SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

News for German Socialists in England

This Newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

Nr. 52 - 1943

August 1943

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Weittragende militaerische und politische Ereignisse haben im Laufe weniger Wochen tiefgreifende Veraenderungen der politischen und militaerischen Gesamtsituation herbeigefuehrt und den entscheidensten Abschnitt der Geschichte dieses Krieges eingeleitet.

Auf militaerischem Gebiet ist an allen Fronten die Initiative auf die Alliierten uebergegangen. Im Osten brachten die Russen die deutsche Sommeroffensive gegen Kursk nicht nur nach wenigen Tagen schwerer Kaempfe zum Stillstand, sondern sie gingen selbst zur Offensive ueber, eroberten die wichtigen deutschen Stuetzpunkte Orel und Belgorod und bedrohen nun auf breiter Front die deutschen Verteidigungslinien von Charkow bis Briansk.

Im Sueden haben die Englaender und Amerikaner mit der Eroberung von fast ganz Sizilien in kaum einem Monat den Angriff auf die Festung Europa erfolgreich eroeffnet.

Vom Westen her wurde die britisch-amerikanische Luftoffensive mit bisher unbekannter Wucht bis in das Zentrum von Deutschland hineingetragen. Auf den Meeren haben die Alliierten in der U-Bootschlacht des Fruehsommers 1943 einen vollen Sieg davongetragen.

Schon jetzt ist klar, dass damit die Kette weitreichender militaerischer Aktionen, die die Alliierten fuer das Jahr 1943 planen, noch nicht abgeschlossen ist. Die neue Zusammenkunft Roosevelt-Churchill dient der Weiterfuehrung des Angriffes gegen Hitlerdeutschland zum fruehesten Termin und mit der groesstmoeglichen Kraft.

Selbst bei vorsichtiger Beurteilung der Gesamtsituation, die die noch vorhandene starke militaerische Widerstandskraft Deutschlands voll in Rechnung stellt, kann heute eine entscheidende militaerische Niederlage Deutschlands im Zuge kombinierter Angriffsaktionen der Alliierten als

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eine reale Moeglichkeit der nahen Zukunft angesehen werden.

Diese entscheidende Veraenderung der Lage zugunsten der Vereinten Nationen ist wesentlich beschleunigt worden durch das bedeutsamste politische Ereignis dieses Krieges, den Sturz Mussolinis und seiner faschistischen Diktatur in Italien. Am 25. Juli musste Mussolini abtreten, und das Uebergangskabinett Badoglio[1] begann seine Taetigkeit mit der Aufloesung der faschistischen Organisationen und Staatseinrichtungen, die die Traeger der Diktatur Mussolinis waren. Nach 21 Jahren Unterdrueckung und Gewaltpolitik nach innen und aussen stuerzte das aelteste faschistische Regime wie ein morscher Baum. Es fiel gleichermassen unter dem Druck der militaerischen Offensive der Alliierten gegen das italienische Mutterland und unter dem Druck der Massen des italienischen Volkes, die des Krieges und der Diktatur muede waren. Der tiefgehende, revolutionaere Prozess der Umwandlung der faschistischen Diktatur in eine freie Demokratie ist noch nicht abgeschlossen. Die Regierung Badoglio versucht, die unvermeidliche radikale Umgestaltung der innerpolitischen Verhaeltnisse Italiens abzustoppen und Zeit zu gewinnen, um sich von dem Achsenpartner Deutschland ohne zu harte Schlaege fuer ihn zu loesen und um mit dem Versuch, den Krieg fortzusetzen, die Alliierten zur Aufgabe ihrer Forderung nach der bedingungslosen Uebergabe zu bewegen.

Dieses verzweifelte Bemuehen, den innen- und aussenpolitischen Folgen der Gewalt- und Abenteuerpolitik Mussolinis zu entgehen, kann die geschichtliche Bedeutung des Sturzes Mussolinis nicht verdunkeln und es vermag auch nicht die weitgehenden Fernwirkungen dieses Ereignisses, vor allem fuer das Schicksal der deutschen Diktatur, zu beeintraechtigen.

In der ernstesten militaerischen Situation, der sich das deutsche Regime seit Beginn dieses Krieges gegenuebergestellt sieht, muss sich der Sturz Mussolinis, der Zusammenbruch der "staehlernen Achse", wie ein toedlicher Schlag auswirken. Die deutsche Propaganda mag sich noch so sehr bemuehen, dieses Ereignis totzuschweigen, der Sturz Mussolinis bleibt fuer die Anhaenger des Systems wie fuer seine Gegner ein alarmierendes Signal. Die Nationalsozialisten haben zu sehr die Schicksalsverbundenheit des deutschen und italienischen Faschismus zu einem Zentralpunkt ihrer Propaganda gemacht, als dass sie jetzt mit dem Hinweis auf den "rein innenpolitischen Charakter"

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des Umsturzes in Italien die Tatsache des Zusammenbruchs der Achse und die Furcht der deutschen Traeger und Nutzniesser der Parteidiktatur vor einem gleichen Schicksal wie das ihrer italienischen Spiessgesellen aus der Welt schaffen koennten.

Auf der anderen Seite ist die jetzt zutage tretende Kraft der demokratischen Volksbewegung in Italien nach mehr als zwanzig Jahren Unterdrueckung ein elektrisierendes Signal fuer alle deutschen Antifaschisten. Wenn das "Tausendjaehrige Reich" italienischer Praegung so schnell und ruhmlos unter dem konzentrierten Druck aeusserer und innerer Bedrohung zusammenbricht, dann muss auch der Sturz der braunen Diktatur moeglich sein. Keine Macht der Welt vermag diese Ueberlegung und diese Ermutigung aus den Herzen und Hirnen der deutschen Hitlergegner [zu] verbannen. Die Moeglichkeit des Endes der Hitlerdiktatur ist in greifbare Naehe gerueckt.

Gewiss, heute ist das Dritte Reich trotz der schweren Schlaege auf militaerischem und politischem Gebiet noch gefestigter und sein Machtapparat noch maechtiger, als es das faschistische Italien in den letzten Monaten seiner Existenz war. Aber der politische und moralische Zersetzungsprozess ist im vollen Gang. Er wird nicht nur gefoerdert durch das wachsende Selbstvertrauen der "notorischen Hitlergegner" und durch die Furcht der Nutzniesser des Regimes, er wird auch beschleunigt durch die objektiven Wirkungen der entscheidenden Verschlechterungen der militaerischen und politischen Lage des Systems. Die Millionen Mitlaeufer und Gedankenlosen, die zuerst vor dem materiellen und politischen Terror der Hitlerdiktatur kapitulierten und die dann bereit waren, Hitler auf dem Wege des leichten und schnellen Sieges zu folgen, werden sich jetzt der wahren Situation bewusst: Frieden durch Sieg ist unerreichbar, Frieden unter Hitler ist unerreichbar, Krieg unter Hitler heisst Schrecken, Elend und Zerstoerung ohne Ende. Es gibt nur eine Rettung: Frieden ohne Hitler und sein Regime.

