Nr. 34 - 1942

Anfang Februar

Sozialistische Mitteilungen

News for German Socialists in England

This newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

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Im neunten Jahre seiner Herrschaft hat Hitler seine Macht nahezu über den ganzen europäischen Kontinent ausgedehnt: Zu den Opfern Polen, Norwegen, Holland, Belgien, Frankreich haben sich die Staaten des Balkans und des Baltikums und ein erheblicher Teil des europäischen Russland gesellt. Aber Hitler und seine Anhänger in und ausserhalb Deutschlands haben nie weniger Grund zu Jubelfeiern gehabt als am neunten Jahrestag seines Machtantritts. Denn es hat sich erwiesen, dass der geplante Vorstoss zum Suez-Kanal 1941 genau so wenig zum Ziel führte wie im Herbst 1940 der geplante Sprung nach den Britischen Inseln. Und es hat sich gezeigt, dass der Angriff auf die Sowjetunion nicht nur die Verwandlung eines grossen "Neutralen" in einen gefährlichen Feind zur Folge hatte, sondern sogar die Armeen Hitlers und seiner Verbündeten in die ernsteste Schwierigkeit gebracht hat, der sie bisher begegnet sind. Da es ihnen nicht gelang, Leningrad, Moskau und den Kaukasus vor Einbruch des Winters zu erobern, da die entschlossene Hilfe Englands und Amerikas die Sowjetunion vor materieller Erschöpfung bewahrte, da die ungeheuren Menschen-Reserven der Sowjetvölker alle Behauptungen über die "Erledigung" der Roten Armee zu Lügen werden liessen und es möglich machten, den Winter-Rückzug der Angreifer zu erfolgreichen Gegenangriffen auszunutzen, sind Millionen Hitlerscher Soldaten vom Finnischen Meerbusen bis zum Schwarzen Meer aus vorwärtsstürmenden Eroberern zu hartbedrängten Verteidigern von Stellungen geworden, die Schritt für Schritt geräumt werden müssen.

Noch ist nicht abzusehen, ob und wo der Rückzug an der Ostfront zum Stehen kommen wird, und niemand kann voraus-

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sagen, ob Hitler und seine Alliierten im kommenden Frühling den Vorstoss von neuem wagen werden, der sie so ungeheure Opfer an Menschen und Material gekostet hat. Er hat Hitler noch mehr gekostet. Bevor der "Kreuzzug" nach Russland begann, flog sein Stellvertreter Hess nach Schottland, in der Hoffnung, wie es scheint, das britische Reich zu jener "Neutralität" zu überreden, die alle, welche sie ausprobieren, so schwer haben büssen müssen; und der Erfolg war, dass Hitlers Stellvertreter ein Gefangener wurde. Als der Kreuzzug sich in einen Rückzug verwandelte, hat Hitler den Oberkommandierenden seiner Armeen, den Feldmarschall v. Brauchitsch, entlassen und selbst das Kommando übernommen. So sinnlos es wäre, sich auf Kombinationen über die Hintergründe dieser Affären einzulassen, so nutzlos es ist, über den Wahrheitswert der vielen Gerüchte zu streiten, die in den letzten Wochen aus dem Dritten Reiche in die Welt drangen, - unzweifelhaft ist, dass diese Vorgänge entweder die Folge von Spannungen im Innern des Hitlerschen Herrschaftsbereichs oder Anzeichen dafür sind, dass Hitler und die Männer seiner nächsten Umgebung solche Spannungen fürchten. Ein dichter Schleier liegt über der Wirklichkeit des Dritten Reiches, - aber was aus ihm in letzter Zeit herausdrang, waren keine siegestrunkenen Klänge der Begeisterung, sondern Totenreden für plötzlich verschiedene Generäle, drohende Appelle für die frierenden Soldaten der Ostfront, Warnungen vor den Folgen einer Niederlage, die nur noch mit der Hoffnung auf einen Sieg, aber nicht mehr wie noch vor kurzem mit den kühnen Versprechen des baldigen Endsiegs schlossen.

Die gegen Hitler kämpfenden Demokratien haben ihre Propaganda nie auf solche Versprechungen gebaut, und die unter uns, die den Charakter dieses Krieges als eines Weltkrieges zwischen Faschismus und Diktatur vom ersten Tage an erkannt haben, sind nie im Zweifel über Schwere und Dauer des Ringens gewesen. Die Ereignisse im Fernen Osten sind eine neue ernste Warnung vor leichtfertigem Optimismus - und eine bittere Lehre für jene, die entgegen den Tatsachen behaupteten, dieser Krieg könne auf einen Kampf gegen Deutschland allein beschränkt werden oder der Einfachheit halber an keine andere Front als an die russische denken wollten. Wir müssen uns klar darüber sein, dass mit dem Eintritt Japans und Amerikas in den Krieg ein

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neues Kapitel begonnen hat, wahrscheinlich das letzte, aber sicher nicht das kürzeste dieses Ringens um die Welt. Wir müssen uns darüber klar sein, dass Singapore und Indien für den Bestand des britischen Reiches nicht weniger bedeuten als Suez und Aegypten, dass die Stosskraft der Japaner trotz ihrer jahrelangen Schwierigkeiten in China noch immer höchst gefährlich ist und dass es eine Weile dauern wird, bis Amerika das volle Gewicht seiner Menschen und Waffen auf den Kriegsschauplatz werfen und die Sowjetunion auch im Fernen Osten die Rolle des abwartenden Zuschauers aufgeben wird.

Die Zeit, die bis dahin vergehen wird, wird reich an Gefahren und ernsten Stunden sein. Der neue Vorstoss, den Rommels Armee in Nordafrika unternommen hat, zeigt, dass auf Seiten der Achse mit verzweifeltem Einsatz um die Abwendung der Niederlage gekämpft wird, und es ist nicht unmöglich, dass Hitler von neuem eine Invasion in England plant, das nach wie vor das Zentrum des Widerstandes gegen seine Weltherrschaftspläne ist und das, wie er hofft, durch die Verwicklung der USA in den Kampf um den Pazifik und die Bedrohung der anderen Teile des britischen Reiches in eine ungünstigere Lage geraten könnte.

Die kürzliche Ankunft amerikanischer Truppen in Nordirland hat bewiesen, dass England in der Stunde der Gefahr nicht verlassen sein wird.[1] Die kürzliche Debatte im brit[ischen] Parlament hat gezeigt, wie stark der Geist der Demokratie, der Selbstkritik und der Verantwortung im dritten Jahre des Krieges ist. Die Hoffnungen der Unterdrückten in ganz Europa, die Wünsche der Freiheitsfreunde in aller Welt sind an dieses Land geheftet. Die Krise, in die Hitlers Herrschaft geraten ist, wird trotz der japanischen Waffenhilfe tödlich enden. Die kritische Situation, in der sich das britische Reich befindet, wird mit Unterstützung aller freien Völker der Erde durch den Sieg einer neuen Weltordnung und den Untergang der Tyrannei beendet werden.





[Veranstaltungshinweis]

Voranzeige. Sonnabend, den 7. März 1942, nachm[ittags] 3.30 Uhr, Mitglieder-Versammlung der SPD mit Vortrag

des Genossen Walter Kolarz - Prag über:
Russische Realität, gestern und heute
in Westbourne Terrace 128, London, W2.

Leichte Erfrischungen sind zwischen 2 und 3.30 Uhr erhältl[ich]

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Nachdem sich auch Amerika aktiv am Kriege beteiligt und eine führende Rolle im Kampfe gegen Hitler und für eine Neugestaltung Europas und Deutschlands spielen wird, ist das Interesse an allen Vorgängen in den USA bei unseren Genossen und Lesern gewaltig gestiegen. Wir bringen deshalb heute und in Zukunft einen amerikanischen Brief aus der Feder unseren Freundes R.G.[2], New York, einem ehemaligen Chefredakteur einer verbreiteten sozialdemokratischen Tageszeitung in Deutschland und jetzigen Mitarbeiter der sozialdemokratischen "Neuen Volkszeitung", New York.

