Fortschritts in allen Voelkern finden werden.

London, den 23. Oktober 1943

Union deutscher sozialistischer Organisationen
in Grossbritannien

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Die Moskauer Konferenz der Aussenminister von Grossbritannien, [der] USA und der UdSSR ist ein historisches Ereignis von weittragender Bedeutung[1]. Ihr erfolgreicher Abschluss ist zunaechst eine schwere politische Niederlage Hitlerdeutschlands. Die Hitlerdiktatur weiss seit Monaten, dass keine Aussicht mehr auf einen militaerischen Sieg Deutschlands besteht. Ihre Hoffnung, dem drohenden Untergang zu entgehen, konnte sich daher nur noch auf eine Moeglichkeit stuetzen: Die sogenannte "Festung Europa" solange erfolgreich zu verteidigen, bis die Gegensaetze zwischen den Gegnern Deutschlands eine Chance zu einem ertraeglichen Frieden oder zu einem Sonderfrieden mit dem einen oder anderen Hauptpartner der feindlichen Koalition bieten wuerde. Diese Moeglichkeit muessen nun die Nazis auch als eine leere Hoffnung abbuchen. Die drei Grossmaechte werden den Krieg gegen Hitlerdeutschland gemeinsam und mit noch groesserer Konzentration ihrer Kraefte bis zur bedingungslosen Kapitulation fuehren.

Die militaerische Zusammenarbeit wird wesentlich ausgebaut, und fuer die gemeinsame Beratung aller sich aus dem weiteren Verlauf des Krieges ergebenden europaeischen Probleme wird in London eine Kommission eingesetzt, bestehend aus Vertretern der drei Grossmaechte, die ihren Regierungen gemeinsame Vorschlaege und Anregungen zu unterbreiten haben. Damit wird ein Instrument geschaffen, das neben der einheitlichen militaerischen Planung auch eine gemeinsame politische Kriegsfuehrung ermoeglicht.

Die Konferenz ist aber ueber die Planung fuer eine schnelle und vollstaendige Niederlage der Hitlerdiktatur hinausgegangen. Sie hat bedeutsame Richtlinien fuer eine gemeinsame Friedenspolitik nach dem Krieg aufgestellt. In einer Deklaration, die auch von dem Vertreter Chinas unterzeichnet ist, wird die Schaffung einer allgemeinen internationalen Organisation zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Voelker zum fruehest moeglichen Zeitpunkt als Notwendigkeit erklaert. Die Bedeutung dieser Erklaerung kann kaum ueberschaetzt werden, denn so allgemein sie auch hinsichtlich der Aufgaben und der Form dieser internationalen Organisation gehalten ist, sie enthaelt die Tatsache, dass in dieser neuen internationalen Organisation zur Sicherung des Friedens neben dem britischen Weltreich auch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion aktiv mitwirken werden. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung geschaffen, dass der neue Voelkerbund zu einem wirklich umfassenden Bund aller Nationen werden kann. Alle vier Maechte uebernehmen darueber hinaus die Verpflichtung, in der Zeit bis zur Schaffung dieser permanenten Organisation die Aufrechterhaltung des Friedens durch gemeinsame Massnahmen zu sichern. Mit diesem Beschluss ist die Basis fuer eine internationale Organisation des Friedens gelegt, die breiter ist als das Fundament, auf dem

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nach dem Ersten Weltkrieg der Voelkerbund begruendet wurde.

Die Moskauer Beschluesse sind noch in einem anderen wesentlichen Punkt vom demokratischen und sozialistischen Standpunkt aus ermutigend und hoffnungsvoll. Wir meinen jenen Beschluss, der in unmissverstaendlichen und eindeutigen Formulierungen die innerpolitische Zukunft Italiens behandelt. Die sieben Punkte, die die alliierte Politik gegenueber Italien behandeln, sind ein Aktionsprogramm zur Liquidierung des Faschismus und fuer den Aufbau einer demokratischen Ordnung, das die schwere Aufgabe, vor der die italienischen Antifaschisten bei der demokratischen Neugestaltung ihres Landes stehen, wesentlich erleichtern kann. In einer solchen Demokratie wird es dann auch moeglich sein, jene wirtschaftlichen und sozialen Massnahmen durchzufuehren, die dem italienischen Volk soziale Sicherheit und Schutz vor neuen reaktionaeren Entwicklungen aus sozialen oder wirtschaftlichen Gruenden bieten.

Es ist klar, dass die Moskauer Konferenz bei weitem nicht alle Probleme geloest hat, die dieser Krieg aufgeworfen hat oder die nach der Niederlage Hitlerdeutschlands geloest werden muessen.

Wir finden in den Moskauer Beschluessen keine Hinweise auf Entscheidungen, die die zukuenftige Organisation Europas betreffen. Fragen der Grenzziehung, der engeren staendigen politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Voelker Europas, der Schaffung von Foederationen von Gruppen europaeischer Voelker, Loesung der Minderheitsprobleme, alles Fragen, die ausserordentlich kompliziert und diffizil sind und die von den unmittelbar Beteiligten leidenschaftlich diskutiert werden, sind in den veroeffentlichten Beschluessen d[er] Konferenz nicht behandelt. Es ist anzunehmen, dass sie tatsaechlich noch nicht entschieden wurden.