Niemand weiss heute, wie schnell sich dieser Prozess vollziehen und in welchen Formen er sichtbar werden wird. Er wird qualvoller und schmerzhafter als in Italien sein, aber die Goetterdaemmerung des Faschismus in Europa ist angebrochen, die Tage des Hitlerregimes in Deutschland und seiner Zwangsherrschaft ueber Europa sind gezaehlt.

Die Beschleunigung dieses Prozesses und damit die Be-

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schleunigung des Endes dieses Krieges wird auch in Deutschland wie im Falle Italien sowohl abhaengen von der innerdeutschen Entwicklung wie von der offensiven militaerischen und politischen Kriegfuehrung der Alliierten. Die Hoffnung der Nazis und ihrer maechtigen nationalsozialistischen und militaerischen Hintermaenner, diesen Krieg noch mit einem Kompromiss beenden zu koennen, der die eindeutige militaerische Niederlage Hitlerdeutschlands vor dem deutschen Volk verdunkelt und die Hintertuer fuer eine Wiederbelebung des Mythos der Gewaltpolitik offenlaesst, muss durch militaerische Entscheidungen zerstoert werden.

Die Antikriegs- und Antihitlerbewegung in Deutschland selbst zu foerdern, ist die Aufgabe der politischen Kriegsfuehrung der Alliierten. Nie lag die Bedeutung einer positiven politischen Kriegfuehrung, einer Ermutigung der innerdeutschen Front gegen Hitler mehr auf der Hand als heute. Hier - wie auf militaerischem Gebiet - ist die Zeit zum schnellen und grosszuegigen Handeln gekommen. Es ist diese aktuelle Situation, die der Gruendung des "National-Komitees des Freien Deutschland"[2] in Moskau die starke Resonanz in der Weltoeffentlichkeit gegeben hat. Die russische Regierung hat mit der Gruendung und Anerkennung dieses Komitees, bestehend aus frueher fuehrenden deutschen Kommunisten und deutschen Kriegsgefangenen verschiedener militaerischer Grade und verschiedener sozialer Herkunft, den Versuch unternommen, aktiv den beginnenden Aufloesungsprozess in der deutschen Armee und im Hinterland zu foerdern.

Der sachliche Inhalt der ersten Proklamation dieses Komitees, die sich wiederholt und ausdruecklich an die deutsche Armee und das deutsche Volk wendet, erschoepft sich in nationalen und buergerlich-demokratischen Zielsetzungen fuer ein Deutschland nach dem Krieg und basiert auf der Vorstellung, dass in dem Befreiungskampf gegen Hitler und in dem Kampf fuer einen schnellen Frieden politische und weltanschauliche Differenzen belanglos sind.

Wir Sozialdemokraten glauben im Gegensatz zu dieser rein opportunistischen Haltung, dass auch in der politischen Propaganda fuer das deutsche Volk die entscheidende Problemstellung fuer die Zukunft des deutschen Volkes nicht verschwiegen werden darf: dass mit dem Sturz Hitlers auch die militaristischen und oekonomischen Kraefte in Deutschland entwurzelt werden muessen, die Hitler in die Macht geholfen und mit ihm das deutsche Volk in die groesste Katastrophe seiner Geschichte gestuerzt haben.

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Wir wollen an dieser Stelle und in diesem Augenblick nicht die Frage untersuchen, ob der Inhalt der Erklaerung des Moskauer Komitees weitergehende Schlussfolgerungen ueber die beabsichtigte russische Aussenpolitik gegenueber einem Nachkriegsdeutschland zulaesst. Unsere Auffassung ueber die Position Deutschlands nach dem Krieg in der Gemeinschaft der europaeischen Voelker ist nie zweifelhaft gewesen: Wir erstreben ein lebensfaehiges, demokratisches, soziales und friedliches Deutschland, das mit allen Voelkern in gleicher Weise in Freundschaft und Frieden lebt. Diese und viele andere Fragen werden in den naechsten Wochen und Monaten als aktuelle Fragen auf der Tagesordnung der internationalen Politik stehen. Die politischen und militaerischen Ereignisse der letzten Wochen haben den dramatischen Hoehepunkt des vierjaehrigen weltweiten Ringens vorbereitet. Das Tempo, in den sich die Geschehnisse dieses Abschnittes der Geschichte abspielen werden, vermag niemand vorauszusehen, das Resultat ist nicht zweifelhaft: Die Hitlerdiktatur wird das Schicksal des faschistischen Italiens teilen, Hitler wird stuerzen. Die Entscheidung ueber die Zukunft Deutschlands nach Hitler wird gleichermassen abhaengen von dem aktiven Anteil des deutschen Volkes am Sturz der Diktatur und von der Loesung des Problems eines gemeinsamen, konstruktiven Programms der Alliierten fuer ein neues Europa, das auch ein demokratisches, soziales und friedliches Deutschland in die gemeinsame Arbeit fuer dieses grosse Aufbauwerk einbezieht.

Die Sozialistische Partei Italiens hat nach einem Bericht im sozialdemokratischen "Volksrecht"[3] in Zuerich vom 7. August folgendes Aktionsprogramm aufgestellt:

1. Die Hauptursache fuer den Sturz Mussolinis war die Opposition der Massen gegen die Diktatur und den Krieg. Die Aufloesung des Faschismus wurde durch die drohende Revolution erzwungen. Die Majoritaet des Grossen Rats der Faschisten[4] geriet in Panik und versuchte, die Gefahr der Revolution und der militaerischen Niederlage durch die Preisgabe von Mussolini und die symbolische Uebergabe der Macht an die Militaers zu bannen.

2. Die Badoglio-Regierung bedeutet nicht die Liquidierung der faschistischen Diktatur. Hinter der militaerischen Fassade wurden die wichtigsten Organe der faschistischen

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Diktatur gehalten und sogar gestaerkt. Die Badoglio-Regierung ist Faschismus ohne Mussolini. Die Badoglio-Regierung ist charakterisiert durch ihre Weigerung, eine freie Presse und eine freie Taetigkeit der Arbeiterorganisationen zu erlauben, durch die Aufrechterhaltung der Ausnahmegesetze und durch ihre Loyalitaetserklaerung gegenueber dem Dreimaechtepakt.

3. In Wirklichkeit haben die Mehrheit der koeniglichen Familie, die Kapitalisten und die Faschisten einen reaktionaeren Block gebildet. Badoglio diente Mussolini einundzwanzig Jahre in der Innen- und Aussenpolitik. Die Italienische Sozialistische Partei kann daher nur in Opposition gegenueber der neuen Regierung stehen, so wie sie in Opposition zu dem Faschismus stand.

