Nr. 31 - 1941

1. November

Sozialistische Mitteilungen

News for German Socialists in England

This newsletter is published for the information of Social Democratic
refugees from Germany who are opposing dictatorship of any kind.

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An Hitlers Ostfront hat der Winter begonnen. "Ueber Russlands Leichen-Wüstenei", wo Millionen Soldaten der Hitlerschen Armeen ihren Tod gefunden haben, werden alle Schrecken des russischen Winters regieren; und die wütenden Angriffe der Belagerer auf Moskau zeigen, wie sehr ihnen daran liegt, wenigstens dieses Ziel vor der Winter-Pause noch zu sichern. Hitlers ursprüngliche Hoffnungen, vor Einbruch der Kälte Leningrad, Moskau und Kiew besetzt und die Rote Armee zersprengt zu haben, sind nicht in Erfüllung gegangen. Nur Kiew fiel rechtzeitig, während der Kampf um Leningrad und Moskau zur langwierigen Belagerung geworden ist. Selbst wenn diese beiden Ziele noch im letzten Augenblick erreicht werden sollten, würden sie unter ungeheuren Opfern erreicht sein und nicht die Vernichtung der Roten Armee gebracht haben.

Es kann kein Zweifel darüber sein, dass der russische Feldzug Hitlers Armeen in eine kritische Situation geführt und Opfer gekostet hat, die kaum zu ersetzen sein werden, auch wenn es Hitler in Zukunft gelingen sollte, neue Menschen-Anleihen bei seinen Verbündeten und Vasallen zu machen. Aber es darf auch keine Illusion darüber aufkommen, dass der Feldzug die Sowjetunion in eine überaus schwierige Situation gebracht hat. Mit dem Verlust der gesamten Ukraine ist ihr wichtigstes Industrie- und Landwirtschaftsgebiet in Feindes Hand geraten. Das reiche Kohlengebiet am Donez scheint verloren; die Oelquellen des Kaukasus drohen abgeschnitten zu werden, wenn der Vorstoss der Angreifer bei Rostow nicht aufzuhalten ist.

Immer klarer zeigt sich, dass der Durchbruch am Dnjepr und der Vormarsch an der Küste des Schwarzen Meeres, den

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auch der Winter nicht hemmen kann, der wirkliche strategische Erfolg des Feldzugs war. Sein bisheriges Gelingen dürfte den Angreifern die Hoffnung lassen, bis zum nächsten Frühjahr, auch wenn die Front im mittleren und nördlichen Kampf-Abschnitt einfriert, die Sowjetunion in eine Lage zu bringen, die ihr einen erneuten Widerstand gegen eine grosse Offensive aus Mangel an Material nicht mehr möglich macht.

Es wird von den Hilfs-Möglichkeiten aus [den] USA und dem britischen Reiche abhängen, ob sich diese Hoffnung Hitlers erfüllen wird. Es wird auch von Japans Haltung abhängen, die noch immer nicht völlig klar ist. Wartet man in Tokio auf den Zeitpunkt, in dem man risikolos eine geschwächte Sowjetunion von Osten her anfallen könnte? Oder begnügt man sich mit Manövern, die zur Verhinderung amerikanischer Hilfe für Russland und zum Aufschub amerikanischer Entscheidungen führen sollen? Beides wäre Dienst für Hitler, während Japans eigene Habgier auf andere Ziele gerichtet sein dürfte: auf Burma und Indien, auf die "Erledigung" Chinas und auf die holländ[ischen] Besitzungen in der Südsee.