"Geschlossen wie nie zuvor steht [die] USA heute hinter Roosevelt. Ehemalige Isolationisten, wie Senator Wheeler, fordern drakonische Revanche und Vernichtung der Achse. Lindbergh[3] hat sich freiwillig zur Fliegerei gemeldet. Während englische Gesandte noch vor Wochen von amerikanischen Pazifisten ausgepfiffen werden konnten, dürfen sie heute ihr Haupt in jedermanns Schoss legen. Winston Churchill fand bei seinem zweiten Besuch begeisterte Ovationen im Kongress. In der Bilderpresse war er zu sehen, wie er auf der Fahrt durch amerikanisches Land die Grüsse der Bevölkerung erwidert, mit erhobener Hand zwei Finger zum V gespreizt. Im Kino werden Bilder mit englischen Truppen heute durch lauten Beifall ausgezeichnet.

[Die] USA rüstet auf langen Krieg. Schon werden die Autoreifen drakonisch rationiert und der Autokauf gestoppt. Viele Amerikaner werden wieder laufen lernen. In der Presse wird vermehrter Milchkonsum empfohlen, weil sonst die Farmer infolge der gestiegenen Löhne auch die Milchpreise erhöhen müssen. Milch gehört zu den Nahrungsmitteln, die im Ueberfluss vorhanden sind ... für Europa eine märchenhafte Vorstellung. Weihnachten wurde mit grosser Hingebung gefeiert. Ein Fest des Schenkens, wie wir es so bisher in keinem Land erlebten. Es gab wohl um den 24. Dezember herum keinen Armen und keinen Refugee, der nicht von irgendeiner Seite oder von mehreren Seiten beschenkt wurde. Kirchen, Vereine, landsmannschaftliche Vereinigungen wetteiferten miteinander, um an diesem Feste auch den letzten Bedürftigen zu erfassen.

Manche von uns waren für mehrere Tage in die Provinz zu Gaste geladen. Wir mussten leider absagen, weil

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Kriegserlasse die bisherige Freizügigkeit der 'Non-Citizens' beschränkten. Die Bestimmungen gegen die 'feindlichen' Ausländer werden nicht so heiss gegessen. Interniert wurden bisher nur jene, die der Polizei als suspekt bekannt waren. Die Behörden bemühen sich, den Begriff 'alien enemy' einzuschränken, das Odium von den nichtfaschistischen Refugees zu nehmen, die Fehler Frankreichs zu vermeiden, Gegner und Freunde des Faschismus [nicht] zu unterscheiden. Das ist in diesem grössten Nationalitätenstaat nicht leicht. Denn wie in der Tschechoslowakei im Henleinlager, in Frankreich unter den Naturalisierten und Elsass- Lothringern, so wurzelt hier in [den] USA die Fünfte Kolonne in den Bezirken der Eingebürgerten. In diesen Gefilden der Deutschamerikaner herrscht mehr reaktionärer Nationalismus vor, als man nach den bitteren Lehren des Ersten Weltkrieges für möglich gehalten hätte. Man kann drei deutsche Gruppen unterscheiden.

Erstens: die Nazianhänger, die mehr oder weniger verkappt für Hitler werben, aber prompt über die Gewalt zetern, wenn sie sich im Ausland plötzlich wider ihre Umtriebe kehrt. Noch immer sitzen sie zahlreich in den Betrieben, und manche von ihnen konnten sich noch vor Monaten so weit herauswagen, dass sie ihren antifaschistischen Kollegen andeuteten: 'Hitler kommt auch nach Amerika - und dann ihr[e] - ' Geste nach dem Halse. Diese Helden ziehen es vor, dem Dollar nachzujagen und für ihr Drittes Reich drüben die anderen sterben zu lassen. - Zweitens: das Gros derer, die zwar in der Hitlerdiktatur allerhand Haare gefunden haben, aber keine deutsche Niederlage wollen, weil sie davon eine Zerstücklung Deutschlands und eine Schwächung der Position des Auslandsdeutschtums befürchten. Am liebsten wäre ihnen eine Partie remis, ein Unentschieden.

Drittens: die deutschen Antifaschisten, die den Kampf gegen die Diktatur konsequent in Versammlungen, Presse und Betrieben führen und die Vernichtung der Diktaturen mit allen Mitteln wollen. Ihre schwerste Aufgabe liegt noch immer in den Betrieben, wo neben dem kleinen Häuflein sozialdemokratischer Arbeiter eine Herde Indifferenter, Schwankender und Nazianhänger steht. Welch Letztere man neuerdings daran erkennt, dass sie die Ohren angelegt haben, ein möglichst amerikanisches Gesicht zur Schau tragen, Defense-Bonds[4] zeichnen und sich untereinander aufs Flüstern beschränken.

Schwer für die amerikanischen Behörden, bei solcher Vermischung die 'Fünfte Kolonne' heraus zu finden. Immerhin

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weiss die Oeffentlichkeit, dass sie nicht unter denen zu suchen ist, die wegen der Hitlerei ins Exil gingen. Und so darf man nach allen bisherigen Aeusserungen der Verantwortlichen annehmen, dass den Refugees diesmal die summarische Internierung erspart bleibt.

Von Lissabon über Casablanca, Bermuda, Kuba traf hier dieser Tage die "Serpa Pinto" mit 850 Personen ein. Achthundertfünfzig auf einem Schiff, das kaum 500 Menschen würdig befördern könnte ... Sie hatten eine aufregende Fahrt von vier Wochen hinter sich. Unterwegs erfuhren sie von der deutsch-amerikanischen Kriegserklärung, mussten Zurückverweisung nach Europa oder Internierung in Ellis Island[5] befürchten. Sie kamen aus dem Camp - und sahen das neue vor sich. Man kann sich ihr Aufatmen denken, als in New York zivilistische [!] Kommissare mit milden Gebärden an Bord kamen, freundlich und mit beruhigenden Worten die Papiere der Gemarterten prüften, das Rote Kreuz den Newcomers richtigen Kaffee und Sandwiches reichte - und der Weg ins Freie offen stand ... Sie erlebten - nach Jahren der Flucht und des Gehetztseins - ein Wunder, ein Kriegsmärchen."

Das USA-Generalkonsulat in London hat die Instruktion erhalten, ohne besondere Ermächtigung durch das Staatsdepartment [!] keine Visa an Antragsteller auszugeben, die zur deutschen, italienischen, japanischen, bulgarischen, ungarischen oder rumänischen Quote gehören. Antragsteller, die unter eine dieser Quoten fallen, und bereits die Nachricht vom Generalkonsulat erhalten haben, dass ihr Visum bewilligt ist, wenn sie einen Schiffsplatz nachweisen können, müssen sich mit ihren Bürgern in [den] USA in Verbindung setzen und sie ersuchen, einen Antrag für sie beim Staatsdepartment zu stellen, dass es die besondere Ermächtigung in ihrem Falle geben möge. Wer bereits im Besitze eines gültigen Visums ist, wird von den neuen Vorschriften nicht betroffen.

ehemaliger Reichstagsabgeordneter und Chefredakteur des "Vorwärts" in Berlin, hat die Rückreise von seinem Besuch in England nach den Vereinigten Staaten angetreten.

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PEP (Political and Economic Planning), die von uns schon anlässlich der Schrift "Deutschlands Zukunft" (SM, No. 29) erwähnte Organisation, hat kürzlich eine Schrift "Britain and Europe" herausgegeben, über deren Inhalt wir ebenfalls berichten, ohne Stellung zu nehmen.

Der Krieg, so wird gesagt, bringt tiefgreifende Veränderungen mit sich, die nicht nur durch den Krieg verursacht werden, sondern teilweise selbst die Ursache des Krieges waren, und diese Veränderungen stellen England vor die Wahl: entweder sich von Europa abzuwenden, das seine Einigung ohne oder gegen England vollziehen würde oder aber führend bei der Neugestaltung Europas mitzuwirken. Die Schrift stellt einen Appell für das Beschreiten des zweiten Weges dar.