4. Die Liberalen, die jetzt die italienischen Zeitungen leiten und die oeffentliche Meinung gegen einen innenpolitischen Umsturz beeinflussen, sind keine wirklichen Antifaschisten und vertreten nicht die wirkliche Haltung des italienischen Volkes.

5. Demonstrationen und Streiks in Italien waren keine Verzweiflungsakte, sondern ein Ausdruck der Freude ueber die Niederlage des inneren Feindes und, zur gleichen Zeit, eine Warnung an die Generale und den faschistischen Koenig, dass der Kampf fuer die Demokratie an der Heimatfront bis zum vollstaendigen Sieg fortgesetzt werden wird.

6. Unsere Forderung nach sofortigem Frieden erwaechst aus unserer Ueberzeugung, dass die militaerische Niederlage bereits eine Tatsache ist. Wir sind der Meinung, dass die faschistische Monarchie es verdient, dass ihr die bedingungslose Uebergabe auferlegt wird, die die Alliierten fordern.

Wir appellieren an die demokratischen Maechte, Friedensverhandlungen mit Vertretern des italienischen Volkes auf der Basis der Atlantik-Charter zu fuehren.

7. Die Aufgabe der Schaffung politischer Freiheiten kann nur ausgefuehrt werden durch die Arbeiter im Buendnis mit den Bauern und den Intellektuellen der Mittelklassen.

8. Die Sozialistische Partei empfiehlt daher einen sofortigen Generalstreik fuer die Befreiung der politischen Gefangenen, fuer die Einstellung der Feindseligkeiten, fuer die Abschaffung der Monarchie und fuer die Freiheit der Presse und der politischen Betaetigung.

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die am 3. und 4. Juli 1943 in New York abgehalten wurde, war einem Berichte der sozialdemokratischen "Neuen Volks-Zeitung", New York, zufolge ein grosser Erfolg. Den gleichen Eindruck vermitteln auch die Berichte der "Staatszeitung New York" und der "New York Times" ueber diese Tagung.

Den Vorsitz dieser zweitaetgigen Konferenz fuehrten der ehemalige Oberbuergermeister von Altona, Max Brauer, der ehemalige Dresdner Stadtverordnete Siegfried Jungnitsch[5], und der ehemalige Reichstagsabgeordnete Gerhart Seger.

Die eindrucksvollen Referate und die ernsthaft und gruendlich gefuehrte Diskussion galten einer grundsaetzlichen Stellungnahme zu dem Schicksal und der Zukunft Deutschlands nach dem Zusammenbruch Hitlers und dem Sieg der vereinten Nationen.

Die der Landeskonferenz vorgelegte politische Entschliessung wurde einstimmig angenommen und hat folgenden Wortlaut:

"Fuer die Zweite Deutsche Republik!

Die am 3. und 4. Juli in New York City, USA, zusammengetretene Landeskonferenz deutschsprachiger Sozialdemokraten und Gewerkschafter erklaert:

Mit Stolz erinnern wir an die Tatsache, dass die sozialdemokratische Reichstagsfraktion als einzige Parteivertretung am 23. Maerz 1933 im Reichstag, der schon von bis an die Zaehne bewaffneter SA und SS umstellt war, das Ermaechtigungsgesetz fuer Hitler abgelehnt hat;

mit Stolz erinnern wir an die Tatsache, dass sozialdemokratische Reichstags- und Landtagsabgeordnete, Gewerkschaftsfuehrer und Arbeiter zu den ersten und zahlreichen Opfern der Nazibrutalitaet gehoerten;

mit Stolz stellen wir fest, dass ungezaehlte sozialdemokratische und Gewerkschafts-Funktionaere den illegalen Kampf gegen das Naziregime fuehrten und sich auch durch jahrelange Haft in den Konzentrationslagern, in Gefaengnissen und Zuchthaeusern und durch zahlreiche Todesurteile nicht abhalten lassen;

mit Stolz verweisen wir auf die Tatsache, dass der Sozialdemokratische Parteivorstand als Auslandsvertretung,

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dass Sozialdemokraten und Gewerkschaftler in der Emigration organisiert und individuell in allen Laendern der Welt den Kampf gegen die Nazis und ihre Propaganda weitergefuehrt haben.

Diese Feststellungen berechtigen uns, unsere Stimme zu erheben:

Wir verurteilen auf das Schaerfste alle Verbrechen der Naziregierung, die Deutschland versklavt, entehrt, verarmt und in einen neuen Weltkrieg gestuerzt hat.

Wir verurteilen auf das Schaerfste die Zerschlagung und die bis zum heutigen Tage andauernde Verfolgung der deutschen Arbeiterbewegung, gegen die Hitler zuerst vorging, weil sie das Rueckgrat der Demokratie in Deutschland war;

Wir verurteilen mit Entsetzen und tiefstem Mitgefuehl die furchtbare Ausrottung des juedischen Teiles der Bevoelkerung in Deutschland und den anderen Laendern;

Wir verurteilen auf das schaerfste Hitlers Ueberfaelle auf friedliche Laender, von Oesterreich und der Tschechoslowakei angefangen bis zu Sowjetrussland.

Wir fuehlen uns solidarisch mit den vielen Hunderttausenden von furchtlosen Kaempfern in allen europaeischen Laendern und wuenschen ihrem heroischen Widerstand gegen das fluchbeladene Naziregiment baldigen Erfolg.

Wir fuehlen uns verbunden mit den vereinigten Nationen, deren Sieg auch dem deutschen Volke die Freiheit wiederbringen wird.

Wir fordern, dass nach dem Ende dieses Krieges die Nazi-Bewegung, die Nazi-Regierung und alle ihre Einrichtungen bis auf die Wurzel ausgerottet werden;

Wir fordern, dass die Nazi-Verbrecher, grosse und kleine, zur Rechenschaft gezogen werden und die verwirkte [wahrscheinlich gemeint: verdiente] Strafe erhalten;

Wir treten entschieden dafuer ein, dass dem deutschen Volke wiederum die Gelegenheit zur demokratischen Entwicklung gegeben werde, nachdem die Nazi-Einrichtungen beseitigt und Deutschland abgeruestet worden ist;

Wir verweisen gleichzeitig darauf, dass eine dauerhafte Garantie fuer den europaeischen Frieden nur durch die demokratische Mitwirkung des deutschen Volkes und besonders der Arbeiterschaft gewaehrleistet werden kann.

Wir verweisen weiter darauf, dass die freiheitliche Zukunft des deutschen Volkes die Vergesellschaftung der Schwerindustrie und des Grossgrundbesitzes erfordert.