Nur in einem Falle wird eine Ausnahme gemacht. Die Konferenz hat die Wiederherstellung eines unabhaengigen und freien Oesterreich als eines der Kriegsziele der Alliierten erklaert. Mit dieser Erklaerung wird auch die erste gewaltsame Hitler-Annexion, die wir deutschen Sozialdemokraten schon im Maerz 1938 als Annexion und als ersten Schritt der Hitlerschen Gewaltpolitik nach aussen bezeichnet haben, fuer null und nichtig erklaert. Dabei war sich offensichtlich die Konferenz darueber klar, dass das Problem der Lebensfaehigkeit eines selbstaendigen Oesterreich mit der Wiederherstellung seiner Selbstaendigkeit nicht geloest ist, denn es wird hinzugefuegt, dass mit der Wiederherstellung der Selbstaendigkeit der Weg geoeffnet werden soll, um dem oesterreichischen Volk wie seinen Nachbarstaaten, die vor gleichen Problemen stehen, die politische und soziale Sicherheit zu geben, die die einzige Basis fuer einen dauernden Frieden sei.

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wird sich auch mit diesen praktischen Fragen der Organisation Europas nach dem Krieg zu beschaeftigen haben. Es waere toericht zu leugnen, dass gerade in diesen Punkten sowohl unter den drei Grossmaechten als auch im Kreise der unmittelbar Beteiligten, der europaeischen Alliierten der drei Grossmaechte, ernste und schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten bestehen. Sie zu ueberwinden und die Probleme so zu loesen, dass das neue Europa nicht das dauernde Experimentierfeld der neuen internationalen Organisation zur Sicherung des Friedens wird, sondern eine der tragenden Kraefte dieses neuen Voelkerbundes, wird zu den schwierigen praktischen Aufgaben gehoeren, die auf dem Weg zu der angekuendigten neuen internationalen Ordnung zuerst geloest werden muessen. Ueber den Anteil der Mitwirkung der europaeischen Voelker an der Gestaltung ihres Kontinents wird nichts ausgesagt, aber ein freies und friedliches Europa kann nur entstehen, wenn die befreiten europaeischen Voelker an den Diskussionen und Entscheidungen ueber ihre Zukunft von Anfang an beteiligt werden.

Den weitesten und haertesten Weg in die neue Gemeinschaft der Voelker, die die Moskauer Dokumente versprechen, wird das deutsche Volk zurueckzulegen haben. Heute wird es repraesentiert durch die Hitlerdiktatur, ihre Kriegsmaschine und ihr Terrorregiment ueber Europa. Fuer dieses Deutschland gibt es in dem Moskauer Dokument nur klare und eindeutige Bedingungen: bedingungslose Kapitulation, Abruestung und Bestrafung der Kriegsverbrecher. Dieses Schicksal der schuldbeladenen Gewalthaber des Dritten Reiches ist nun unabwendbar und unausweichlich. Es bedeutet das Ende eines Regimes, das zuerst in Deutschland selbst und dann in ganz Europa Gewalt vor Recht setzte und aus freien Menschen Sklaven zu machen suchte.

Dieses System wird stuerzen, aber das deutsche Volk wird weiter leben. Die Moskauer Dokumente lassen erkennen, wie furchtbar die Erbschaft sein wird, die das Hitlerregime dem deutschen Volk zuruecklassen wird. Fuer das kommende freie und demokratische Deutschland gibt es in dieser Lage nur eine Moeglichkeit, die Last zu vermindern und den Weg in die Gemeinschaft freier Voelker zu verkuerzen. Es muss das Ende der Hitlerdiktatur sichtbar zu einem gemeinsamen Resultat der militaerischen Anstrengungen der Alliierten und des aktiven Widerstandes der deutschen Antifaschisten werden lassen.

Der aktive Anteil der deutschen Antifaschisten an der Verkuerzung des Krieges und am Sturz der Hitlerdiktatur wird am Ende des Krieges die einzige Legitimation sein, die dem neuen Deutschland ertraegliche Bedingungen fuer sein Aufbauwerk zu sichern und ihm einen Platz in der Gemeinschaft der freien Voelker Europas und der Welt zu verschaffen vermag.

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9. November. 1918 - 1943

Die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Gross-Britannien hatte am Abend des 9. November zu einer gut gelungenen und stark besuchten Veranstaltung geladen, um "Rueckblick und Ausschau" zu halten.

Dr. Friedrich Berend spielte einen Sonatensatz von Beethoven und die Sieges-Symphonie aus "Egmont". Dora Segall und Erich Freund[2] sprachen Worte von Freiligrath[3], Bert Brecht[4], Bruegel[5], Bauer[6] und Doberer[7]. Im Mittelpunkt dieser wuerdigen Erinnerungsfeier stand eine Ansprache unseres Genossen Hans Gottfurcht. Er sagte u.a.:

Wir gedenken nicht nur der deutschen, sondern aller Revolutionen, die den Weltkrieg abschlossen. Wir denken nicht zuletzt an die russische Revolution. Zu sprechen haben wir jedoch vor allen Dingen ueber das, was uns unmittelbar betrifft. Wir waehlen weder die selbstgefaellige Redensart, "wie haben wir das alles gut gemacht", noch die primitive Formel, "dass alles nichts getaugt" habe.

Wir haben zu erkennen, dass wir vieles im ersten Anlauf erreichten, viel mehr zu erreichen gewesen waere und manches Unerreichbare ertraeumt wurde. Wir haben zu erkennen, dass aeussere Einfluesse und eigene Fehler zum Ablauf der Ereignisse beigetragen haben.