Sie macht darauf aufmerksam, dass sich das Wesen politischer Macht in den letzten Jahrzehnten radikal geändert hat: Sie beruht nicht mehr auf abgeschlossenen nationalen Einheiten und Armeen, sondern auf Industriemöglichkeiten, Rohstoffkontrolle, technischen und administrativen Fähigkeiten, und nur wenige Grossmächte sind imstande, solche Macht auszuüben. Das bedeutet ein notwendiges Ende der Kleinstaaterei, und der bisherige Kriegsverlauf hat die mangelnde Widerstands- und Lebenskraft kleiner Staaten, ja die Ueberholtheit des alten europäischen Machtsystems erwiesen. "Dies ist ein Krieg des Ueberganges von einer Art internationalen Machtsystems zu einer anderen." Dieser Krieg wird darüber entscheiden, "welche von den beiden Grossmächten den Kern der neuen Machtgruppierungen bilden werden". Mit dieser Entscheidung werden die internationalen Beziehungen, die Organisationsgrundlagen und die "Weltanschauung" des kommenden Europa entschieden werden.

Falls Deutschland siegt, wäre die Weltanschauung des von ihm beherrschten Europa totalitär, das Organisationsprinzip wäre Vorherrschaft einer Rasse, rücksichtslose Zentralisierung und Kolonialstatus für die nichtdeutschen Völker; die Beziehungen dieses Europa zu Amerika würden unvermeidlich zum Konflikt führen. Wenn England und die Alliierten siegen und den Mut haben, ihren Sieg auszunützen, dann gäbe es drei Machtzentren in der Welt: Amerika, London und Moskau, wozu in Zukunft vielleicht ein erstarktes China kommen wird.

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Es wird dann auf den moralischen Faktor hingewiesen, der für politische Macht umso wichtiger ist, je ausgedehnter der Machtbereich ist und je mehr ungleichartige Gruppen er umfasst. Während der totalitären Macht dieser moralische Faktor fremd ist, ist er dem angelsächsischen Machtbegriff eigentümlich. In kritischen Zeiten stellt er scheinbar ein Element der Schwäche dar; auf die Dauer aber bedeutet er eine Stärkung der Macht.

Europas altes Machtsystem ist zusammengebrochen. "Tatsächlich wird Europa Hitler ebenso wie einst Napoleon eine Anzahl Errungenschaften von dauerndem Werte verdanken. Vor allem ist es ihm gelungen, wieder die Grundlage für eine Einigung Europas zu schaffen, wenn auch in einer Art, die von seinen Zielen ganz verschieden ist."

Die ökonomische und administrative Vereinheitlichung Europas und die Niederlegung früherer Schranken wird nicht rückgängig gemacht werden sollen und können. Europas Einigkeit erfordert aber die Führung einer Grossmacht. Wer glaubt, die Völker werden sich spontan in einer Föderation zusammenfinden, hat die Lehren aus der jüngsten Geschichte nicht gezogen. Immer wieder hat Fehlen der Führung die üblen alten Gewohnheiten der Souveränität, Neutralität, Rivalität trotz schwerer Krisen triumphieren lassen. Selbst wenn Deutschland geschlagen würde, wäre eine deutsche Führung nicht ausgeschlossen, falls England sich von Europa zurückzieht und die Sowjetunion zu schwach ist, die Führung zu übernehmen. Noch wahrscheinlicher aber wäre im Falle, dass sich England abwendet, eine Führerschaft der Sowjetunion. Das wäre "ein langsamer und schmerzlicher Prozess, von zweifelhafter Dauer und ziemlich künstlich", weil die Sowjetunion nicht eigentlich eine europäische Macht ist und weil sie durch den Krieg viel zu erschöpft sein wird, um Europa mit dem Nötigen zu versorgen. Es wird deshalb nur eine praktische Möglichkeit geben: europäische Einheit unter britischer Führung, unterstützt von den Dominions und [den] USA und im Einvernehmen mit der Sowjetunion.

Dafür sprechen drei Gründe: Englands geographisch-wirtschaftliche Lage; die durch die Aufnahme der Vertreter der unterdrückten Nationen geschaffene moralische Führerschaft Englands; und das im Britischen Empire geschaffene Vorbild organisatorischer Zusammenarbeit.

Nachdem auf die Notwendigkeit der Unterstützung Eng-

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lands durch [die] USA und die Dominions noch einmal hingewiesen wird, wendet sich die Schrift dem britisch-russischen Verhältnis bei der Neugestaltung Europas zu. Die britische Kriegshilfe für die Sowjetunion kann die Grundlage zukünftigen Einvernehmens schaffen. Der bisherige Drang der Sowjetunion nach Westen war vorwiegend durch Furcht vor Angriffen bedingt; wenn jene Sicherungen gegen Aggression geschaffen werden, wie sie in der Atlantic Charter vorgesehen sind, wird auch dieses Problem gelöst werden können. Es ist zu hoffen, dass die Sowjetunion bei ihrer jetzigen Politik bleibt, die Entwicklung starker unabhängiger Staaten in Osteuropa zu begrüssen und zu fördern; so könnte eine Sicherheitszone an Russlands Westgrenze geschaffen werden.

Der ökonomische Wiederaufbau Osteuropas könnte durch britisch-russische Zusammenarbeit bewerkstelligt werden. Eine völlige Abkehr der Westmächte von osteuropäischen Fragen würde aber die Lage nur erschweren und besonders das Problem der Eingliederung Deutschlands in ein neues Europa verschärfen. Was die anderen europäischen Gebiete anbelangt, so hat die Sowjetunion selbst an ihrer Stabilität das grösste Interesse, und durch britische Führung könnte diese Stabilität am besten erreicht werden. Die ideologischen Differenzen zwischen angelsächsischer und sowjetrussischer Weltanschauung sollen nicht verschwiegen werden. Aber wenn sie nicht durch gegenseitige Furcht verschärft werden und wenn der Wille auf beiden Seiten besteht, das Gute von der anderen Seite zu übernehmen, dann kann der Gegensatz für die Entwicklung der Zivilisation fruchtbar werden.

Die neue europäische Organisation muss aus den Fehlern des Völkerbundes lernen. Weil er eine Weltorganisation sein wollte, weil er zu Unrecht auf Amerikas Mitgliedschaft rechnete, weil er an der Führungsrivalität zwischen England und Frankreich litt, weil die führenden Mächte nicht die militärische Vormacht behielten und weil der Völkerbund keine angemessenen Schritte auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiete tat, musste er versagen.

Die künftige Sicherung Europas muss zunächst auf der militärischen Uebermacht der Alliierten über Deutschland basieren. Sie müssen solange bewaffnet bleiben, wie in Deutschland noch die Neigung zur erneuten Bedrohung des Friedens besteht.

Das absolute Mass der Bewaffnung brauchte zu diesem Zwecke nicht hoch zu sein, wenn Besetzung des besiegten

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Landes und Entwaffnung durchgeführt werden.

Das deutsche Industriepotential könnte dadurch ungefährlich gemacht werden, dass man die Industriegebiete dem zentralen Einfluss Berlins entzieht und neue über die Grenzen gehende Industriezonen unter internationaler Verwaltung errichtet.

Kontrolle über die Rohstoffe wäre eine weitere wichtige Sicherung gegen Angriffe, zumal die Angreifermächte dieses Krieges rohstoffarme Länder sind.

Die deutsche Militärkaste muss entmachtet werden: durch Schaffung einer Bürgerwehr und durch Ablenkung des Abenteuer- und Organisationstalents des bisherigen Offiziernachwuchses auf andere, produktive Möglichkeiten.

Wirtschaftlich müsste England seine Führerschaft durch Versorgung Europas nach dem Lease-Lend-Prinzip erweisen.

Eine gemeinsame europäische Armee wäre eine wirksame Friedensgarantie. Aber Sicherheits-massnahmen allein genügen nicht.

Ein europäisches Wiederaufbaukomitee musste seine Arbeit mit "erster Hilfe" für das vom Kriege verheerte Europa beginnen, die ein erster Schritt in einem grossen Zukunftsplan wäre. Ein neues wirtschaftliches und soziales System in Europa muss geschaffen werden, dessen Ziel die Wohlfahrt aller europäischer Völker und die Zusammenfassung aller ihrer wirtschaftlichen Quellen ist.