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Schon die Weimarer Republik wurde von der militaerischen, schwerindustriellen und agrarischen Reaktion sabotiert. Nur wenn diesen Kraeften, die den Nazis mit zur Macht verholfen haben, ihre wirtschaftliche Grundlage entzogen wird, besteht die Sicherheit, dass die zweite deutsche Republik einen dauerhafte[re]n Bestand haben wird als die erste.

Fuer die unmittelbare Periode nach dem Kriege, also fuer die Waffenstillstandszeit, fuer die unzweifelhaft mit einer militaerischen Besetzung Deutschlands durch die vereinigten Nationen zu rechnen ist, verweisen wir auf die unbestreitbare Tatsache, dass die ehemaligen Funktionaere der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften die verlaesslichsten Gruppen von Personen darstellen, auf die sich die mit der Aufloesung der nationalsozialistischen Einrichtungen beauftragten Organe stuetzen koennen.

Wir vermoegen von Amerika aus nicht abzusehen, ob sich in Deutschland in dem zu erwartenden Zusammenbruch des Nazi-Regimes und der von ihm gestuetzten Militaermacht eine von demokratischen Kraeften getragene revolutionaere Bewegung entfalten wird. Sollte das aber geschehen, so erheben wir jetzt schon unsere Stimme gegen jeden etwaigen Versuch, diese Bewegung einzudaemmen. Nichts ist fuer die zukuenftige Entwickelung eines freien Deutschlands wichtiger, als die Wiederbelebung der von den Nazis grausam ertoeteten politischen Willensbildung der deutschen Arbeiterschaft.

Wir haben das auf jahrzehntelange Zusammenarbeit gestuetzte Vertrauen zur deutschen Arbeiterschaft, dem einzigen Bevoelkerungsanteil, den Hitler nie erobert hat, dass auf ihr die Zukunft Deutschlands ruht. Darueber hinaus, dass sie der Garant des europaeischen Friedens sein wird, sobald ihre kraftvollen Organisationen wieder erstanden sind."

Im Geiste dieser politischen Kundgebung stand die gesamte Tagung und die gehaltenen Referate. -

Zuerst sprach Dr. Siegfried Mark ueber das Thema "Der Kampf der deutschen Arbeiterschaft gegen den Nationalsozialismus und die demokratischen Kriegs- und Friedensziele", er vertrat das, was man am besten "demokratischen Humanismus" nennen kann. Albert Grzesinski, der ehemalige preussische Innenminister behandelte das Thema: "Die staatliche Neugestaltung Deutschlands".

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In der vom Redner vorgelegten Entschliessung ueber den kuenftigen Staatsaufbau Deutschlands wird die Hoffnung ausgedrueckt, dass den demokratischen Kraeften Gelegenheit und Hilfe zur Liquidierung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zu wirkungsvollem Aufbau einer neuen Demokratie geboten wird.

Dr. Fritz Karsen[6], ein bekannter Schulfachmann und Vorkaempfer der Gemeinschaftsschule der Weimarer Republik, sprach ueber "Erziehung und Unterricht der Jugend im Nachkriegs-Deutschland" und behandelte dabei auch ein praktisch-paedagogisch durchfuehrbares Programm der Wiedererziehung des deutschen Volkes.

Der Abend des ersten Konferenztages war einer internationalen Versammlung gewidmet, in deren Mittelpunkt ein Referat des amerikanischen Abgeordneten des Repraesentantenhauses Howard J. McMurray[7] ueber "Internationale Sicherheit" stand.

Von Vertretern auslaendischer Bruderparteien sprachen Vanni Montana fuer die italienischen, Dr. Keri fuer die ungarischen, William Karlin und Dr. W. Bohn[8] fuer die amerikanischen Sozialdemokraten, Viktor Tschernoff fuer die russischen Sozialrevolutionaere, Siegfried Taub fuer die deutschen Sozialdemokraten der Tschechoslowakei und A. Bluesteen fuer die American Federation of Labor.

"Der Wiederaufbau der Wirtschaft nach dem Kriege" wurde am zweiten Verhandlungstag von Dr. Alfred Braunthal behandelt, waehrend Gen. Siegfried Aufhaeuser ueber das Thema: "Die Gewerkschaften und ihre Aufgaben in der Nachkriegszeit" sprach und dabei zu dem Problem der Wiederherstellung einer freien Arbeiterbewegung in Deutschland nach dem Kriege Stellung nahm. Die erfahrene Sozialpolitikerin Hedwig Wachenheim behandelte; "Die notwendigen Massnahmen gegen Anarchie und Hunger", und die Stellungnahme zum Problem des Wiederaufbaus der Arbeiter-Internationale war dem Gen. Friedrich Stampfer, dem ehemaligen Chefredakteur des "Vorwaerts" zur Aufgabe gestellt.

Alle Referenten hatten Entschliessungen vorgelegt, die nach gruendlicher Aussprache von den Versammelten angenommen wurden. Leider verhindert [!] uns Platzmangel, diese Entschliessungen hier zu bringen. Ein wortgetreuer Bericht [ueber die] Referate und Diskussion[en] und de[n] Text aller Entschliessungen wird als Broschuere erscheinen. Unsere Freunde und Leser in England haben dann Gelegenheit, den ausfuehrlichen Bericht[9] dieser erfolgreichen Tagung nachzulesen.

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eine kuerzlich vom "Royal Institute of International Affairs" in der Serie seiner Nachkriegs-Studien herausgegebene Broschuere[10], welche die Arbeit einer Studienkommission ueber das Problem der Nachkriegsbeziehungen zwischen Grossbritannien und Deutschland wiedergibt, beginnt mit dem Hinweis darauf, dass das "deutsche Problem" ein Teil des Weltprobleme ist und die englisch-deutschen Nachkriegsbeziehungen sich nur im Rahmen der universalen Nachkriegs-Loesung betrachten lassen, die vor allem auf den Grundsaetzen der Atlantic Charter basiert sein wird.

Vom Gesichtspunkt der Sicherheit betrachtet, ist die Abruestung Deutschlands nach Meinung der Studienkommission das wichtigste Problem, und auch alle anderen Fragen sollten zunaechst unter diesem Gesichtspunkt behandelt werden. Dabei wird auf zwei Extreme hingewiesen: eine Politik der Zusammenarbeit und eine Politik des Zwanges. Waehrend die Atlantic Charter in ihrer Gesamtheit eine kuenftige Politik der Zusammenarbeit verkuendet, verlangt sie in ihrer Klausel ueber die Abruestung der Angreifernationen eine Massnahme, die nur durch Zwang zu erreichen ist. Die Studienkommission macht auf diese Tatsache aufmerksam und zeigt die Gefahren einer bedingungslosen Politik der Zusammenarbeit ebenso wie die Kosten und die Gefahren einer absoluten Zwangspolitik, die nicht nur Verarmung und Unterdrueckung Deutschlands zur Folge haette, sondern den dauernden Unterhalt einer riesigen Besatzungsarmee erfordern wuerde und die Sieger selbst mit dem Nazi-Geist der "Herrenvolk"-Idee infizieren wuerde.