Die britische Strategie im Orient trifft alle Vorbereitungen, um einen Angriff der Achsenmächte auf Indien von Westen und Osten her zu vereiteln. Gegen Westen ist eine britische Front von Tobruk und Sollum bis zum Kaukasus etabliert, und das Mittelmeer ist zum Schauplatz britischer Flottenaktivität geworden, die Italiens Schwäche immer deutlicher enthüllen wird. Iran und Afghanistan sind von feindlichen Agenten gesäubert worden. Und in Indien selbst organisiert General Wavell eine Armee, die an Bedeutung nur der nachsteht, welche England selbst verteidigt. Die Position der britischen Armeen in Nordafrika und in Asien kann im weiteren Verlauf des Krieges entscheidendere Taten ermöglichen als Abenteuer im Westen, die von manchen in letzter Zeit gewünscht wurden.

Während Hitlers Armeen in den Ebenen Russlands ihrer schwersten Prüfung entgegengehen, mehren sich die Zeichen der Spannung und des Widerstandes in den besetzten Ländern Europas. Ueberfälle auf Mitglieder der Besatzungsarmeen, Sabotage in den Kriegsfabriken, Brandstiftungen und Demonstrationen sind Signale des Kampfes und Hoffens der Geknechteten. Hitlers Antwort ist der Terror. Die fürchterliche Methode der Konzentrationslager und der Geisel-Bestrafung, der Massenverhaftungen

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und der Abschreckungs-Hinrichtungen, mit der die SA und die Gestapo die politische und religiöse Opposition und die Juden in Deutschland seit acht Jahren verfolgen, werden, ins Grauenhafte gesteigert, von dem Gestaposchlächter Heydrich[1] in der Tschechoslowakei und von dem General Stülpnagel [2] in Frankreich an wehrlosen Menschen der besetzten Länder praktiziert.

Dass Pétain und Darlan diese Methoden zu billigen und nachahmen zu wollen scheinen, dass Mussolinis Bestien in Serbien und Griechenland sie zu überbieten trachten, macht das Bild nur noch düsterer.

Es gehört, wie Churchill sagte, fortan zu den Hauptzielen dieses Krieges, an den Barbaren, die diese Verbrechen anbefehlen, Vergeltung zu üben, - ein Gelöbnis, das Roosevelts Verdammung dieser Schandtaten kraftvoll ergänzte und das von niemandem mehr verstanden und begrüsst werden kann als von den deutschen Gegnern und Opfern der Hitler-Barbarei.

Es ist ungewiss, ob sich die Gerüchte bewahrheiten werden, die von einem Friedensangebot Hitlers in nächster Zeit reden. Wie immer der Kampf in Russland sich entwickeln mag, die Demokratien können und werden keinen Frieden mit Hitler schliessen.

Sie kämpfen für die Vernichtung seiner Tyrannei, für die Vergeltung seiner Verbrechen und die Errichtung einer freien und gerechten Welt-Ordnung. Sie wissen, dass ein Friede mit Hitler kein wahrer Friede sein kann.

Die Rede, die Roosevelt zum amerikanischen Flottentag gehalten hat[3], hat der Welt erneut und entschiedener als je zuvor die Haltung der USA-Regierung klargemacht: Hitler muss aufgehalten werden, um jeden Preis, - und die amerikanische Flotte wird sich zur Wehr setzen und hat bereits begonnen, sich gegen den Versuch zu wehren, die amerikanischen Lieferungen für den Kampf gegen Hitler zu behindern.

Kein von den Tatsachen überholtes Neutralitätsgesetz kann noch länger darüber täuschen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich zum Kampfe gegen Hitler bereit machen, und die Reaktion der Hitler-Presse auf Roosevelts Rede hat gezeigt, dass man es auch in Deutschland zur Kenntnis genommen hat.

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haben die englische Arbeiter-Partei, die Gewerkschaften und die Genossenschaften, vereinigt im "National Council of Labour" erlassen, die zur Anschaffung von Hilfsmaterial für die Sowjetunion im Kampfe gegen Nazi-Deutschland dienen soll und in dem es u.a. heisst:

"Die Leiden, die das britische Volk erduldet hat, haben es in die Lage versetzt, die Kriegsopfer der russischen Männer, Frauen und Kinder wirklich zu würdigen, und der National Council of Labour ist von der Sympathie überzeugt, die dem russischen Volke von unseren Küsten entgegenströmt."