Auch auf sozialem Gebiet wird man mit Notmassnahmen nach Kriegsende beginnen und zu Neuaufbau weiterschreiten müssen. Die von der Diktatur unterdrückten freien Organisationen - Universitäten, Kirchen, Gewerkschaften, Genossenschaften, Berufsverbände, freie Presse und Rundfunk - wären wiederzubeleben. Gerade hier könnte englisches Vorbild wertvoll sein.

Am Anfang werden Briten und Amerikaner bei diesem Wiederaufbau eine grosse Rolle spielen; ihr Ziel aber muss sein, eine neue europäische Elite heranzubilden.

Europäische Organisationen zur Behandlung gesamteuropäischer Probleme nach dem Vorbild des Internationalen Arbeitsamtes und des Weltpostvereins müssen entstehen.

England muss die Führung bei der Lösung dieser Aufgaben übernehmen, es darf die Verantwortung nicht scheuen, - wenn es nicht nach abermals 20 Jahren schwer dafür büssen will.

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In der "New Yorker Volkszeitung" finden wir einen Artikel des Gen. Siegfr[ied] Aufhäuser, in dem er zur Stellung der Arbeiterschaft in der kommenden Krisenzeit in Deutschland Stellung nimmt und die Menschen in den Betrieben als Kern der bevorstehenden Umwälzung bezeichnet. Wir bringen einige Zitate aus dem Artikel:

"...Um die Situation im deutschen Volk zu ermitteln, muss man unterscheiden zwischen einer immer mehr ablehnenden Haltung gegenüber dem Nazismus und tatsächlich aktiven Regungen zum Widerstand.

Die Opposition gegen das Regime mag zwar alle Schichten der Bevölkerung erfasst haben. Die Bereitschaft zum organisierten Widerstand aber liegt fast ausschliesslich bei der Arbeiterschaft. Die Industriearbeiter in den Grossbetrieben bilden das eigentliche Willenszentrum für jede künftige Bewegung des deutschen Volkes. Es muss ausgesprochen werden, dass die besonnene, aber darum nicht minder entschlossene Haltung der Arbeiter im gegenwärtigen Stadium des Krieges in den demokratischen Ländern, auch in der amerikanischen und britischen Oeffentlichkeit, nur sehr ungenügend gewürdigt wird. Vielleicht haben die Publikationen einzelner bürgerlicher Schriftsteller dazu beigetragen, die wirkliche Bedeutung der deutschen Arbeiterschaft zu verschleiern, die ihre frühere politische und gewerkschaftliche Schulung auch heute und gerade heute zu nutzen wissen. Jedenfalls begegnet man in Diskussionen immer wieder einer völligen Verkennung der wirklichen Kräfte einer künftigen Revolution gegen Hitler in Deutschland und Oesterreich.

Es trifft gewiss zu, dass heute weite Kreise der Industriellen vom Hitler-Regime ebenso enttäuscht sind wie Fritz Thyssen. Ebenso fühlen deutschnationale Kreise sich ähnlich betrogen wie Hermann Rauschning. Man sollte indessen nicht übersehen, dass das deutsche Bürgertum, völlig abweichend von der Bürgerschaft in England und Amerika, stets politisch passiv gewesen ist. Es wartet auch heute auf die Initiative der Arbeiterschaft. Die Mittelschichten sind zweifellos höchst unzufrieden. Sie kommen aber ebenfalls über ein allgemeines Räsonnieren niemals hinaus. Typisch in den Briefen aus Deutschland ist, dass immer wieder Aeusserungen von bürgerlicher Seite zu Arbeitern

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zitiert werden, wie: 'Was werden Ihre Leute tun?' - Die politisch denkende und massgebliche Schicht des kommenden Widerstandes sind eben die Arbeiter.

Ihre derzeitige Aktivität bietet zwar heute kein Material für die täglichen Sensationsmeldungen, ist aber darum nicht minder wichtig. Die deutsche Arbeiterschaft neigt nicht zu spontanen Aufständen. Sie ist gewohnt, ihre Kräfte mit denen des Gegners abzu messen [!]. Sie verzichtet auch heute nicht darauf zu organisieren, bevor sie gewillt ist, zum geeigneten Zeitpunkt zur Aktion schreiten zu können. dass dieser Zeitpunkt naturnotwendig im Zusammenhang steht mit der Entwicklung des Krieges, bedarf keiner weiteren Erklärung.

Die deutsche Arbeiterschaft war nach dem Zusammenbruch ihrer legalen Organisation im Jahre 1933 zunächst gelähmt. Die Atomisierung ihrer Kräfte zwang dazu, sich in den Methoden dem neuen Gewalt-Regime auszupassen. In den ersten Jahren der Hitler-Diktatur hatten sich in Prag, Paris usw. Auslandszentralen gebildet, die in dauerndem Verkehr mit den Arbeitern in Deutschland blieben. In jener Periode wurden Tausende von früheren Vertrauensleuten der Bewegung verhaftet, gemartert, ins KZ geworfen und gemordet. Die Zahl der Opfer verlangte eine Revision der Methoden im Verkehr der Arbeiter drinnen und draussen ... Es ist ein Zeichen der Schulung dieser Arbeiterschaft, dass sie ihre Methoden des Widerstandes zu revidieren verstanden hat. Die Fülle der äusserlich kleinen Aktionen, die sich in den Industriebetrieben täglich ereignen, haben durchaus eine revolutionäre Bedeutung ...

So konnten im Bergbau, auch ohne Organisation, grosse Aktionen geführt werden, um gegen den 10- und 12-Stundentag erfolgreich anzugehen. Gegenüber der Waffe der passiven Resistenz hat sich die Gewalt der SS und Gestapo machtlos erwiesen. Diese Betriebsgemeinschaften, die neben der Untergrund-Aktivität eine bedeutsame Kraft in der Vorbereitung kommender Dinge darstellen, sind von entscheidender Bedeutung. Die Arbeiter der Betriebe, die heute um scheinbar kleine soziale Forderungen gesammelt werden, werden zum richtigen Zeitpunkt der Stosstruppe der deutschen Revolution bilden. - In Frankreich, Belgien, Holland und der Tschechoslowakei vollziehen sich nationale Revolutionen. In Deutschland kann und wird es aber die soziale Revolution sein, die zum Sieg der Demokratie führt."

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wurde, wie wir bereits in Nr. 33 der SM mitteilten, im Dezemberheft des "[International] Socialist Forum" fortgesetzt. Hans Vogel beschäftigt sich besonders mit den Argumenten des spanischen Sozialisten Araquistain, der den deutschen Sozialdemokraten politische Blindheit und Mangel an Widerstandswillen vorgeworfen hatte. Vogel stimmt A[raquistains] Hinweis auf die der demokratischen und freiheitlichen Entwicklung des Volkes so ungünstige Geschichte Deutschlands zu, aber gibt gerade aus diesem Grunde die Schwierigkeiten zu erwägen, denen die Weimarer Republik als erster Versuch einer Volksregierung begegnete. (Wir bringen an anderer Stelle dieser SM einige Zitate aus dem Artikel des Gen. Vogel.) V[ogel] erklärt, es sei nicht seine Absicht, begangene Fehler zu leugnen oder nutzlosen Streit über Vergangenes zu führen; aber er fordert Gerechtigkeit in der Beurteilung der deutschen Arbeiterschaft.

Vogel weist auf die Umstände hin, die es der Sozialdemokratie unmöglich erscheinen liessen, im Jahre 1932 dem Papenschen Staatsstreich gegenüber dieselben Massnahmen anzuwenden, die sich 1920, unter viel günstigeren Bedingungen, dem Kapp-Putsch gegenüber anwenden liessen. V[ogel] erinnert an den Generalstreik gegen die Kappisten, der seinesgleichen kaum in der Geschichte hat. V[ogel] legt anhand von Tatsachen und Schilderungen neutraler Botschafter dar, wie die Wirtschaftskrise, die Haltung der Kommunisten und die parlamentarisch-politische Situation im Jahre 1932 die Entscheidung erschwert hatten, wie unrichtig aber A[raquistains] Behauptung ist, dass die Sozialdemokraten nicht hatten kämpfen wollen und dass Otto Wels Hitler die "Mitarbeit" der Arbeiterorganisationen "angeboten" habe. Das Gegenteil war der Fall. "Wenn die Zeit kommen wird, einen genauen Bericht über die Opfer an Blut und Freiheit und über die Leiden der deutschen Arbeiter zu geben", sagt Vogel, "dann wird man deutlich sehen, dass sie sich Hitler und seinen Schergen nicht ohne Widerstand gebeugt haben und nicht kapitulierten, ohne sich zu verteidigen."