Ueber das territoriale Problem Deutschland wird gesagt, dass kein Grund besteht, nach dem Kriege an ein deutsches Reich zu denken, das groesser ist, als es am 1. Maerz 1939, also vor der Besetzung Prags, war. Wenn die Frage der Verkleinerung dieses Reichs aufgeworfen wird, ist in erster Linie an Oesterreich und das Sudetenland, in zweiter Linie an das Rheinland und Ostpreussen zu denken. "Unter einer Politik, die auf Sicherheit dadurch zielt, dass sie Deutschland auf jede Weise und um jeden Preis schwaecht, wuerden alle umstrittenen Gebiete wahrscheinlich jemandem anderen gegeben werden, der darauf Anspruch erhebt. Um die Anwesenheit einer unzufriedenen Bevoelkerung zu vermeiden, wuerde sicher die

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Forderung erhoben werden, die deutschen Einwohner vom gesamten umstrittenen Gebiet zu vertreiben. Die ungeheure Entwurzelung von Menschen, die Hitler durchfuehrte, wuerde deutschen Protesten viel von ihrer Wirkung nehmen. Aber auch so koennte eine derart klare Diskriminierungspolitik auf lange Sicht fuer die Sicherheit nachteilig sein, erstens, indem sie die deutsche aggressive Energie steigert, und zweitens, indem sie wirklichen Beschwerden eine solide Grundlage verschafft, die sich mit Phantasie-Beschwerden verbinden wuerden, von denen, ohne jene Grundlage, eine besser unterrichtete Generation kaum beeindruckt werden wuerde."

Eine Loesung dieser Fragen, die nur zugunsten Deutschlands ausfaellt, wird bezweifelt. "Der ausschlaggebende Faktor in Zweifelsfaellen wuerden die Erfordernisse Europas als Ganzes sein. So koennte die Besetzung strategischer Punkte namens der vereinten Nationen im Interesse der Sicherheit und der wirksamen Abruestung notwendig sein. Auch koennten allgemeine wirtschaftliche Erwaegungen fuer die Entscheidung spezieller territorialer Probleme ausschlaggebend sein."

Anschliessend wird die Frage der Einheit des Reiches aufgeworfen. Es wird die Erwartung ausgesprochen, dass, obwohl im Buergerkrieg, der dem Zusammenbruch des Nazismus folgen koennte, separatistische Bewegungen auftauchen wuerden, die Deutschen willens sein werden, ihre Einheit zu bewahren, soweit sie daran nicht gewaltsam gehindert werden. Ganz sicher wuerde das der Fall sein, wenn die Sieger selbst einen starken Nationalismus zeigen. Deshalb brauchte aber die politische Struktur des Dritten Reiches nicht unveraendert bestehen zu bleiben. Es wird auf die Staerke des deutschen Partikularismus in der Vor-Hitler-Zeit hingewiesen und die Frage aufgeworfen, ob die Dezentralisierungs-Bewegung nicht ermutigt werden sollte und ob die Wiederherstellung eines wirklichen Bundes-Staates oder eines deutschen Staatenbundes nicht eine Minderung der deutschen Angriffsmoeglichkeit waere. "Es ist moeglich, dass die Dezentralisierung bewaffneter Kraefte - Polizei oder anderer -, wie sie Deutschland kuenftig belassen werden, und gewisser Verwaltungen und die Errichtung einer Bundesbehoerde mit verhaeltnismaessig geringen Kraeften und dem Sitz ausserhalb Preussens die Lust und Faehigkeit zum Angriff verringert."

Das deutsche Volk, so wird gesagt, koennte in seiner

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Masse dazu kommen, an einem positiven Plan fuer die Zukunft Europas mitzuarbeiten, wenn die vereinten Nationen einen solchen Plan haben, der die Wachsamkeit gegenueber dem deutschen Militarismus zwar in sich schliesst, aber darueber hinausgeht.

Das Problem der kuenftigen Regierung Deutschlands wird im Lichte der Forderungen "Zerstoerung der Nazi-Tyrannei" und der Nicht-Einmischung in die Regierungsform anderer Voelker untersucht, die in der Atlantic Charter aufgestellt sind. Es wird gesagt: "Wir koennen keinen wirklichen Frieden mit einer Regierung machen, die den Grundsatz ablehnt, dass die Rechte anderer Staaten respektiert werden und dass internationale Abmachungen eingehalten werden muessen. Falls dieses Prinzip beachtet wird, braucht uns die besondere Form der Regierung nicht uebermaessig zu interessieren. Wie weit wir selbst wirksam besondere Bemuehungen zu einer Regierungsbildung unterstuetzen koennen, wird von unserer unter dem Gesichtspunkt der Authentizitaet, der Leistungsfaehigkeit und der Lebenskraft vorgenommenen Einschaetzung der verschiedenen konstruktiven Elemente der Vor-Nazi-Tradition und, vor allem, der neuen Kraefte abhaengen, die beim Zerfall des Nazismus freiwerden!"

Die Frage, ob die kuenftige deutsche Regierung freien Wahlen unterliegen soll, wird dahin beantwortet, dass "die Unterdrueckung persoenlicher Freiheit in einem maechtigen Lande wie Deutschland natuerlich eine furchtbare Gefahr fuer seine Nachbarn darstellt, da Gewalt gegen die Rechte des individuellen Buergers eine Vorbereitung fuer den Angriff nach aussen sein kann".

Das Problem, so wird gesagt, liesse sich am besten loesen, wenn nicht Deutschland als einziges Land gezwungen wuerde, zur Beruhigung anderer Laender eine konstitutionelle Regierung besonderer Art zu haben. "Wenn z.B. alle europaeischen Staaten dahin uebereinkommen, dass es im allgemeinen Interesse notwendig ist, freie Wahlen und die Rechte des Individuums zu garantieren, dann koennte Deutschland zwar, wenn es noch immer die Freiheit ablehnt, sich der Verpflichtung zu entziehen suchen, aber der direkte Stachel der Diskriminierung wuerde fehlen. Eines ist jedoch klar. Falls Deutschland keine definitive Garantie persoenlicher Freiheit gibt, ob sie nun einseitig oder allgemein ist, dann werden die Juden und die anderen rassischen oder politischen Minderheiten wieder

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Gefahr laufen, ein aehnliches Schicksal zu erleiden, wie es ihnen unter dem Dritten Reiche zuteil wurde."