Unsere politische Revolution wurde nicht weiter entwickelt zur sozialen Revolution. So wie nach diesem Krieg die Beseitigung des Nazismus ohne Beseitigung seiner sozial-oekonomischen Hintergruende fruchtlos bleiben muesste, so krankte die deutsche Republik von Anbeginn an ihren Halbheiten. Die Fortsetzung der Blockade und die Grippeepidemie, Strassenkaempfe und Wirtschafts-Zerruettung, Kapp-Putsch und mitteldeutsche Unruhen, Inflation und Ruhrkampf fuehrten zum 9. Nov. 1923.[8]

Die Schein-Wohlstands-Periode war nur ein kurzer Uebergang zur wiederbeginnenden Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Hitlers Machtergreifung. Die Uneinigkeit der Arbeiter-Bewegung trug einen erheblichen Schuldanteil. Doch vergessen wir nicht, dass der Weltkampf der Wirtschafts-Imperien die Machtergreifung des Nationalsozialismus beguenstigte. Wir gedenken heute aller der Opfer der Arbeiter-Bewegung, die im Kampf gegen Reaktion und Terror fielen. Wir gedenken der Opfer dieses Krieges und wir geloben, alles in unserer Kraft Stehende zu tun, um das Werk, das in den November-Revolutionen des Jahres 1918 begonnen wurde, nach dem Ende dieses Krieges zu vollenden. Wir wissen, dass wir den National-Sozialismus, den Militarismus und die wirtschaftlichen Hintergruende zu beseitigen haben. Wir kaempfen fuer die Demokratie, um auf demokratischem Kampfboden weiter kaempfen zu koennen fuer das sozialistische Endziel. Wir hoffen und glauben, dass eine einige Arbeiter-Bewegung Traeger dieses Kampfes sein wird.

Mit dem gemeinsamen Gesang der "Internationale" fand diese Feierstunde deutscher Gewerkschafter und Sozialisten in London zur Erinnerung der Umwaelzung vor 25 Jahren ihren Abschluss.

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Dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sitz London, [ist] in den letzten Wochen wieder eine Anzahl von Berichten zugegangen, die die materiellen und moralischen Wirkungen der grossen Luftoffensive der RAF gegen Hitlerdeutschland im Spaetsommer und Herbst 1943 behandeln.

Zwei schwedische Staatsbuerger, die viele Jahre in Hamburg gelebt haben, sind nach den Angriffen auf Hamburg jetzt nach Schweden zurueckgekehrt. Sie erklaeren, dass die Zerstoerung[en] in der Stadt einfach unvorstellbar sind. Ganze Stadtteile bestehen nicht mehr. Das bekannte grosse Kaufhaus Karstadt wurde durch eine einzige grosse Bombe dem Erdboden gleichgemacht. In dem unter dem Warenhaus befindlichen Luftschutzraum waren zur Zeit des Angriffes etwa 800 Menschen. Ueber ihr Schicksal ist nichts bekannt. Im Hafen ist die Zerstoerung vollstaendig. Die schwersten Opfer an Menschenleben waren in Rothenburgort, Hammerbrock und Hamm zu verzeichnen. Schon nach dem ersten schweren Angriff trat Wassermangel ein, sodass die Braende nicht geloescht werden konnten. Es gab natuerlich auch kein Trinkwasser. Den Behoerden gelang es jedoch schnell, Wasser und Lebensmittel herbeizuschaffen, so dass niemand zu hungern brauchte. Die erste Reaktion der Bevoelkerung war eine Massenflucht in die umliegenden Waelder. Die Menschen zogen mit allem, was sie tragen konnten, durch die Stadt, um die umliegenden Waelder zu erreichen. Bramfeld, Sauel und die Walddoerfer glichen Zigeunerlagern. Die Menschen uebernachteten zu Tausenden unter freiem Himmel.

Ein Hamburger Seemann erklaert, dass das Hafenviertel vollstaendig vernichtet sei. Kein Kai und kein Kran im Hafen sind unbeschaedigt geblieben. Ausser dem Warenhaus Karstadt sind noch viele andere Gebaeude in der Moenckebergstrasse zerstoert worden. Der Hauptbahnhof und das um ihn liegende Wohnviertel wurden schwer beschaedigt. Das fruehere Gewerkschaftshaus, die Heimstaette des ADGB, ein von den freien Gewerkschaften eingerichtetes Hotel und das Verwaltungsgebaeude der GEG (Gross-Einkaufs-Gesellschaft deutscher Konsumvereine) sind voellig vernichtet. Der Hass der Hamburger, die in ihrer Mehrzahl immer gegen Hitler und sein Regime eingestellt gewesen seien, richte sich gegen das Regime, und jeder wuenscht das Ende der Diktatur und des Krieges. Auch ein dem deutschen Volk aufgezwungener Friede koenne nicht schlimmer sein als der gegenwaertige Zustand. Von Kriegsenthusiasmus oder gar Siegeszuversicht sei unter diesen Umstaenden keine Rede mehr.

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Anderen Berichten aus Hamburg entnehmen wir:
Nach den grossen Angriffen war Hamburg von der Aussenwelt vollstaendig abgeriegelt. Nur Personen, die in der Stadt arbeiten, durften in die Stadt. Niemand durfte die Stadt verlassen. Der Postdienst wurde in der Weise aufrechterhalten, dass die Bevoelkerung sich an bestimmten Sammelstellen einfinden musste, um zu hoeren, ob fuer sie Post eingelaufen ist. Viele Menschen leben jetzt in Kellern und sehen mit Grausen dem Winter entgegen. Sie leben in staendiger Furcht, dass ihnen auch noch diese klaegliche Bleibe zerstoert wird.

Waehrend der Angriffe kam es hier und da zu Pluenderungen. Schlimmeres wurde dadurch verhuetet, dass die Besitzer der wenigen uebriggebliebenen Warenlager in einer Art von Weltuntergangsstimmung einfach die Waren verschenkten.