Spenden für diese Sammlung, an der sich selbstverständlich auch unsere Genossen und Freunde beteiligen, sind zu richten an: Sir Walter Citrine, Transport House, London, S.W.1

der greise Führer der polnischen Sozialdemokraten, der zuletzt in der polnischen Regierung in London Justizminister war, ist am 21. Oktober gestorben und am 24. auf dem Friedhof von Highgate, wo Karl Marx begraben liegt, beerdigt worden. In einer wahrhaft internationalen Trauerfeier, die auch von zahlreichen deutschen Sozialdemokraten besucht war, sprachen ausser dem polnischen Premierminister General Sikorski[5]auch die Genossen Huysmans (SAI), Dallas[6] (Labour Party), Bechyne[7] (CSR) und Mastek[8] (PPS).

Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hans Vogel, hatte an die polnischen Genossen einen Beileidsbrief gesandt, in dem es heisst: "... Mit seinen Angehörigen, den Genossen der PPS und seinem Volke trauern auch wir deutschen Sozialdemokraten um diesen vortrefflichen Menschen und wahrhaften Patrioten, der in seinem ganzen Wesen und Wirken ein grosser Europäer und die Weltbürger war und sich jederzeit als ein tief überzeugter Sozialist erwiesen hat. So ist er auch uns deutschen Sozialdemokraten, wie ich aus Pariser Gesprächen mit ihm weiss, trotz alles Schweren und Unfassbaren, das heute seinem Volke und der gesamten Menschheit durch die heutigen Machthaber Deutschlands widerfährt, ein verständnisvoller Freund geblieben. Sein Name und sein Wirken ... werden auch von uns in dauerndem Gedenken bewahrt bleiben ..."

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Genosse Josef Belina richtete den folgenden Brief an den tschechoslowakischen Präsidenten Dr. Edvard Benes: "Herr Präsident, die reichsdeutschen Sozialdemokraten veranstalteten am 1. Oktober eine Versammlung mit einem Vortrag des früheren Chefredakteurs der Tageszeitung 'Vorwärts', der gerade in diesen Tagen aus den USA ankam.

In der Einleitungs-Ansprache des Vorsitzenden erinnerte Herr W. Sander an die schrecklichen Opfer des tschechischen Volkes. Die Versammlung erhob sich zum Zeichen der Trauer. Mit scharfen Worten wurde der Terror verurteilt, der von den nazistischen Angreifern gegen wehrlose Menschen in den besetzten Ländern begangen wird.

Kollege Sander bat mich als Teilnehmer der Versammlung, Ihnen einen Bericht über diesen Trauer-Akt zu übermitteln, und er bittet Sie, Herr Präsident, im Namen der reichsdeutschen Flüchtlinge in diesem Lande, den Ausdruck tiefsten Beileides entgegenzunehmen ..."[9]

veranstaltete die Jean Jaurès-Gruppe der französischen Sozialisten am 11. Oktober im Friends House in London. In den Gedenkreden der Genossen Louis Lévy, Georges Gombault[10], Huysmans, Green, Hauck, de Brouckère, erstand Zug um Zug das Bild des Ermordeten. Briefe von der sozialistischen Emigration aus ganz Europa wurden verlesen. Jeder Redner, jeder Briefschreiber fügte dem Bild aus persönlicher Erinnerung ein neues Licht, eine neue Farbe hinzu, und was da emporstieg, war der Schatten eines kämpfenden Menschen, der vielleicht zum künftigen Führer einer neu sich formierenden Bewegung berufen gewesen wäre. Die Scharen der Gegner zu enthaupten, ist von je eines der hauptsächlichsten Kampfmittel des modernen Barbarismus gewesen.

Und so gesellten sich denn auch zu dem Schatten Marx Dormoys die Schatten anderer ermordeter sozialistischer Führer fast aller europäischer Nationalitäten.