Das Problem der deutschen Wirtschaft wird in seiner Schwierigkeit aufgezeigt, und die Ansprueche einer Zwangspolitik [werden] mit denen einer Politik der Zusammenarbeit verglichen. Gegen eine Zwangspolitik, die einem oekonomischen Imperialismus der Sieger gleichkaeme, der sich Hitlers "Neue Ordnung" zum Muster naehme, wird eingewandt: "Willkuerlich Deutschlands Produktionskapazitaet zu ruinieren, die industrielle wie die wissenschaftliche, haette die weitere Senkung des Lebensstandards anderer europaeischer Laender zur Folge; denn selbst die gruendlichste Entwicklung der Produktion in anderen Laendern koennte nicht ausreichen, um den Standard Europas auf hoher Stufe zu halten, wenn Deutschland ein Depressionsgebiet waere. Die Beschaeftigung in England wuerde sicher bis zu einem gewissen Grade [unter] der Verarmung Deutschlands als Kundenland leiden; und es ist zu bezweifeln, ob dieser Verlust durch das Ausscheiden Deutschlands als Export-Konkurrent aufgewogen wuerde. Ausserdem wuerde aber die Aufgabe, Deutschland in dieser Stellung zu halten, nicht nur England einen riesigen Aufwand an militaerischen und anderen Zwangsmitteln abfordern, sondern es auch in Konflikt zu Nationen bringen, die mit einem prosperierenden Deutschland Handel zu treiben wuenschen. England muesste dann die Politik notfalls mit Waffengewalt durchfuehren oder sie aufgeben."

Die Schwierigkeit des Problems wird in dem Satz dargetan. "Wenn die beiden Ziele, welche in der Atlantic Charter aufgestellt sind: wirtschaftliche Entwicklung fuer alle, darunter Deutschland, und Entwaffnung der Angreifer - absolut verfolgt werden sollten, dann koennte ein Konflikt zwischen ihnen entstehen. Wenn man der Logik der Entwaffnung vollstaendig folgt, koennte man zur praktischen Zerstoerung der industriellen Grundlage des deutschen Wirtschaftslebens kommen; stellt man jedoch der Freiheit Deutschlands, seine wirtschaftlichen Moeglichkeiten zu entwickeln, keine Bedingungen, koennte das Deutschland schnell wieder in eine Lage bringen, in der es ohne Schwierigkeit eine neue allmaechtige Militaermaschine schaffen kann."

Die wichtigsten Schluesse der Studien-Kommission sind aus folgenden Saetzen erkennbar: "Eine ernsthafte Abruestungspolitik koennte deshalb erfordern, dass die zum

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grossen Teile kuenstliche und politisch dirigierte Konzentration der Industrie im Reiche gelockert wird. Aber die vorbeugende Zerstoerung der deutschen Produktionskapazitaet in grossem Massstabe und die Aufrechterhaltung der darauf folgenden Unfaehigkeit waeren im Widerspruch zur Atlantic Charter und wuerden eine sehr schwere Buerde darstellen. Dennoch sollten sich die Kontroll-Maechte das Recht vorbehalten, durch dauernde Inspektionen der Fabriken und Laboratorien die industrielle Entwicklung Deutschlands als Teil der Abruestungskontrolle zu verfolgen, und Reduktionen, darunter auch Verschrottung von Werken, zu verlangen, wenn Verdacht vorliegt."

Ein weiterer Zweig des Wirtschaftslebens Deutschlands, der unter strikte Beobachtung zu kommen haette, waeren das Verkehrssystem, das Transportwesen und die Stromversorgung. Gegen die Vorschlaege einer "Internationalisierung" der westdeutschen Schwerindustrie, zusammen mit der Nordfrankreichs, Belgiens, Hollands und Luxemburgs, wird eingewandt, dass sie keinen sicheren Weg zur Sicherheit darstellen wuerde, da sie unvermeidlich den politischen Zwecken eines Staaten oder mehrerer Staaten dienstbar gemacht werden wuerde. Ueber die Abruestung im allgemeinen wird gesagt, dass die Vergangenheit gelehrt hat, dass Deutschland nicht so schnell aufruesten konnte, dass es den Alliierten unmoeglich gewesen waere dazwischenzutreten, sondern dass es den Alliierten an dem geeinten Willen fehlte einzuschreiten. "Das deutsche Aufruestungsprogramm wurde von auslaendischen Nationen aktiv unterstuetzt, wobei industrielle, kommerzielle, finanzielle und Arbeitsmarkt-Interessen eine Rolle spielten, die alle Deutschland in der Lage sehen wollten, ihre Waren zu kaufen, ihre Arbeitskraefte zu bezahlen und hofften, dass Deutschlands Wiedererholung ihm die Zahlung seiner Schulden ermoeglichen wuerde."

Die Geschichte der von Differenzen erfuellten Politik der Alliierten gegenueber Deutschland in der Nachkriegszeit wird dann ausfuehrlicher betrachtet und eine Warnung gegen die Wiederholung jener Rivalitaeten ausgesprochen.

Es wird der Meinung Ausdruck gegeben, dass die Abruestung Deutschlands mehr eine Frage des Willens als der technischen Geschicklichkeit ist, und gesagt, dass die deutsche Abruestung die einzige Forderung ist, auf der England bedingungslos bestehen muss.

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Am Ende beschaeftigt sich der Bericht der Studienkommission mit der Frage der Wieder-Erziehung Deutschlands, wobei er zwar in grossen Linien dem hier in Nr. 49 der "SM" besprochenen Bericht des interalliierten Ausschusses folgt, der unter dem Vorsitz Prof. Murrays ueber dies Problem beriet, aber die Frage der aeusseren Beeinflussung des deutschen Erziehungswesens viel skeptischer als der Murray-Bericht gegenuebersteht.

Lochner[11] war jahrzehntelang Chefredakteur der "Associated Press" in Berlin, jahrelang Vorsitzender des Vereins der auslaendischen Presse und zuletzt auch der Amerikanischen Handelskammer in Berlin. Stets hilfsbereit, ausgezeichnet informiert, hatte er zahllose Freunde in allen Kreisen der Bevoelkerung.

Wem nicht von altersher bekannt ist, wie ausgezeichnet seine Verbindungen und wie vertrauenswuerdig seine oft sensationell klingenden Informationen wirklich sind, wird gelegentlich vielleicht misstrauisch beim Lesen seines Buches "What about Germany" (Verlag: Hodder und Stoughton, London, Preis sh 12/6) den Kopf schuetteln. Dazu ist aber kein Anlass. Voll Stolz zeigte Lochner seinen Besuchern im Jahre 1934 ein Glueckwunschtelegramm seines amerikanischen Chefs, der ihm gratulierte, weil er als Einziger am 29. Juni 1934 die Roehmaffaire als unmittelbar bevorstehend gemeldet hatte.