Ausser Vogels Beitrag erschienen im Dezemberheft des "Forum" noch drei weitere Zuschriften über das "deutsche Problem". Die erste ist von Walter Loeb, dem ehemaligen thüringischen Staatsbankpräsidenten, der die Ziffer von 2 Millionen Deutschen, die in den vergangenen 8 Jahren im

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KZ gewesen seien, bestreitet. Loeb wendet sich weiter gegen die Theorie von den "unmöglichen Entschädigungen" und anderen Konsequenzen des Versailler Friedensvertrages und bekämpft die Beurteilung Stresemanns und Brünings durch Brailsford und schreibt, dass der ADGB, Leipart[6] und die "Gewerkschafts-Zeitung"[7] den Nazis 1933 die Mitarbeit angeboten und sich zur Teilnahme an der Nazi-Maifeier bereit erklärt hatten. Schliesslich verweist L[oeb] in einer Polemik gegen Douglas-Smith auf die Hitler-Revolte in München 1923 und auf die verhängnisvolle Rolle der Reichswehr, die u. a. die Vernichtung der sozialistischen Länderregierungen in Sachsen und Thüringen herbeigeführt habe.[8]

Eine weitere Zuschrift ist von Wenzel Jaksch, dem Vorsitzenden der sudetendeutschen Sozialdemokraten, der den von dem polnischen Genossen Poznanski gegen ihn gerichteten Angriff mit dem Hinweis darauf abwehrt, dass er sich für eine friedliche Regelung von Grenzfragen einsetze und die polnischen Sozialisten ebensowenig für Sünden früherer polnischer Regierungen verantwortlich mache, wie man deutsche Sozialisten gerechterweise für das Hitler-Regime verantwortlich machen könne. Der deutsche Sozialdemokrat G. Lütkens[9] verwahrt sich ebenfalls gegen Vorwürfe, die Poznanski gegen ihn erhob, und stellt fest, dass sie auf falsch oder entstellt zitierten Sätzen basiert waren und sich damit gegen Behauptungen richteten, die er nicht aufgestellt hatte, sondern deren gerades Gegenteil er zum Ausdruck gebracht hatte.

die in den letzten beiden Nummern der SM erwähnt wurde, schreibt uns einer unserer in der britischen Armee dienenden Gen[ossen]: "Es muss festgestellt werden, dass das Pionierkorps eine Einheit der regulären britischen Armee ist und die Mehrzahl der Kompanien aus englischen Truppen besteht. Daher ist es nicht richtig, von einer Transferierung aus dem Pionierkorps zur regulären britischen Armee zu sprechen. Ausserdem möchte ich darauf hinweisen, dass ausser im Pionierkorps und im Ordnance Corps auch Deutsche in anderen Spezialformationen der britischen Armee sind. Praktisch stehen uns alle Unter-Offiziersränge offen, eine Anzahl Fluechtlinge deutscher Herkunft wurde sogar zu Offizieren befördert."

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hat Hans Vogel, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, im "[International] Socialist Forum" Ausführungen gemacht, die wir hier auszugsweise unseren Lesern zur Kenntnis bringen.

Gewerkschaften und Maifeier 1933
"... Ich glaube nicht, dass es heute in Deutschland auch nur einen Menschen gibt, der solche offenbaren Fehlentscheidungen, wie beispielsweise die Aufforderung der Gewerkschaften zur Teilnahme an den im Jahre 1933 von den Nationalsozialisten angeordneten Maifeiern und aehnliches verteidigen wollte. Ebenso falsch wäre es aber, anzunehmen, dass diese Entscheidungen einem inneren Gleichschaltungsdrange entsprungen wären, sie waren von dem irrigen Glauben diktiert, damit wenigstens noch einen Rest selbständiger Organisationen und Institutionen der Arbeiterschaft retten und damit den Interessen der Arbeiter dienen zu können."

Erster Versuch einer Volksregierung
"... Deutschland verfügt im Gegensatz zu anderen Ländern, wie z. B. Frankreich und England, weder über eine demokratische noch eine revolutionäre Tradition. Die Weimarer Republik war in der Tat der erste Versuch des deutschen Volkes, sich nach Jahrhunderten Bevormundung und Unterdrückung selbst zu regieren. Ist es da verwunderlich, wenn das in den aussergewöhnlich schwierigen Zeiten ohne Fehler nicht möglich war? Auch in anderen Ländern hat die Selbstregierung eines langen organischen Entwicklungsprozesses bedurft und in keinem anderen Lande wohl ist dieser Prozess bereits befriedigend zum Abschlusse gebracht. In Deutschland wurde dieser Prozess besonders dadurch erschwert, dass eine völlig neue Bewegung, der Nationalsozialismus, im politischen Kampfe völlig neuartige Prinzipien und Methoden zur Anwendung brachte. Die alten Parteien waren gewohnt, unter absoluter Legalität zu wirken und auch in den Zeiten schwerster politischer Auseinandersetzungen die Grundsätze der Zivilisation aufrecht zu erhalten. Die Umstellung auf die neueren Prinzipien und Methoden erforderte Zeit. Schliesslich ist von ihnen nicht nur die deutsche Arbeiterbewegung überrascht worden, es soll sogar auch einige Generalstäbe gegeben haben, denen im gegenwärtigen Kriege das gleiche passierte ..."

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Kapp-Putsch und Generalstreik in Deutschland 1920
"In der Nacht auf den 13. März setzten sich die meuternden Truppen der Brigade Ehrhardt[10] auf Berlin in Bewegung. Noch in der gleichen Nacht ging ein von Otto Wels gezeichneter Aufruf der SPD ins Land, der zum Generalstreik aufforderte. Der Reichskanzler Bauer[11] hatte durch handschriftlichen Vermerk die Kosten der Drucklegung und Verteilung auf das Reich übernommen, und ausserdem trug er die Unterschrift der 7 sozialdemokratischen Regierungsmitglieder. Die bürgerlichen Minister billigten gleichfalls den Aufruf. Die Gewerkschaft, die USP und die Demokraten nahmen die ausgegebene Streikparole auf, während damals bereits die Kommunistische Partei in Neutralität verharrte und es ablehnte, ihre Anhänger ebenfalls zum Streik aufzurufen. Schliesslich erliessen auch die süddeutschen Länderregierungen Bayern, Württemberg und Baden Kundgebungen für die Reichsregierung. Niemals hat die Welt einen Generalstreik erlebt, der sich mit diesem messen kann. Generäle verweigerten dem von Kapp[12] eingesetzten Kriegsminister Lütwitz[13] den Dienst und deutschnationale Unterstaatssekretäre die Ausführung der von Kapp erlassenen Anordnung und ihre Unterschriften zur Auszahlung der von Kapp angeforderten Gelder durch die Reichsbank. Die Arbeiterschaft stand geschlossen im Streik und innerhalb [von] 5 Tagen war der Putsch erbärmlich zusammengebrochen..."