Louis Lévy sprach vom Tode Rudolf Hilferdings. Franzosen haben ihn an seine Henker ausgeliefert, so etwa sagte er, Franzosen werden ihn rächen: "Ueberlasst das uns, Genossen. Wir stehen dafür ein, dass die Tat an Rudolf Hilferding gesühnt wird!"

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Zur Information unserer in bezahlter Arbeit stehenden Freunde teilen wir das Wichtigste über die am 1. November in Kraft tretenden neuen Steuern mit:

Nach den angeführten Abzügen sind von verbleibenden £ 165 Einkommen 33,3% Steuern zu zahlen.

Zur Erklärung folgende Beispiele:

A. Bei einem ledigen Mann mit £ 240 Jahresverdienst sind £ 80 (nach Punkt 4) und £ 24 (nach Punkt 5) abzuziehen. Zu versteuern bleiben £ 136, d.h. die Steuer (33,3%) beträgt £ 45.6.8.

B. Bei einem verheirateten Manne mit £ 430 Jahresverdienst sind £ 140 (nach Punkt 4) und £ 43 (nach Punkt 5) abzuziehen. Zu versteuern bleiben £ 247. Von den ersten £ 165 wird eine Steuer von 33,3 % erhoben, also £ 55 im Jahre, von den restlichen £ 82 wird eine 50%ige Steuer erhoben, also £ 41. Die Steuer beträgt also £ 96 im Jahr.

C. Bei einem Ehepaar mit zwei Kindern, falls Vater und Mutter Einkommen haben, zusammen £ 500, werden £ 285 (nach Punkt 4) und £ 50 (nach Punkt 5) abgezogen. Von den restlichen £ 165 wird eine Steuer von 33,3% erhoben, die £ 55 im Jahr beträgt.

Zum Schluss sei bemerkt, dass der grösste Teil der jetzt erhobenen Steuern dem Besteuerten gutgeschrieben wird und als Kredit zu betrachten ist, der nach Kriegsende zurückerstattet wird.

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For exactly one hundred months to October 1941 the Social Democratic Party of Germany had been suppressed by Hitler. We have passed through a hundred months of underground activities. It is not yet time to write the story of these activities, but we may look back on the events preceding the suppression of our party.

On January 30th, 1933, Hitler was appointed Chancellor of the Reich. The torch parade of the Nazis through the streets of Berlin to the Chancellery started the brutal persecution of the politically organised workers.

The cellars of the stormtroops, the concentration camps, and murders were the symbols of the "Third Empire".

When Göring ordered the burning of the Reichstag on February 27th, the Social Democratic press was forbidden on the false pretext that Social Democrats and Communists had been the culprits.

Terror was raging, but that could not prevent the fact that seven million Social Democratic votes were counted at the Reichstag election of March, 5th. Naturally, the pressure was increased. People's houses were stormed. Legal activities of Social Democrats became impossible.

Hitler called the Reichstag for March, 23rd.

The deputies were blackmailed. They had to pass lines of stormtroopers on their way to the meeting-hall.

All the deputies were intimidated or preferred to submit to "Gleichschaltung", with the exception of the Social Democrats! Otto Wels, on behalf of the Social Democratic faction, made a declaration, which will be remembered in history as a document of personal courage and political firmness.

During April, it became clear that the Nazi policy aimed at the complete destruction of the free workers' movement. On April 26th, the very last Party conference which could be held, was held, and a new Executive was elected and preparations were made for underground and secret political work.

Some days later, the Nazis started their blows against us: the trade unions were taken away on May 2nd, the property of the Party and its printing-houses were seized on May 10th, and a new increased wave of terror began.

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The Executive of the Party decided to transfer its headquarters and activities abroad. Some of its members, through this decision, left Germany.

The first meeting of the Reichstag with Hitler as Chancellor, had foiled the Nazi plans to demonstrate the unity of the German nation under him. A new meeting of the Reichstag was called for May, 17th. This time, it reached its aim.