Nach den Angriffen patrouillierten SS-Verbaende mit Maschinengewehren durch die Strassen. Sie haetten jede Oppositionsaeusserung erbarmungslos unterdrueckt. Die abziehenden Fluechtlinge, die eben einer Hoelle entronnen waren, sahen sich sogleich einer neuen gegenueber.

Bei einem der Angriffe wurden auch die Retorten einer Giftgasfabrik zerstoert. Als eine Anzahl von Arbeitern aufgefordert wurde, in den mit Gas gefuellten Raeumen Reparaturen vorzunehmen, weigerten sie sich. Es wird behauptet, dass daraufhin zwoelf Arbeiter hingerichtet worden seien.

Noch Ende September waren Bezirke in den Stadtteilen Hamm und Rothenburg abgesperrt, da Tausende von Toten noch unter den Truemmern begraben lagen. Eine Muellabfuhr kann nur in ganz geringem Umfang durchgefuehrt werden, da fast alle Fuhrwerke zerstoert wurden und die bisher fuer diese Arbeit eingesetzten auslaendischen Arbeiter fehlen. Die mangelhafte Abfallbeseitigung fuehrte zu einer unangenehmen Fliegenplage, und man hegt ernste Sorgen wegen einer eventuellen Ausbreitung von Typhus und Ruhr.

Die noch verwendungsfaehigen Wohnungen der geflohenen Bevoelkerung sind beschlagnahmt worden und werden an die in Hamburg verbliebenen wohnungslosen Arbeiter verteilt. Da die Zerstoerungen hauptsaechlich die Arbeiterwohnbezirke heimsuchten, werden die Arbeiter jetzt die guten Wohnungen in den Stadtteilen Harvestehude und Winterhude beziehen. Die Freude darueber ist jedoch nicht besonders gross, da die Arbeiterschaft befuerchtet, dass auch diese wenigen Wohnhaeuser bei der naechsten Gelegenheit vernichtet werden.

und der Evakuierung auf das Schicksal einzelner Familien unterrichteten die nachstehenden persoenlichen Informationen:

"Nun will ich Euch mitteilen, dass ich kein Heim mehr habe, es ist total abgebrannt. Ich habe nichts gerettet ausser den Kleidern auf dem Leib und ausser meinen Papieren. A. hat das gleiche Los getroffen. Sie ist im Oldesloerland. Familie N. ist in Oberschlesien. Familie K. ist in Tornesch. Grete war schon zweimal in B.

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Ich habe keine Bezugsscheine und kann keine Waesche bekommen. Ich kann nicht einmal die Waesche wechseln. Otto ist im Osten, hoffentlich kommt er gesund wieder."

In einem zweiten Brief heisst es: "In der Gegend, in der E. wohnt, stehen nur noch zwei Haeuser. L. wohnt mit seinen Eltern wieder dort. Alle anderen sind obdachlos. R. wohnt in Schleswig. Wo R. ist, wissen wir nicht. Meine Schwiegereltern wohnen in ihrer Gartenlaube. Auch Th. und M. sind in ihre Lauben gezogen, sie haben auch noch F. in ihrer Bude mit untergebracht."

Einer unserer Berichterstatter gibt nach einer Unterhaltung mit etwa zehn Personen, die die Angriffe auf Hamburg miterlebt haben, folgende Zusammenfassung der Urteile der Augenzeugen ueber die

nach den Angriffen: Neunzig Prozent der Bevoelkerung sind gegen des Regime. Die Nazifunktionaere werden unsicher. Ein Nazi-Blockwart riss nach einem Angriff sein Parteiabzeichen ab und erklaerte: "Es ist vorbei mit Hitler". Antifaschistische Aufschriften finden sich immer haeufiger auf Strassen und Plaetzen. Der Hitlergruss ist fast voellig verschwunden. Schlaegereien zwischen Hitlerjugend und anderen Jugendlichen sind an der Tagesordnung.

Fuer die Kommunisten besteht wenig Sympathie. Die Sozialdemokraten haetten auch viele Fehler gemacht, aber sie seien doch noch die beste Loesung. Ueber die Stimmung unter den frueher organisierten Arbeitern sagt ein Vertrauensmann: "Die Stimmung in den Betrieben ist prima. Die alten Vertrauensleute sind auch heute noch die Vertrauensleute der Belegschaft."

Man ist von dem Sieg der Alliierten ueberzeugt, hat aber Angst vor Russland. Die deutschen Sendungen der BBC werden viel gehoert. Von einer organisierten Opposition kann noch nicht gesprochen werden.

Eine beachtenswerte Information ueber die Reaktion in Arbeiterkreisen enthaelt ein Bericht, der sich auf schriftliche oder persoenliche Unterhaltungen mit frueheren Vertrauensleuten der freien Arbeiterbewegung stuetzt:

Die juengeren Arbeiter im Alter bis zu vierzig Jahren erklaeren zumeist, dass das ganze Elend auf das Schuldkonto der Hitlerdiktatur zu setzen ist, denn die deutsche Luftwaffe habe ebenso barbarisch gehaust. Es sei ueberfluessig, die Art der Kriegsfuehrung zu diskutieren, man muesse vielmehr die Kriegsursachen untersuchen. Die Frage sei, ob dieser Krieg imperialistisch sei oder nicht. Zwei aeltere Arbeiter beantworten diese Frage bejahend.