Politisch-Parlamentarische Situation 1932
"Wie ganz anders war die Situation im Juni 1932 und den darauf folgenden Monaten. Reichspräsident war Hindenburg, der am 30. Mai Brüning aus dem Reichskanzleramt entliess und am 1. Juni Papen, einen der einflussreichsten Führer des rechten Flügels des christlichen Zentrum, zu seinem Nachfolger ernannte. Am 2. Juni bereits war das Kabinett fertig. Es setzte sich aus 6 Aristokraten und 3 Bürgerlichen zusammen, wovon einer der Vertreter des grössten Chemietrustes der Welt war. Die Arbeiterschaft war überhaupt nicht mehr vertreten. Bayern vertrat eine ausgesprochen reaktionäre Politik, es stand zu Preussen noch mehr in Feindschaft als zum Reich, und in den anderen süddeutschen Staaten war der Einfluss der Sozialdemokraten ein nur schwacher. Die Nationalsozialisten, die zur Zeit des Kapp-Putsches im Reichstag überhaupt nicht vertreten waren, brachten es bei der Wahl am 31. Juli 1932 auf 13.327.779 Stimmen [und] 230 Abgeordnete, die Kommunisten auf

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89 Abgeordnete anstelle der 2 bei der Wahl am 6. Juni 1920 und die Demokraten (Deutsche Staatspartei)[14], die bei einem Generalstreik als einzige bürgerliche Partei evtl. hätte als Hilfstruppe in Betracht kommen können, konnte an Stelle der 45 bei den Wahlen im Jahre 1920 erhaltenen Abgeordneten nur noch 2 für sich buchen. Die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten war im gleichen Zeitraum von 193 auf 133 zurückgegangen. Die Nationalsozialisten, die weitaus stärkste Partei des Reichstages, tolerierten die 'Regierung der Barone', wofür sie sich schwer bezahlen liessen und sehr wenig leisteten. Dafür, dass sie versprachen, der Regierung keine Schwierigkeiten zu bereiten, erreichten sie 3 Zugeständnisse von ungeheuerer Bedeutung: die Aufhebung des SA- und Uniformverbotes, die Beseitigung der Preussenregierung Braun-Severing sowie die Auflösung des Reichstags und Neuwahlen innerhalb [von] 60 Tagen. Die Auflösung des Reichstags erfolgte bereits am 4. Juni und 10 Tage darauf die Aufhebung des Verbotes der SA und des Uniformtragens. Und damit wütete der Terror der braunen und schwarzen Banden wieder durch alle Gaue des Reiches. Die Wochen nach der Aufhebung des Verbotes gehören zu den blutigsten der vornationalsozialistischen Zeit ..."

Absetzung Brauns und Severings am 20. Juli 1932
"...Als Brauns Stellvertreter (Braun hatte Krankenurlaub), der Zentrumsminister Hirtsiefer[15], und der Innenminister, der Sozialdemokrat Severing, am 20. Juli einer Einladung Papens folgend in die Reichskanzlei kamen, wussten sie nicht, was ihnen bevorstand. Sie glaubten geladen zu sein wegen eines Einspruches, den sie gegen soziale Härten der Papenschen Notverordnung erhoben hatten. Papen teilte ihnen aber seinen Entschluss mit, Braun und Severing, also nicht die ganze Regierung, abzusetzen und sich selber als Reichskommissar einzusetzen. Severing und Hirtsiefer erhoben dagegen selbstverständlich den schärfsten Einspruch, als sie aber in ihre Aemter zurückkamen, war über Berlin und die Provinz Brandenburg von Papen der Belagerungszustand verhängt und die vollziehende Gewalt in diesem Augenblick auf den Militärkommandanten des Wehrkreises, den General von Rundstedt[16], übergegangen, der von nun an auch über die Polizeitruppe verfügte, die bis dahin Severing unterstand.

Um die ganze Schwere der Entscheidung, den General-

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streik gegen diesen Gewaltstreich auszurufen, zu erfassen, möchte ich kurz auch auf

die wirtschaftliche Situation im Juli 1932
und die darauf folgenden Monate eingehen. Die Lage des Arbeitsmarktes war katastrophal. Die sinkende Kaufkraft aller Berufsstände hatte zu einer weitgehenden Schrumpfung des Warenmarktes geführt. Die durchgeführte Rationalisierung führte zu einer stark verminderten Zahl der Arbeitskräfte. Die Zahl der Vollerwerbslosen stieg [auf] rund 6 Millionen. Von den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern war [...] Ende 1931 nur noch ein Viertel voll beschäftigt, mehr als ein Viertel leistete Kurzarbeit und fast die Hälfte war erwerbslos. Hand in Hand damit ging eine ständige Senkung der Nominallöhne bei einer gleichzeitigen Steigerung der Beiträge zur Sozialversicherung. Welch grosse Rolle in solchen Zeiten die Sicherung des Arbeitsplatzes im Leben der Arbeiter spielt, haben im Jahr 1934 auch unsere österreichischen Freunde erfahren ..."

Die Wirtschaftskrise erfasst alle Bevölkerungskreise
"...Die Masse der kleinen und mittleren Beamten war vielfach schlechter entlohnt als die Arbeiter, eine Gehaltskürzung folgte der anderen und in immer kürzeren Zwischenräumen. Die kleine Ladenbesitzer, müssig hinter dem leeren Verkaufsstand stehend, bildeten einen statistisch nicht erfassbaren und sozial vernachlässigten Teil der ungeheueren Erwerbslosenarmee, sie neideten den Arbeitern, Angestellten und Beamten ihre Bezüge und den Arbeitslosen die Unterstützung. Die kleinen und mittleren Bauern jammerten mit Recht über die niedrigen Preise für ihre Produkte und die übersteigerten Preise für die Artikel, die sie zum Leben und für ihre Wirtschaft benötigten. Sie waren bis über die Ohren verschuldet und wussten nicht, wo aus und ein. Daneben gab es ein weitreichendes akademisches Proletariat, Aerzte, die keine Patienten, Rechtsanwälte, die keine Klienten hatten, usw. Viele der Studenten kamen aus den kleinen, verarmten Mittelschichten. Es herrschte eine Ueberproduktion an Intellektuellen, die, wenn sie nach abgeschlossenen Studien eine Existenz fanden, ganz mässig bezahlt wurden. In allen Strassen und Versammlungssälen, in den Zeitungen und den Parlamenten hallte das wüste Kampfgeschrei der Nationalsozialisten wider, dass an dieser Not und dem Elend nur die Republik und Demokratie, das 'System' und

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der 'Marxismus', das 'jüdische Bankkapital' und die 'jüdischen Warenhäuser' die Schuld hätten ... Und die Deklassierten und auch Teile der Arbeiter, vor allem die Arbeitslosen, sangen nicht die Internationale, sondern sie marschierten im Takte des Horst-Wessel-Liedes[17] hinter den Hakenkreuzfahnen. Nicht Revolution, sondern Konterrevolution war die Losung ..."

Kommunisten und Generalstreik
"...Anzunehmen, dass die KP wegen der Entsetzung Braun-Severings, die sie zuvor doch mit Hilfe der Nazis gestürzt hatten, mit in den Generalstreik treten würden, glaube wer will. Dutzende Male hatten sie zuvor, aus den nichtigsten Anlässen, aber regelmässig ohne Erfolg, zum Generalstreik aufgerufen. Immer ging es ihnen darum, die 'Sozialfaschisten'[18] zu entlarven, womit sie die Sozialdemokraten meinten ... Ein Generalstreik bei der Haltung der Kommunisten und 6 Millionen Arbeitslosen musste aus dem kleinen Bürgerkrieg, den es ohnehin schon gab, sofort den grossen machen. Dann aber stand man wieder vor der militärischen Frage, die schon im Voraus entschieden war ..."

Keine Voraussetzung für einen Generalstreik
"...Es werden wohl auch die schärfsten Kritiker zugeben müssen, dass unter den damals gegebenen Umständen die Entscheidung der Vertreter der Arbeiterschaft eine aussergewöhnlich schwierige und verantwortungsvolle war. Die Leitung[en] der SPD und der Gewerkschaften gingen bezüglich der geplanten Abwehr des Papenschen Gewaltstreiches und des kalten Putsches Hitlers gegen die Republik und die Rechte der Arbeiter ganz konform ..."

"...Entscheidend für das Gelingen des Generalstreiks wäre auf jeden Fall die völlige Stillegung aller Verkehrsbetriebe, der Kraftstationen und des graphischen Gewerbes gewesen, eine Voraussetzung, die sich im entscheidenden Augenblicke als unmöglich erwiesen hat.

Niemals in meiner 40jährigen, von grossen Bitternissen durchsetzten Tätigkeit in der deutschen Arbeiterbewegung habe ich wieder ein so grosses Mass seelischen Zusammenbruches und menschlicher Tragödie erlebt, als in jenen für die Arbeiter Deutschlands und die Welt so schicksalsschweren Stunden ..."

(In der nächsten Nummer der SM werden wir aus dem Buche von R. T. Clark "The Fall of the German republic" ein wichtiges Kapitel zitieren.)