50 out of the 120 Social Democratic deputies had fled abroad, or were put in concentration camps or murdered. Out of the remaining 70, 51 voted for the declaration on foreign policy read by Hitler, which was a mixture of lying peace assurances.

The Executive of the Party did all that it could to prevent this deplorable decision. Two of its members, Hans Vogel and Friedrich Stampfer, returned illegally to Germany, and appeared in spite of a warrant against them and the consequent danger of arrest, at the meeting of the rest of the Social Democratic Reichstag faction. All was in vain. The Nazis threatened openly with murder. The intention of Social Democratic deputies of voting against Hitler or even to make a declaration, was met by the Nazi Minister of the Interior, Frick[11], with the clear out statement that in such a case "the life of the nation would be regarded to be superior to the life of the individuals ..."

There was a last attempt to continue the legal activities of the Party. A number of well-known Social Democrats, some of whom have been murdered or exiled since, set up a Directorate, acting as Executive of the Party, in Berlin, on June, 18th. The Nazis did not know that one member of the exiled Executive of the Party sat in the Directorate, on behalf of the Executive. It was too late. A few days later, on June, 21st, the Social Democratic Party of Germany was forbidden. The time of underground work began.




Last month, we issued a special edition in English of the SM, containing a report on the condition of the refugee in France and the activities of the German Section of the Int[ernational] Solidarity Fund. Anyone wanting a copy of the above mentioned, should write to:
Room 62, Bloomsbury House, Bloomsbury Street, London, WC1.

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ging uns aus einem neutralen Lande ein Bericht zu, der auf Angaben basiert, die ein jüdischer Auswanderer aus Dresden machte, der bis vor kurzem noch in München lebte und dort [in einem] Betrieb arbeitete.

Dieser Berichterstatter hatte bis Kriegsausbruch in Dresden in einem Betrieb gearbeitet und wurde nach Ausbruch des Krieges aus diesem, nun auf Kriegsarbeit umgestellten, Betrieb entfernt und zwangsweise in einen Steinbruch bei Dresden verschickt. Hier arbeitete er nun mit anderen Juden und französischen Kriegsgefangenen zusammen. Wegen Erkrankung wurde der Berichterstatter entlassen und von einem jüdischen Hilfsverein als Mechanikerlehrling untergebracht.

Ueber die Löhne in Deutschland berichtet er: Der Durchschnittsverdienst eines gelernten Arbeiters in der Metallindustrie in München ist 80 - 100 Mk die Woche. Ueberstunden und Sonntagsarbeit ist bei diesem Durchschnittsverdienst nicht berücksichtigt. Die durchschnittlichen Abzüge von diesen Löhnen belaufen sich (bei Ariern) auf etwa 25%. Unser jüdischer Gewährsmann selbst verdiente als Mechanikerlehrling (22 Jahre alt) 200 Mk in Monat. Durch Abzüge wurde dies Einkommen erst auf 148 Mk und später auf 122 Mk gesenkt. Die offizielle Regelung ist, dass kein Jude mehr verdienen dürfe als ein Autobahn-Arbeiter.

Die Juden müssen eine "Sozialausgleichsabgabe" von 15% des Lohnes abführen. Sie geht an einen besonderen Fonds, der für die Sozialversicherung und Wohlfahrt jüdischer und ausländischer Arbeiter errichtet wurde, da diese "nichtdeutschen" Arbeiter (auch Italiener) der staatlichen Versicherung oder Wohlfahrt nicht zur Last fallen dürfen. Auf die Frage, ob man unter den gegenwärtigen Verhältnissen in München mit 122 RM im Monat leben könne, erwiderte der Gewährsmann, es sei ein Minimum.