Es gab auch kritische Stimmen gegenueber der Kriegfuehrung der RAF. Einer der Vertrauensleute erwaehnt in seinem Bericht Flugblaetter, die ueber Hamburg abgeworfen wurden und in denen Versprechungen verschiedenster Art gemacht wurden. Der Berichterstatter bemerkt dazu, dass man eine solche Sprache vor 1933 sehr vermisst habe und dass es

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unfair sei, jetzt an der wehrlosen Zivilbevoelkerung fuer das Vergeltung zu ueben, was man vor dem Krieg selbst grossziehen half. Der Berichterstatter hat bei den Angriffen sein ganzes Hab und Gut verloren. Besonders betroffen ist man ueber die fast voellige Zerstoerung der reinen Arbeiterbezirke Eimsbuettel und Barmbeck, in denen es nur sehr wenig[e] kriegswichtige Betriebe gab.

Die Berichterstatter betonen ihre klare antifaschistische Einstellung, bemerken aber, dass es jetzt, nach der Zerstoerung des "roten Hamburg", der "Stadt ohne Nazis", sehr schwer sei, auf die Westmaechte als eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verweisen.

Bei den letzten grossen Angriffen berichten Augenzeugen:
Die Verwuestungen sind furchtbar. Die Friedrichstrasse vom Bahnhof Friedrichstr[asse] bis zum Belle Alliance-Platz ist vollstaendig niedergebrannt. In Wilmersdorf und Steglitz sind ganze Strassenzuege vernichtet worden. Auf dem rechten Spree-Ufer in Koepenick sind alle Fabrikanlagen zerstoert. Das Bayrische Viertel gehoert ebenfalls zu den schwer heimgesuchten Bezirken. Der Bahnhof Charlottenburg wurde schwer beschaedigt. Die Betriebe der Siemens-Schuckert-Werke in Siemensstadt bis Spandau sind fast vollstaendig ausgebrannt oder vernichtet. Die Bevoelkerung ist von tiefer Angst erfuellt. Jeder fragt sich: "Wie soll das noch enden?"

Die Menschen halten sich nicht mehr in den Haeusern auf, sondern laufen planlos durch die Strassen. Abends sucht sich jeder abzulenken. Theater und Kinos sind allabendlich ausverkauft. Auf behoerdliche Anordnung wird in "Humor" gemacht, um die Stimmung zu bessern. An einen Sieg oder auch nur an einen Verstaendigungsfrieden glaubt niemand mehr. Ein weiterer Anlass zur Beunruhigung ist die Anwesenheit einer so grossen Zahl auslaendischer Arbeiter, die immer freier auftreten. In den Betrieben werden alle Sprachen gesprochen. Es gibt vielfach ein freundschaftliches Verhaeltnis zwischen deutschen und auslaendischen Arbeitern, sehr zum Leidwesen der Nazis. Durch Maueranschlaege wird immer wieder vor solchen Beziehungen gewarnt, aber diese Warnungen haben kaum eine Wirkung.

Ueber diesen Angriff berichtet ein Augenzeuge:
"Die Wirkungen auf Fabriken und Wohngebaeude waren noch bedeutend staerker als beim letzten Angriff. Die Gebaeude, die bei den letzten Angriffen in ihren Fundamenten erschuettert wurden, sind jetzt vielfach durch den Luftdruck zusammengestuerzt. Der Stettiner Bahnhof wurde schwer beschaedigt. Am Alexanderplatz wurde die Untergrundbahn getroffen, am Halleschen Tor und am Kottbusser Tor die Hochbahn. Besonders gross waren die Schaeden in Lichtenberg, Neukoelln, Tempelhof, Mariendorf und Steglitz. Am Morgen nach dem Angriff lag der Verkehr fast voellig still. Die Waelder der Umgebung waren voll gefluechteter Menschen. Zu Loescharbeiten wurden

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die Feuerwehren aus Frankfurt an der Oder, Stettin, Halle, Dresden und Leipzig herangezogen. Die Wasser-, Gas- und Elektrizitaetsversorgung funktioniert nicht. Ein grosser Teil der Arbeiter erschien nicht auf den Arbeitsstaetten."

Eine Augenzeugin schildert ihr persoenliches Schicksal waehrend eines dieser Angriffe: "Wie Euch Mutter schon mitgeteilt hat, lebe ich noch. Es war bestimmt keine schoene Nacht. Ich wurde gezwungen, einen Brand mit zu loeschen. Ich hoffe, dass ich es nie wieder zu tun brauche. Der Alarm ueberraschte mich bei Bekannten. Als ich fruehmorgens nach Hause kam, war mein Haus ein Truemmerhaufen. Vielleicht verdanke ich der Tatsache meines Besuches mein Leben. Bei der Loescharbeit waere ich beinahe vom dritten Stockwerk in die zweite Etage gestuerzt, da eine Bombe im Fussboden ein Loch gerissen hatte. Als ich ins Buero kam, sah es dort boese aus. Saemtliche Tueren und Fenster waren herausgerissen, und von den Waenden rieselte der Kalk. Am Abend bekam ich nach den Aufregungen Herzbeschwerden und Angstzustaende. Jetzt sitzen wir im Buero bei einer frischen Brise, gelinde ausgedrueckt. Die andere Seite der Strasse liegt in Truemmern."

Vertrauensleute der frueheren freien Arbeiterbewegung berichten aus Berlin, dass die frueher organisierten Gewerkschafter und Sozialisten ihre Aktivitaet in den letzten Monaten gesteigert haben.

Sie sind hinsichtlich des Zeitpunktes des Zusammenbruchs des Systems ausserordentlich optimistisch.

Am Tage nach dem Sturz Mussolinis versammelten sich in einem Betrieb der Siemens-Schuckert-Werke die italienischen Arbeiter auf dem Hof zu einer Demonstration. Es wurden Reden gehalten, ein Feuer angezuendet und alle faschistischen Abzeichen, Bilder und Schriften verbrannt. An der Demonstration beteiligten sich auch deutsche Arbeiter. Dem Betriebsleiter gelang es erst nach einiger Zeit, die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen.