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beschäftigte sich kürzlich eine Konferenz unter Vorsitz des Sir Herbert Emerson, an der Vertreter der Flüchtlingskomitees, des Foreign und Home Office und [des] British Council teilnehmen. Die dort beschlossenen Richtlinien, die ein engeres Zusammenarbeiten erreichen sollen, gehen davon aus, dass die versch[iedene] Herkunft, Traditionen und Anschauungen der verschiedenen Flüchtlingsgruppen bei der Schaffung und Führung solcher kulturellen Zentren berücksichtigt werden sollen, dass aber in jedem Falle die lokalen Verhältnisse zu berücksichtigen sind und Aenderungen oder Erweiterungen schon bestehender Einrichtungen nur vorgenommen werden sollen, wenn seitens der betr[offenen] Flüchtlinge ein wirklicher Wunsch danach besteht.

Was die Schaffung neuer Zentren anbelangt, so soll sie dort unterbleiben, wo schon bestehende Einrichtungen die Aufgabe erfüllen können. Hauptzweck neuer Zentren soll sein, den Kontakt ausländischer Flüchtlinge mit britischen Freunden zu erleichtern und die Flüchtlinge zum Verständnis britischer Traditionen, Ideale und Kultur zu bringen. Die Haupttätigkeit solcher Zentren solle auf sozialem, kulturellem, unterhaltendem und erzieherischem Gebiete liegen; politische Tätigkeit solle vermieden werden.

Nach der Verleihung des Ordens des Britischen Empires an Miss Bertha L. Bracey richteten wir folgende Zeilen an die Society of Friends, Bloomsbury House, London, WC1:

"Dear Miss Bracey,

It was with the greatest pleasure and satisfaction that we learned about you being rewarded the O.B.E., and we beg to congratulate you on this occasion, and to tell you once more how much we have always admired the splendid work you have done for the refugees from Germany and how much we appreciated your assistance and advice, which, as we sincerely hope, will be given to us also in future.

Wishing you all the best

Yours very sincerely
Wilhelm Sander"

January 2nd, 1942.

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Aus einen an uns gerichteten Brief zitierten wir: "...Wenn man hört, die Deutschen haben doch nichts getan, sondern waren immer mit allem einverstanden, dann kann man nicht begreifen, womit die Konzentrationslager gefüllt worden sind. Hier in Birmingham sind die Leute oft sehr erstaunt, wenn ich ihnen von meinen Erfahrungen mit der Gestapo erzähle und wie sie meinen Mann halb tot geschlagen haben. 'Wir dachten nicht, dass sie es mit den eigenen Leuten auch so machten', sagen sie in Verwunderung ..."

Glücklicherweise hat der Krieg dazu beigetragen, die zivilisierte Welt gegen die furchtbaren Verbrechen der Nazis zu mobilisieren. Dieser Aufgabe dient ein soeben vom polnischen Informationsministerium herausgegebenes Buch mit dem Titel "The German New Order in Poland"[19], das in Wort und Bild eine furchtbare Anklage gegen Massenausweisungen und Massenmord, gegen Raub und Plünderung, gegen Religionsverfolgung und Kulturzerstörung durch die Nazi-Verbrecher enthält. Wenn der Tag kommt, an dem über die Entsetzlichkeiten der Nazis Gerichtstag gehalten wird, wird auch dieses Buch als Anklagematerial dienen. Das Buch bildet eine grausige Erweiterung der von uns in Nr. 29 und 33 der SM bereits bezeichneten Schriften.

Ein neues Naziverbrechen in Holland wird durch zwei Zuschriften an die Wochenschrift "Aufbau" in New York enthüllt. In diesen Zuschriften heisst es u. a.: "... Da es sich hier um eines der wüstesten Verbrechen der Nazimörder handelt - das merkwürdigerweise die Weltöffentlichkeit bisher fast nicht erreicht hat - möchte ich ihnen die wahren Tatsachen zur Veröffentlichung unterbreiten. Es handelt sich um etwa 680 junge Juden zwischen 18 und 35 Jahren, etwa zur Hälfte holländischer Nationalität und der Rest deutsche Emigranten in Holland...

Die eine Hälfte wurde in Form einer richtigen Menschenjagd auf den Amsterdamer Strassen aufgelesen - als Vergeltungsmassregel für die spontane Demonstration eines Generalstreiks, den die Bevölkerung als Antwort auf die ersten deutschen Pogromversuche im alten Judenviertel in Szene setzte... Diese jungen Leute wurden sehr sorgfältig auf körperliche Einwandfreiheit [!] untersucht und eine gewissen Anzahl mit körperlichen Mängeln wieder heimgesandt; wie man im Anfang annahm, um für den Arbeits-

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dienst brauchbares Material zu haben; wie sich jetzt herausstellt, weil man offenbar für Labor[...]versuche nur tadelloses 'Material' gebrauchen kann..."

"...schon etwa 10 Tage nach Ankunft in Mauthausen kamen die Todesnachrichten zu Dutzenden ein. Sie wurden in der rüdesten Form von der Gestapo den unglücklichen Eltern übermittelt..." Ein hoher ausländischer Würdenträger hatte sich in Berlin an hohen Stellen persönlich bemüht, bis ihm schliesslich ein hochgestellter Nazi offen sagte:

'Mauthausen, da kommt keiner lebend heraus, und wenn der Krieg morgen zu Ende geht, werden die letzten heute noch umgelegt. Die gehen an Giftgas zu Grunde.' -

In der zweiten Zuschrift heisst es: '...ist es Ihnen nicht aufgefallen, dass unter 680 jungen unverbrauchten kräftigen Menschen 400 ihr Leben gelassen haben sollen an Ueberarbeitung oder Unterernährung? Ich persönlich habe leider Anhaltspunkte dafür, dass mit diesen armen Jungen Giftgasexperimente unternommen worden sind, die sie in Scharen getötet haben... ' "

machte auf Anfragen im Unterhaus am 29. Januar Innenminister Morrison folgende Angaben: In Kanada sind noch 1.200 Deutsche und Oesterreicher interniert. 300 von Ihnen haben bereits die Erlaubnis zur Freilassung vom Home Office erhalten und werden, wenn und sobald die Möglichkeit zum Rücktransport besteht, nach England gebracht werden. Erst nach ihrer Rückkehr ist ihre tatsächliche Freilassung möglich.

Die noch in Australien Internierten werden jetzt von der australischen Regierung aus den Lagern entlassen. Die meisten von ihnen sollen in Arbeitskompanien zur Unterstützung der australischen Landesverteidigung eingereiht werden. Internierte mit besonderer technischer und wissenschaftlicher Schulung sollen in kriegswichtigen Industrien beschäftigt werden. Alte und Kranke sollen auf freien Fuss gesetzt werden. Internierte, die noch nicht 18 Jahre alt sind, sollen die Möglichkeit zum Besuch von Schulen oder Universitäten in Australien erhalten. -

Vor einiger Zeit sind noch zwei Schiffe aus Australien nach England abgegangen, die Internierte an Bord haben.

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Zu einem internationalen Empfang der Labour Party
für Sozialisten der verschiedenen Nationen war auch eine Anzahl deutscher Genossen geladen. Arthur Greenwood, stellv[ertretender] Führer der parlamentarischen Labour Party und Minister für Wiederaufbau im brit[ischen] Kabinett, hielt eine Ansprache, in der er auf die grossen Aufgaben des internationalen Sozialismus nach dem Kriege und auf die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus hinwies. Ein musikalisches Programm mit Volkstänzen, das, von Camille Huysmans zusammengestellt, Mitwirkende verschiedener Nationen vereinte, leitete zu einem zwanglosen Beisammensein der zahlreich erschienenen Gäste über, bei dem Erfrischungen serviert wurden.