Zur Ernährungslage in Deutschland bemerkte er, es sei ein geflügeltes Wort, dass man "nicht mit Hunger, sondern nur mit Appetit" essen dürfe. Das Brot sei schlecht, statt Kaffee gebe es Malzkaffee, Schokolade sei nicht erhältlich, Butter sei knapp. In München bestehe aber die Möglichkeit, übers Wochenende aufs Land zu fahren und dort Einkäufe zu machen. (In der Zwischenzeit scheint nach neueren Meldungen ein striktes Verbot diesen Einkäufen ein Ende gemacht

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zu haben.) In Dresden und anderen grossen Städten sei [es] in dieser Beziehung viel schlechter.

Was Genussmittel anbetrifft, so sei das Bier immer schlechter geworden und nicht immer in den verlangten Mengen vorrätig, und an Tabak und Zigaretten herrsche grosser Mangel. Vor den Zigarettenläden stehe man Schlange, und der Vorrat sei so gering, dass eine Rationierung nicht in Frage käme. Wegen Bier- und Zigarettenmangels sei es in den Bayerischen Motoren Werken schon zu einem Streik gekommen.

Ueber die Bekleidung wurde berichtet, dass es für Schuhe Gummisohlen, aber keine Ledersohlen gebe. Juden erhalten überhaupt keine Kleidermarken und müssten sie sich von arischen Bekannten besorgen. Teure Schuhe (von 40 Mk an) sind nicht rationiert, aber selbst diese teuren Schuhe sind schon knapp geworden. Auffallend sei, dass man trotz der Kleiderknappheit wenige zerlumpte Leute sehe.

In besonderen Fällen verschaffen die Nazi-Organisationen Kleider für arme Familien, die keine Vorräte von früher haben, und die Juden haben meist vor dem Kriege noch schnell alles Nötige eingekauft.

Kohlen seien im letzten Winter in München nicht knapp gewesen, während in Berlin Mangel herrschte. Seife ist von schlechter Qualität, weshalb Wäschewaschen sehr teuer sei.

Ueber die allgemeine Stimmung in Deutschland berichtete unser Gewährsmann, dass von Antisemitismus in München nicht viel zu bemerken sei und dass Nürnberg, seit Streicher[12]von dort verschwunden ist, als der für Juden beste Wohnbezirk gelte.

In München könne man nicht von einer Anti-Nazi-Stimmung sprechen, aber auffällig sei der starke bayrische Partikularismus. "Heil Hitler" gelte als "preussisch" und werde oft mit "Saupreuss" beantwortet.

In München wie anderswo sehne man sich nach Frieden, sieht aber keinen anderen Ausweg, als den Krieg durchzuhalten. Man fürchte ein neues, verschärftes Versailles, man glaube daran, dass die Engländer am Kriege Schuld seien, man sei nicht vom Kriege begeistert, aber man mache mit. (Die Goebbelspropaganda war also erfolgreich, der Naziüberfall auf die CSR und Polen vergessen!)

Der deutsch-russische Pakt sei von der deutschen Bevölkerung nie ernst genommen worden, sodass man über den Krieg gegen Russland nicht sehr überrascht gewesen sei.

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Man glaube daran, dass der Feldzug gegen Russland mit einem Sieg der deutschen Armeen enden werde, aber nicht mit einem Blitz-Siege, da die russische Armee über sehr grosse Massen verfüge. Die deutsche Armee habe zum ersten Male eine Massenarmee zu vernichten, was ja bei Frankreich nicht der Fall gewesen sei.

Die Hess-Affäre habe zwar Aufsehen erregt, sei aber bald vergessen worden. Man habe sie für eine innere Angelegenheit der Nazi-Kreise gehalten und gemeint, dass Hess und einige höhere Offiziere vor dem Kriege gegen Russland Frieden mit England wollten. Gerüchte seien in Umlauf, die besagen, dass Herr Messerschmitt[13] und einige hohe Offiziere wegen der Hess-Affäre verhaftet wurden.