Wie in allen Buechern dieser Art ist vieles ueberholt, wenn sie im Druck erscheinen, vieles auch schon oft erzaehlt. Wir wollen uns darauf beschraenken, auf zwei Themen hinzuweisen.

1. Lochner erzaehlt, dass ihm eine Woche vor dem deutschen Angriff auf Polen einer seiner zuverlaessigsten Quellen einen Bericht ueber eine Rede gab, die Hitler am 22. August 1939 an die Spitzen der deutschen Armee auf dem Obersalzberg gehalten hatte.

Hitler erzaehlte, dass er seit dem Herbst 1938 den Angriff auf Polen beschlossen und seit diesem Zeitpunkt eine Neuverteilung der Welt im Zusammengehen mit Stalin geplant haette. Polen wuerde in wenigen Wochen besetzt, entvoelkert und spaeter mit Deutschen besiedelt werden.

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Stalin sei schwer krank, wuerde bald sterben, und dann sei der Augenblick gekommen, die Sowjetunion zu vernichten und die deutsche Weltherrschaft heranzufuehren.

Die Gelegenheit sei guenstig wie nie zuvor, sollte Chamberlain oder ein aehnlicher "Saukerl" mit Vermittlungsvorschlaegen kommen, so wuerde er ihn die Treppe herunterwerfen.

Soviel zur deutschen Schuld am Kriegsausbruch.

2. Eine sehr bestimmte Antwort hat Lochner auf die uns alle so ernst beschaeftigende Frage: Gibt es ein zweites Deutschland?, und diese seine Antwort ist ein "Ja" ohne alle Einschraenkungen.

Dieses andere Deutschland sei stumm oder spreche wenigstens nur leise und schwer verstaendlich, aber aus einem einzigen Grunde. Alle Moeglichkeiten, oeffentlich und laut zu sagen, was sie daechten, sei den Deutschen von den Nazis mit Gewalt genommen worden.

Die echten Deutschen seien beschaemt und gedemuetigt ueber die Schande, die die Nazis ueber den deutschen Namen gebracht haetten. Es gaebe eine geheime, unsichtbare Fuehrung der Front der anstaendigen Leute, die sich ueberall bilde. Lochner gibt hierfuer zahlreiche Belege, Namen und Ort sorgfaeltig getarnt. Wenn Lochner der gewissenhafte Berichterstatter ist, fuer den wir ihn halten, ist das von ihm gegebene Bild erfreulicher, als wir bisher zu hoffen wagten.

Von besonderem Interesse ist ein Bericht, den Lochner ueber seine Teilnahme an einer Sitzung von frueheren Mitgliedern der Freien Gewerkschaften gibt. Meist juengere Leute, diskutierten sie lange mit ihm ueber die Stellung [der] Vereinigten Staaten zu dem zweiten, anstaendigen Deutschland. Ueber die Zukunft Deutschlands hatten sie sehr bestimmte Ansichten und ueber die Rolle, die die Emigration in dieser Zukunft spielen wuerde.



[Spendenaufruf]


Unsere Leser und Freunde
werden geb[et]en, freiwillige Beitraege einzusenden, damit diese "Sozialistischen Mitteilungen" und andere informierende Vervielfaeltigungen auch in Zukunft verschickt werden koennen.

Geldbetraege werden an folgende Adresse erbeten: Wilh. Sander,
33, Fernside Ave., London N.W.7.

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Der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie, Sitz London, hat kuerzlich wieder einen kleinen Bericht ueber die Situation in Deutschland im Sommer 1943 herausgegeben. Es wird berichtet ueber Beobachtungen Neutraler ueber die Wirkungen der RAF-Angriffe auf Berlin, die Eder- und Moehnedaemme, auf Elberfeld usw.

Es wird von der Kriegsmuedigkeit weiter Kreise des deutschen Volkes berichtet und wie bereits in vereinzelten Faellen offen fuer den Frieden demonstriert wird, und eine Verstaerkung der SS an der innerdeutschen Front durchgefuehrt wurde. Ueber das Verhaeltnis zwischen deutschen und auslaendischen Arbeitern heisst es: "In den Betrieben, in denen hollaendische und belgische (flaemische) Arbeiter beschaeftigt sind, hat man festgestellt, dass zwischen den deutschen und auslaendischen Arbeitern ein Geist herzlichster Solidaritaet zu herrschen pflegt, was dem Vertrauen zu und dem Glauben an die Herrlichkeit und Unfehlbarkeit der Nazigesellschaft sehr abtraeglich ist. Die Schwierigkeiten der Verstaendigung zwischen plattdeutsch sprechenden Arbeitern und den genannten Auslaendern sind sehr gering. Die deutschen Arbeiter, die frueher durchweg sozialistisch und gewerkschaftlich organisiert waren, sind sehr begierig, von den gewoehnlich gut unterrichteten auslaendischen Arbeitern Informationen ueber die Aktivitaet der Sozialisten in den demokratischen Laendern zu erhalten. In den Betrieben ist nunmehr den deutschen Arbeitern das Zusammentreffen mit den auslaendischen Arbeitskameraden ausserhalb der Betriebe verboten, waehrend in den Betrieben eine verschaerfte Beobachtung angeordnet wurde."

Ueber den langsamen, aber bestaendigen Zerfall der Heimatfront berichten mehrere Beispiele: "Unzufriedene Frauen", Korruptionsfaelle, Sabotagefaelle usw. "Im Werfthafen bei Blohm und Voss (Steinwerder), wo die Schwimmdocks liegen, kam es Mitte April, kurz vor Arbeitsschluss, auf einem der Docks zu einem groesseren Feuer. Es ergab sich, dass die Besatzungsmitglieder eines im Dock liegenden U-Bootes mit Hilfe einiger Werftarbeiter den Brand gelegt hatten. insgesamt wurden 12 Personen verhaftet." - Der in englischer Sprache vervielfaeltigte Bericht kann von Interessenten bei uns angefordert werden (Unkostenbeitrag -,6 d pro Exemplar).

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Deutsche Sozialistinnen in der Albert Hall. Am 27. Juni feierten die englischen Genossenschaftlerinnen ihr 60-jaehriges Bestehen in der ueberfuellten Albert Hall. In einer "Internationalen Kavalkade" marschierten Gruppen von Sozialistinnen aus der ganzen Welt. Viele Frauen waren in Nationalkostuemen, und die Gruppen fuehrten ihre Nationalfahnen im Zug mit. Unsere deutsche Gruppe, in der alle sozialistischen Gruppen vertreten waren, hatte als einzige drei rote Sturmfahnen, und wir trugen unsere alte sozialistische Frauenuniform: hellblaue Bluse und roter Schlips. Emmi Freundlich[13], die Praesidentin der Internationalen genossenschaftlichen Frauengilde[14] sagte: "Die Deutschen Frauen, die ersten von Hitlers Maertyrern, aber auch die ersten, die gegen den Faschismus gekaempft und die vor der Katastrophe gewarnt haben, die er ueber die Welt bringen wuerde! Heute, unter Todesgefahr, kaempfen sie fuer eine neue Freiheit, ueberzeugter denn je, dass Demokratie Leben und Freiheit bedeutet und dass sie fuer uns lebensnotwendig ist. Ohne Freiheit und Demokratie koennen wir in der Tat nicht leben."