Die Einrichtung eines Internationalen Bureaus der Fabian Society,
an dessen Aktivität ausländische Sozialisten teilnehmen, die sich in England befinden, wurde in einer Versammlung öffentlich bekanntgegeben, die am 24. Januar in Anwesenheit zahlreicher ausländischer, darunter auch deutscher, Sozialisten unter dem Vorsitz des Gen[eral]sekret[ärs] der Fabian Society, des Labour-Abg[eordneten] John Parker[20] stattfand. Philip Noel-Baker, M.P., der Vorsitzende des International Bureau, hielt eine Ansprache über sozialistische Planung, in der er auf die grosse Aufgabe der internationalen Sozialisten bei der Neugestaltung nach dem Kriege aufmerksam machte. Louis de Brouckère (Belgien) sprach über die Notwendigkeit von Sozialismus und Demokratie bei erfolgreicher internationaler Planung. - Im Anschluss an die Vorträge vor Gelegenheit zu gegenseitigem Kennenlernen und Meinungsaustausch für die zahlreich erschienenen Sozialisten verschiedener Nationalität gegeben.

Ein Zusammensein internationaler Gewerkschaftler
mit den Delegierten der Sowjetgewerkschaften, die sich zurzeit in England befinden, wurde am 28. Januar von Sir Walter Citrine, dem Generalsekretär des britischen TUC, arrangiert, wobei Citrine, der Vorsitzende des TUC Frank Wolstencraft und der russische Delegationsführer Schwernik[21] Ansprachen hielten. Anwesend waren die Leitungen bezw. Arbeitsausschüsse der deutschen, oesterreichischen, belgischen, holländischen, französischen, norwegischen, polnischen, tschechoslowakischen und spanischen Gewerkschaften.

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Eine Galavorstellung des Czechoslovak-British Friendship Club[22]
vereinigte am 26. Januar im Arts Theatre ein internationales Publikum bei ausgezeichneten künstlerischen Darbietungen englischer, tschechoslowakischer und deutscher Dichtung und Musik. Die Veranstaltung war ein Zeichen grosser Toleranz, von alten bekannten Freunden des Neuen Deutschen Theaters in Prag[23] hörten [die Besucher] Szenen aus "Don Carlos" und von ehemaligen Mitgliedern des tschechischen "National-Theaters" in Prag Szenen aus den Hussiten von [Antonin] Dvorak. Shakespeare und englische Musik vollendeten das leider etwas lange Programm. Der tschechoslowakische Staatsminister Ripka hielt eine einleitende Ansprache.

Ein deutsches Theater in London[24],
dessen Leitung dem ehemaligen Frankfurter und Wiener Bühnenleiters Hellmer anvertraut wurde, wird in diesem Monat seine Tore Stern Hall 33, Seymour Place, London, W2, (Untergrund Station Marble Arch) öffnen. Es ist möglich, dass in bestimmten Zeitabständen für Minderbemittelte verbilligte Vorstellungen gegeben werden.

Aus der Arbeit des Jahres 1941
lautet ein vervielfältigt vorliegender Bericht der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Grossbritannien, in dem die Errichtung und Bedeutung der Landesgruppe und die Beziehungen zum britischen Trade Union Congress und zum Internationalen Gewerkschaftsbund behandelt werden. Die praktische Arbeit wie Umschulung, Arbeitsbeschaffung, Mitgliederwerbung und Herausgabe der Gewerkschaftszeitung werden ausführlich behandelt und im Anhang statistische Angaben über Mitgliederbewegung, Berufsverteilung, frühere Organisations-Zugehörigkeit usw. gemacht. -





[Veranstaltungshinweis]

Einladung

Bunter Abend der Sander- und Wollenberg-Gruppe im Czech Refugee Trust Fund

Sonnabend, den 21. Februar 1942, nachm[ittags] 4 Uhr
in den versch[iedenen] Räumen Westbourne Terrace 128.

Musikalische Unterhaltung, Tanz, geselliges Beisammensein. Interessenten für Schach, Tischtennis und Skat haben für die Spiele je einen Raum zur Verfügung. Kantine geöffnet!




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Im Januar 1942 waren amerikanische Truppen in Nordirland gegen den Protest der neutralen Republik Irland gelandet.

2 - = Robert Groetzsch. Siehe SM 75/76, Juni/Juli 1945, Anm. 26

3 - Charles Lindbergh (1902 - 1974), führte 1927 den ersten Alleinflug von New York über den Atlantik nach Paris durch; hatte sich 1941 gegen den Kriegseintritt der USA ausgesprochen und war als Colonel aus der Armee ausgeschieden.

4 - = Kriegsanleihen.

5 - Hafeninsel vor New York, seit 1892 Einwanderungsstation für die USA.
Die Serpa Pinto, ein 1914 gebautes Passagierschiff, fuhr seit 1940 unter portugiesischer Flagge und war für 606 Passagiere eingerichtet.

6 - Theodor Leipart (1867 - 1947), 1920-1933 Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes.

7 - "Gewerkschafts-Zeitung. Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes", erschien 1924-1933 in Berlin als Nachfolgeorgan des "Correspondenzblatts der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" (1891-1919) und des "Korrespondenzblatts" des ADGB (1920-1923).

8 - Im Oktober/November 1923 marschierte Reichswehr entsprechend einer Verordnung des Reichspräsidenten in Sachsen und Thüringen ein; die beiden linken Länderregierungen mussten zurücktreten und wurden durch Reichskommissare ersetzt.

9 - Gerhart Lütkens (1893 - 1955), seit 1919 SPD-Mitglied, 1920-1937 Berufsdiplomat, ab 1937 Exil in Großbritannien, 1943 ausgebürgert. 1947 Rückkehr nach Deutschland, 1949-1955 SPD-MdB.

10 - Hermann Ehrhardt (1881 - 1971), Korvettenkapitän des I. Weltkriegs, bildete 1919 das Freikorps 'Brigade Ehrhardt', das sich bei Kämpfen gegen die kommunistischen Rätebewegungen hervortat, 1920 Beteiligung am Kapp-Putsch.

11 - Gustav Bauer (1870 - 1944), sozialdemokratischer Reichskanzler 1920/21, 1921-1922 mehrfach Minister, MdR (mit Unterbrechungen) 1912-1925.

12 - Wolfgang Kapp (1858 - 1922), Alldeutscher und Mitbegründer der Deutschen Vaterlandspartei, seit 1906 Generallandschaftsdirektor in Ostpreußen, putschte 1920 gegen die republikanische Reichsregierung, floh nach Schweden.

13 - Walther Frhr. von Lüttwitz (1859 - 1942), Kommandierender General im I. Weltkrieg, Reichswehrkommandeur, löste gemeinsam mit Kapp den Staatsstreich aus.

14 - Die Deutsche Demokratische Partei (= Demokraten) entstand im November 1918 als bürgerlich-liberale Partei. 1930 nach Zusammenschluss mit einer anderen Organisation in Deutsche Staatspartei umbenannt.

15 - Heinrich Hirtsiefer (1876 - 1941), 1921-1932 preußischer Wohlfahrtsminister.

16 - Gerd von Rundstedt (1875 - 1953), in der Weimarer Republik Divisionskommandeur der Reichswehr, 1940 zum Generalfeldmarschall befördert.

17 - Horst Wessel (1907 - 1930), Nationalsozialist und SA-Sturmführer, verfasste das sogenannte Horst-Wessel-Lied, erlag den Folgen eines Überfalls, von der NS-Propaganda zum "Märtyrer der Bewegung" hochstilisiert.

18 - Kommunistisch ideologischer Kampfbegriff zur Bezeichnung der Sozialdemokraten, 1924 von Sinowjew geprägt, von Stalin später zum Dogma erhoben.

19 - The Polish Ministry of Information: The German New Order in Poland, Paulton und London o. J.

20 - John Parker (geb. 1906), Labour-MP von 1935 bis in die 80er Jahre (ab 1979 dienstältester Parlamentarier im House of Commons), u.a. Generalsekretär der Fabian Society 1939-1945.

21 - "Schwernik": Nikolai Shvernik (1888 - 1970), seit 1905 Kommunist, 1946-1953 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets, 1953-1956 Präsident des Allunionsrates der Gewerkschaften.

22 - Der Klub war im November 1941 gegründet worden.

23 - Das Neue Deutsche Theater in Prag bestand seit Januar 1888.

24 - Im Grunde handelte es sich nicht um ein deutsches, sondern ein deutschsprachiges Theater. Vgl. "Die Zeitung" vom 30. Januar 1942, S. 9.



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