Ueber das deutsche Militär sagt der Bericht, dass gleich bei Kriegsbeginn alle Altersklassen bis 45 Jahre einberufen wurden, also auch solche, die den vorherigen Krieg mitgemacht haben. Die Soldaten bekämen ausserordentlich viel Urlaub. Hitler soll angeblich erklärt haben: Die schlechten Erfahrungen im letzten Weltkrieg, wo sich Mann und Frau lange Zeit nicht sehen konnten, dürfen nicht wieder vorkommen, das schaffe Unzufriedenheit! Ob sich diese Urlaubsregelung auch während des russischen Feldzuges aufrechterhalten lasse, sei fraglich.

Ueber die Verlustziffern gebe es nur Gerüchte. So erzähle man, dass sie im polnischen Feldzug höher gewesen seien als im französischen.

Ueber die Bombenangriffe sagte er, dass sie in München wenig Schaden und in Dresden angeblich gar keinen angerichtet hätten. (Dieser Bericht ist vor den grossen Angriffen der RAF auf München im September erstattet worden!) Die Bevölkerung sei darüber verärgert, dass sie bei Fliegerangriffen bzw. Alarm auf jeden Fall in die Luftschutzkeller müsse, und die Stimmung sei nach einer im Unterstand verbrachten Nacht, in der keine Bomben fielen, viel verärgerter als im Falle ernstlicher Bombardierungen, sie fühle sich zum Narren gehalten!

Ueber die englische Propaganda nach Deutschland erklärte der Gewährsmann, die abgeworfenen Flugblätter hätten keine Wirkung gehabt. Der Londoner Rundfunk werde trotz aller Strafandrohungen viel gehört, vorwiegend aus Neugier. Man glaube dem, was da gesagt werde, aber wenig, weil man der Meinung sei, dass im Kriege alle die Unwahrheit sagten und dass man eigentlich niemandem glauben könne!

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Man habe in Deutschland nicht den Eindruck, dass im Londoner Rundfunk deutsche Nazi-Gegner sprechen.

Die Deutschen stöhnen unter Hitler, die Deutschen wollen Frieden, aber sie fürchten, dass ein Frieden durch die englischen Waffen ihnen keinen Frieden geben wird, sondern dass sie noch mehr als sie [sic!] unter Hitler Arbeitssklaven werden, um alle Reparationen zu bezahlen. Sie sehen keinen Ausweg, als das Uebel mit Hitler mitzumachen. Sie sind ratlos. Man sieht nach einem Zusammenbruch keine Besserung, sondern nur das Chaos. Jeder gegen jeden, alle gegen alle. Man kann sich nicht mehr ein besseres und ruhiges Leben vorstellen, obwohl man den Krieg satt hat und Frieden und Ruhe wünscht.

Die Behandlung der französischen Kriegsgefangenen scheint halbwegs normal zu sein. In Dresden beobachtete unser Gewährsmann vor seiner Abreise, wie zwei Gefangenen-Arbeitskolonnen von 8-10 Mann rauchend und laut erzählend in einem Park des Abends entlang kamen. Unser Mann und dessen Freund sprachen mit den Gefangenen. Der deutsche Wachsoldat kümmerte sich um nichts. Das Verhalten der Zivilbevölkerung zu den Gefangenen sei freundlich und oft helfend. Im Steinbruch bei Dresden konnte unser Freund oft mit den französischen Kriegsgefangenen sprechen. Durchweg sollen diese ihre Niederlage mit Verrat begründet haben. Es gab Gefangene, die in ihren Kasernen verhaftet wurden.

Am Ende seines Berichtes bestätigt unser Gewährsmann, dass in Deutschland ein sehr starker Mangel an gelernten Arbeitern bestehe. Alle Juden müssten Zwangsarbeit leisten, und Frauen würden immer mehr zur Kriegsarbeit herangezogen. Bei der Post, als Schaffner bei der elektrischen Strassenbahn, bei der Eisenbahn seien hauptsächlich Frauen eingestellt und beschäftigt.