Ein Berliner Arbeiter, der ins neutrale Ausland entkommen ist, berichtet ueber eine starke kommunistische Aktivitaet in Berlin. Man verteilte Flugblaetter und Klebezettel, und es gaebe auch eine kommunistische Propaganda in den Betrieben. Die Arbeiter verhielten sich aber trotz ihrer antifaschistischen Gesinnung ruhig. Die Nazis taeten auch sehr viel fuer die Ernaehrung der Arbeiter, in den Betrieben wuerden sehr oft Extra-Rationen von Lebensmitteln verteilt.

An den Sieg Deutschlands glaubt niemand. Die Zusammenziehung grosser SS-Verbaende in den groesseren Staedten mache aber jede Aktion zur Zeit unmoeglich.

Voraussetzung fuer eine Änderung der Lage seien grosse militaerische Aktionen der Westmaechte, die die Nazis durch die Schaffung einer Landfront in Europa in eine unloesbare schwierige Situation bringen wuerde.

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Alle Schuelerinnen der letzten Klasse der Maedchen-Oberschulen haben sich bei den Dienststellen der Hitlerjugend fuer einen Kriegseinsatz in der Wirtschaft anzumelden, da sonst das Reifezeugnis Ostern verweigert werden kann. Diese Verfuegung wurde im Oktober in Hamburg erlassen.

Zur Verstaerkung der SS an der inneren Front werden in immer groesseren Massen SA-Formationen herangezogen. In Hamburg ist jetzt nach dem Einsatz der SA-Standarte "Hansa" in Bergedorf eine neue Standarte mit drei Sturmbannen fuer "besondere" Aufgaben zusammengestellt worden. Die neue Standarte traegt die Bezeichnung R 463.

Der Terror gegen Antifaschisten wird auch durch immer neue Verhaftungen durchgefuehrt. Man geht jetzt dazu ueber, die frueheren Mitarbeiter an sozialdemokratischen Zeitungen zu verhaften, auch wenn ihnen eine politische Taetigkeit nicht nachgewiesen werden kann.

Ein hoher Nazibeamter aus dem Stab des Ministers Speer hat seit Monaten dienstlich Reisen ins neutrale Ausland benutzt, um erhebliche Geldbetraege auf den Namen befreundeter Angehoeriger des neutralen Landes im Ausland sicherzustellen und auf eigene Faust grosse Geschaefte zu machen. Dieser Mann erklaerte bei Saufgelagen ganz offen, dass er und seinesgleichen sich voellig klar darueber seien, dass die Tage ihres Wohllebens gezaehlt seien. So wie er im neutralen Ausland vergnuegten sich seine Kollegen in Berlin in besonderen, fuer sie reservierten Lokalen. Die Korruption und Vermoegenstransaktionen ins neutrale Ausland staenden in hoher Bluete.

Aus dem Ministerium Speer berichtete dieser Nazifunktionaer, dass alles wild durcheinander gehe. Es wuerden immer neue Projekte begonnen, die in die Ecke geworfen wuerden, sobald eine neue Idee auftauche. Diese planlose Wirtschafterei hat die meisten Mitarbeiter gleichgueltig gemacht fuer das Gelingen oder Misslingen der Unternehmungen.

Ein hoher Wehrmachtsbeamter hat bei seinem letzten Besuch in der Hauptstadt eines neutralen Landes einen erheblichen Geldbetrag deponiert. Er begruendete sein Verhalten damit, dass jetzt alle hohen Funktionaere sich damit befassen, Geld und Wertgegenstaende bei Privatpersonen im neutralen Ausland sicherzustellen.




Dieser Bericht wird demnaechst auch in englischer Sprache erscheinen. Leser und Freunde, die an der Zustellung dieser Vervielfaeltigung in englischer Sprache interessiert sind, moegen ihre Bestellung an:
Wilh. Sander, 33 Fernside Ave., London NW7 einsenden.

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Es ist kaum noch moeglich, Ordnung in die verwirrende Fuelle der Nachrichten zu bringen, die die wirtschaftlichen und politischen Zustaende in Deutschland am Beginn des fuenften Kriegswinters beschreiben. Die Erinnerung an den Zusammenbruch des Kaiserlichen Deutschland im November 1918 scheint die Grundlage mancher Nachrichten zu sein. Das Wesen, die Schwaechen und Staerken des totalitaeren Regimes werden wahrscheinlich immer noch mangelhaft verstanden. Deutsche Tageszeitungen und der Deutsche Rundfunk geben keinerlei Anhaltspunkte fuer die wirklichen Verhaeltnisse in der Wirtschaft und Politik. Sie lassen hoechstens vermuten, welche Propaganda-Linie zu bestimmten Zeiten benutzt wird.

Es wird allgemein angenommen, dass die Brotgetreide-Ernte den Durchschnitt der Vorkriegsjahre erreichte, obwohl die Zahlenreihen des Staats-Sekretaers Backe mit einiger Vorsicht angesehen werden muessen. Die Kartoffelernte ist geringer als im Vorjahre.

Die Heuernte war weit unter dem Durchschnitt, und die Gemuese- und Zuckerrueben-Ertraege liegen gleichfalls unter dem Ergebnis des Jahres 1942.

Die Brotration ist zwar geringfuegig erhoeht worden, die Gesamtnahrungsmenge, die fuer die Zivilbevoelkerung verfuegbar ist, hat sich aber nicht geaendert. Landwirtschaftlicher Raubbau ist unvermeidlich, je laenger der Krieg dauert.