Im "European News Service der BBC"[15], die einen Auszug der Veranstaltung sendete, konnte man unseren Gruss an die englische Gilde hoeren und den stuermischen Beifall, mit dem unsere deutschen Genossenschaftlerinnen begruesst wurden.

Die West Lewisham Labour Party veranstaltete am 7. Aug[ust], tatkraeftig unterstuetzt vom International Bureau der Fabian Society, ein gut gelungenes internationales Treffen. Im Garten des Parteihauses versammelten sich englische und kontinentale Sozialisten, um zunaechst ein Referat des engl[ischen] Genossen K. Zilliacus ueber "International Working Class Unity in Post-War Europe" zu hoeren. Er betonte die zwingende Notwendigkeit, britische und amerikanische Sozialisten mit der russischen und kontinentalen Arbeiterbewegung zusammen zu fuehren. Redner verschiedener Nationalitaeten machten ergaenzende Ausfuehrungen. Gen. Pietro Treves wurde besonders herzlich aufgenommen. Im Namen der deutschen Sozialisten und Gewerkschafter machte Gen. Hans Gottfurcht kurze Ausfuehrungen. Alle Freunde wahrer internationaler Zusammenarbeit zollen den Veranstaltern aufrichtigen Dank.

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In einem soeben erschienenen Bericht des Fabian International Bureau wurde ein Ueberblick ueber die mannigfaltigen Aktivitaeten waehrend der letzten 18 Monate gegeben, und wir wollen den Fabian-Mitgliedern deshalb bei dieser Gelegenheit auch die Anerkennung dafuer aussprechen, was sie in ihrer politischen, organisatorischen und Forschungsarbeit geleistet haben, um auch die kontinentalen Sozialisten mit der englischen Arbeiterbewegung vertraut zu machen. Die Publikationen - ueber die wir aus Platzmangel nicht ausfuehrlich berichten koennen - dienen den gleichen Aufgaben wie die Konferenzen, Kurse usw.: die internationale Arbeiterbewegung zusammenzufuehren und ihren Einfluss auf die Gestaltung eines sozialistischen Europa zu steigern.

Auch unsere Genossen koennen Mitglied des International Bureau werden. Der Jahresbeitrag betraegt sh 7/6. Fuer diesen Beitrag koennen die verschiedensten Veranstaltungen besucht werden, ausserdem werden wichtige Vervielfaeltigungen zugestellt. Naehere Mitteilungen sind in der Geschaeftsstelle: 11, Dartmouth Street, London S.W.1, zu erfahren.




im August - September
im Austrian Labour Club, 31 Broadhurst Gds, London NW.6


Freitag, d. 20. August, abends 7.30 [Uhr] (Bitte puenktlich erscheinen, die doppelte Sommerzeit ist beendet, die letzten Autobusse gehen zwischen ½[10] und 10 Uhr abends!)
Mitglieder-Versammlung mit Vortrag des Gen. Erich Ollenhauer ueber die letzten militaerischen und politischen Ereignisse. Anschliessend Aussprache.
Bitte die weiteren Versammlungsdaten vormerken:
Freitag, d. 3. September, Freitag, d. 17. September und Freitag, d. 1. Oktober. Die Referenten und Themen werden in den vorhergehenden Versammlungen mitgeteilt.




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London N.W.7.






Editorische Anmerkungen


1 - Pietro Badoglio (1871 - 1956), italienischer Marschall, nach dem Sturz Mussolinis 1943/44 Regierungschef.

2 - Das "Nationalkomitee Freies Deutschland" wurde am 12./13.7.1943 bei Moskau gegründet.

3 - Das "Volksrecht" erschien als "Sozialdemokratisches Tageblatt" ab 1898 in Zürich (eingestellt).

4 - Der Großrat des Faschismus (Gran Consiglio del Fascismo) war das oberste Parteiorgan der Partito Nazionale Fascista. Er hatte am 24./25.7.1943 Mussolini sein Misstrauen ausgesprochen.

5 - Siegfried Jungnitsch, früher Stadtverordneter in Dresden, war von 1933 bis 1936 Editor der "Neuen Volks-Zeitung" (New York) und zeitweise im Vorstand der Association of Free Germans (USA).

6 - Fritz Karsen (1895 - 1951), sozialdemokratischer Schulreformer und Hochschullehrer, Exil ab 1933: Schweiz, Frankreich, Kolumbien, ab 1938 USA.

7 - Howard Johnstone McMurray (1901 - 1961), Mitglied des amerikanischen 78. Kongresses (Demokraten) von 1943-1945, amerikanischer Politikwissenschaftler.

8 - "Bohn": Siehe SM 85/86, Apr./Mai 1946, Anm. 3 . Der hier erwähnte Bohn ist wahrscheinlich derselbige Willi B.

9 - Die oben angekündigte Broschüre konnte nicht nachgewiesen werden. Die Texte der angenommenen Entschließungen waren im Juli 1943 in der "Neuen Volks-Zeitung" (New York) veröffentlicht worden.

10 - The Royal Institute of International Affairs (Hrsg.): The Problem of Germany. An interim Report by a Chatham House study group, London u. a., 1943.

11 - Louis Paul Lochner (1887 - 1975), amerikanischer Publizist, 1919-1946 Auslandskorrespondent und Kriegsberichterstatter an verschiedenen Fronten, 1928-1942 Leiter des Berliner Büros der Associated Press of America.

12 - Siehe englischsprachige Beilage zu SM 52: "At the turning point of the war".

13 - Emmi Freundlich (1878 - 1948), SDAP-Mitglied, tätig in der Heimarbeiterinnen-Bewegung Mährisch-Schönberg, 1921-1948 Präsidentin der International Co-operative Women's Guild (ICWG), ab 1939 Exil in Großbritannien, 1947 in den USA.

14 - = International Co-operative Women's Guild (ICWG), gegründet 1921 u. a. von E. Freundlich (siehe Anm. 13), die von 1921-1948 deren Präsidentin war.

15 - Der European News Service der BBC strahlte fast seit Anfang des Krieges Sendungen für die besetzten und neutralen Ländern Europas aus.




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