Die Landwirtschaftspolitik des Herrn Backe kann am besten als ein System der Aushilfen bezeichnet werden. In den ersten Jahren des Krieges wurde der Oelsaatenanbau zum Nachteile der Getreidekulturen ausgedehnt. Im neuen Wirtschaftsjahr soll die Getreideflaeche auf Kosten der Weiden vergroessert werden. Die gesteigerte Butterproduktion ist das Ergebnis des bedeutend verringerten Frischmilchverbrauchs. Im vergangenen Jahr wurde ein Teil des Schweinebestands geopfert, um mehr Kartoffeln und Gerste fuer die menschliche Ernaehrung zu haben. So loest eine Aushilfe die andere ab. Die allgemeine Tendenz zeigt, dass die Qualitaet der Nahrungsmittel und die Quantitaet hochwertiger Nahrungsmittel bestaendig abnimmt.

In der Industrie zeigen sich aehnliche Verhaeltnisse. Hier ist das Bild jedoch ausserordentlich verwischt durch fortgesetzte Organisationskunststuecke, die gewoehnlich dem jugendlichen Minister fuer Ruestung und Kriegsproduktion, Speer, zugeschrieben werden.

Die Produktion und der Verbrauch von Ersatzstoffen fuer Metalle hat ungeahnte Formen angenommen. Aber das wesentliche Merkmal der Kriegswirtschaft ist das Ende der zivilen Produktion. Im Verlauf der alliierten Luftoffensive musste ein betraechtlicher Teil wichtiger Fabriken vom Westen nach Ost- und Mittel-Deutschland "verlagert" werden.

Die Zahl der Evakuierten, Frauen, Kinder und Arbeiter, geht wahrscheinlich in die Millionen.

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Wohnraum ist so knapp geworden, dass Dr. Ley versprach, zwei Millionen Holzhaeuser bauen zu lassen. Es ist keine Uebertreibung zu sagen, dass die materiellen Verhaeltnisse in der Zivilbevoelkerung wahrscheinlich schlechter sind als im Jahre 1918.

Trotzdem sind Unterschiede feststellbar. Es kann bis zum Augenblick kein Zweifel darueber bestehen, dass die Wehrmacht und einige wichtige Arbeiterkategorien besser ernaehrt sind als im Jahre 1918.

Der fast unvorstellbare Rueckgang in der zivilen Produktion macht eine noch immer bedeutende Produktion von Waffen und Heeresausruestung moeglich. Obwohl die Produktivitaet der auslaendischen Zwangsarbeiter gering ist, ist ihre Zahl so gross, dass die Luecken in der Industrie zum Teil wieder ausgefuellt werden koennen.

Der Rueckgang in der Produktion kann nicht bezweifelt werden, aber es scheint eher ein Rueckgang in der Qualitaet als in der Quantitaet zu sein.

Ueber die militaerischen Verluste ist es leider voellig unmoeglich, ein genaues Bild zu gewinnen.

Am Ende des Krieges im Jahre 1918 zaehlte die deutsche Armee rund 2 Millionen Tote, 4,2 Millionen Verwundete und eine Million Gefangene von rund 13.250.000 mobilisierter Maenner.

Die Oesterreichisch-Ungarische Armee, die insgesamt 8,3 Millionen Mann mobilisierte, verlor 2,1 Millionen Gefangene, 896.000 Tote und 2 Millionen Verwundete.

Heute ist die Gesamtzahl der Mobilisierten in Deutschland geringer als [in] Deutschland und Oesterreich-Ungarn von 1914 bis 1918.

Es kann angenommen werden, dass die Verluste in diesem Kriege nicht nur absolut, sondern auch proportional geringer sind. Die Gesamtzahl der Gefangenen duerfte kaum 500.000 uebersteigen. Bis 1941 waren die Feldzuege kurz, und die eigentlichen Verluste erlitt die Armee in Russland, wo der Krieg nun 2 Jahre und 5 Monate dauert.

Es ergibt sich, dass die materiellen Schwaechen des Regimes nicht wesentlich verschieden sind von dem allgemeinen Zustand i[m] J[ahre] 1918.

Ein wichtiger Unterschied ist die Tatsache, dass die Wehrmacht noch im allgemeinen voll kampffaehig zu sein scheint.

Der grundlegende Unterschied ist aber, dass die totalitaere Politik, die den Gebrauch dieser Menschen und Mittel bestimmt, wenigstens bis zum Augenblick nicht ernstlich von innen heraus bedroht worden ist.

Trotz der schwierigen materiellen Situation sollte kein Zweifel darueber bestehen, dass die Nazi-Partei sich noch nicht aufgegeben hat. Die aeusserst intensive Propagandakampagne ist kein Bluff oder etwa der Ausdruck absoluter Verzweiflungsstimmung. Die fuehrenden Nazis hoffen diesen Winter zu ueberstehen und sind aengstlich darauf bedacht, mit ihren Kraeften so sparsam wie moeglich auszuhalten.

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Hans Vogel, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, hat zum Tag der 25. Wiederkehr der Gruendung der Tschechoslowakischen Republik die Gruesse und Wuensche der deutschen Sozialdemokraten in einem Briefe an den Praesidenten der Tschechoslowakischen Republik, Dr. Edvard Beneš, zum Ausdruck gebracht.
Der Brief hatte folgenden Wortlaut:


Sehr geehrter Herr Praesident,

gestatten Sie mir, dass ich Ihnen und durch Sie der Tschechoslowakischen Republik im Namen der deutschen Sozialdemokraten am Tage der 25. Wiederkehr der Gruendung der Tschechoslowakischen Republik erneut die Empfindungen unserer Verbundenheit und unserer Freundschaft zum Ausdruck bringe.

Wir deutschen Sozialdemokraten fuehlen uns mit der tschechoslowakischen Demokratie besonders eng verbunden. Wir kennen die Grausamkeit ihrer heutigen Naziunterdruecker aus eigenen bitteren Erfahrungen, und viele von uns haben den unbeugsamen Freiheitswillen der Buerger der Tschechoslowakischen Republik in den schicksalsvollen Jahren zwischen 1933 und 1938 als Gaeste Ihres Landes unmittelbar erlebt.

Die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Republik und den Kraeften der deutschen Demokratie sind ein besonders eindringliches Beispiel fuer die voelkerverbindende und friedenssichernde Kraft demokratischer Ideen. In den Jahren der Weimarer Republik, als die Kraefte der Demokratie und der sozialistischen Arbeiterbewegung die Aussenpolitik unseres Landes bestimmten, gab es ein aufrichtiges freundschaftliches Verhaeltnis zwischen unseren Voelkern.

Wir haben dann nach harten und opfervollen Kaempfen in Deutschland in dem Kampf um Demokratie, Freiheit und Frieden eine entscheidende Schlacht verloren, aber die Tschechoslowakische Republik hat durch ihr Verhalten in jenen Tagen bewiesen, dass selbst die brutale und hemmungslose Gewalt einer Nazidiktatur die ewigen Ideen der Freiheit und der Menschlichkeit nicht zu toeten vermag.

Die Tschechoslowakische Republik gab den ersten Opfern der Nazityrannei in Europa, den deutschen Sozialisten und Antifaschisten, ein sicheres Asyl.

In der stolzen Geschichte des Freiheitskampfes des tschechoslowakischen Volkes wird diese Tat unvergaenglich fortleben.

Es ist an diesem Tage unser aufrichtiger Wunsch, dass die Stunde nicht fern sein moege, an dem das tschechoslowakische Volk wieder frei ist, sein staatliches und kulturelles Leben in diesem Geist der Freiheit und der Humanitaet neu zu gestalten, und an dem alle

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aufrechten Demokraten sich zusammenfinden, um ein neues Europa zu errichten, in dem Demokratie, soziale Sicherheit und Frieden fuer alle Voelker eine sichere und dauernde Heimstaette finden.


Vom Praesidenten der Tschechoslowakischen Republik, Dr. Ed. Beneš, wurde das obige Sympathieschreiben mit folgendem Schreiben an Hans Vogel beantwortet:

President of the
Czechoslovak Republic


3rd November, 1943

Dear Sir,

Many thanks for the sympathy expressed in your letter of October 28th. I am convinced that the way will soon be open for German Social Democrats and democratic Czechoslovaks to work together in a liberated Europe for the creation of a new and free world.

 

Sincerely Yours
(sig.) Dr. Ed. Beneš

Diese Mahnung richtete Kollege J. H. Oldenbroek, der Generalsekretaer der Internationalen Transportarbeiter-Foederation, in einer Rede ueber den deutschen Rundfunk in London an die deutschen Arbeiter, in der er u. a. sagte: "... Ich empfinde die Solidaritaetsbekundungen deutscher Arbeiter gegenueber ihren auslaendischen Kameraden als Balsam auf die Wunden, die die deutschen Kriegsverbrecher in den besetzten Laendern jeden Tag schlagen. Ich betrachte diese Solidaritaets-Handlungen als Beweis dafuer, dass ein Zusammengehen gegen den gemeinsamen Feind - Militarismus und Nazismus - nicht unmoeglich ist.

Sechs Millionen Arbeiter sind eine ungeheure Macht - auch als Arbeitssklaven, wenn sie im rechten Augenblick ihre Macht gebrauchen. Die auslaendischen Kollegen im Dritten Reich brauchen dazu Hilfe von aussen. Diesem Zweck dienen die Rundfunksendungen, die jetzt in vielen Sprachen ges[endet] werden.

Deutsche Arbeiter, helft mit, diese Sendungen allen auslaendischen Arbeitern in Eurem Bereich bekannt zu machen ..." (ITF)




Issued by the London Representative of the German Social Democratic
Party, 33, Fernside Avenue, London N.W.7. Tel.: MILL HILL 3915






Editorische Anmerkungen


1 - Konferenz vom 19. Oktober bis Ende Oktober 1943.

2 - Erich Freund (1902 - 1958), deutscher kommunistischer Schauspieler und Regisseur, 1933 Exil in der CSR, 1939 über Polen nach Großbritannien; 1946 Rückkehr nach Deutschland (SBZ), Filmregisseur.

3 - Ferdinand Freiligrath (1810 - 1876), deutscher Dichter, 1851-1868 im Exil in England.

4 - Bert Brecht (1898 - 1956), deutscher Autor, Exil: 1933 Schweiz, Dänemark, 1935 ausgebürgert, 1939 USA, 1947 Schweiz, 1948 Rückkehr nach Deutschland (Ost-Berlin).

5 - Fritz Brügel (1897 - 1955), österreichischer Schriftsteller, Exil: 1934 CSR, 1936 UdSSR, 1938 Frankreich, 1941 über Spanien und Portugal nach England.

6 - Es könnte sich um den 1938 verstorbenen österreichischen Sozialisten Otto Bauer handeln.

7 - K. Doberer: Siehe SM 24, Ende März 1941, Anm. 20.

8 - 9.11.1923: Tag des sog. Marsches auf die Feldherrnhalle (Hitler-Ludendorff-Putsch in (München).




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