[Veröffentlichungshinweis]

In dem jüngst in England erschienenen "Berlin Diary" des amerikanischen Journalisten Shirer[14], der bis vor kurzem als Radio-Berichterstatter in Berlin wirkte, wird die aus unseren Berichten hervorgehende Kriegsmüdigkeit im deutschen Volke bestätigt. Shirer verweist aber auch auf eine gewisse Neuartigkeit in der heutigen deutschen Armee, auf eingeführte "demokratischere" Formen, die insbesondere die strengen gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften zu verwischen suchen.

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Hitlers Armeen sind nach mehr als vier Monaten Krieg tief in die alten Industriegebiete der Sowjetunion eingebrochen. Die Industriegebiete Leningrad, Moskau und das Donezbecken sind zwar noch nicht vollständig besetzt, aber die industrielle Produktion der nicht besetzten Teile ist sehr wahrscheinlich bedeutend geringer als im Jahre 1940. Rein zahlenmässig waren nach den letzten vollständigen Berichten für das Jahr 1938 rund drei Viertel der gesamten Industrieproduktion in diesen drei Gebieten zentralisiert.

Der Ausbau der neuen Industriegebiete im Ural und in Sibirien, [der] nach aller Wahrscheinlichkeit im Verlaufe des dritten Fünfjahresplans [...] im Jahre 1942 beendet worden wäre, hätte den Anteil der Ostgebiete an der gesamten schwerindustriellen Produktion auf rund 50% erhöht.

Die Planziffern sahen z.B. vor, dass die Kohlenausbeute in den östlichen Gebieten im Jahre 1942 auf 113 Millionen Tonnen steigen sollten. Die Kohleproduktion der gesamten Sowjetunion betrug im Jahre 1938 nur 132 Millionen Tonnen. Alle anderen Industriezweige sollten in ähnlicher Weise ausgedehnt werden mit dem Ziel, eine Anzahl mehr oder minder selbstgenügsamer [autarker] Wirtschaftsgebiete aufzubauen.

Um die gegenwärtigen industriellen Möglichkeiten der Sowjetunion beurteilen zu können, ist es wichtig festzustellen, dass im Jahre 1942 die östlichen Industriegebiete Produktionszahlen erreichen sollten, die ungefähr der gesamten Produktion der drei alten Gebiete entsprechen würden.

Es muss angenommen werden, dass bereits vor dem Angriff Hitlers ein wesentlicher Teil der unmittelbaren Kriegsindustrie östlich der Wolga konzentriert worden ist.

Seit Beginn des Krieges ist nicht nur der Ausbau der Industrien in den östlichen Gebieten beschleunigt worden, es sind auch Teile der Industrieanlagen aus den alten Gebieten nach dem Osten verlegt worden. Zahlreiche Berichte sprechen von den endlosen Eisenbahnzügen, die Maschinen aus den westlichen Industriebezirken nach dem Osten transportierten. Es kann gleichzeitig angenommen werden, dass bereits rund zwei Millionen Industriearbeiter aus den Moskauer und ukrainischen Industriegebieten jenseits des Urals angekommen sind.

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Die Produktionskapazität des Uralgebietes und des Kusnezbeckens wird also in absehbarer Zeit sprunghaft steigen können. Ein besonders interessantes Beispiel ist die angestrebte Verlagerung der Erdölgewinnung.

Im Jahre 1938 wurden 90% der gesamten Erdölausbeute im Kaukasus gewonnen, in Baku allein 73,5% der Gesamtproduktion. Der dritte Fünfjahresplan sah die Entwicklung eines zweiten Baku in dem Wolga-Ural-Distrikt vor. Dort sollte die Produktion im Jahre 1942 rund 7 Millionen Tonnen oder nahezu 14% der bedeutend erhöhten Gesamtproduktion erreichen. Natürlich können diese generalisierenden Zahlen nichts aussagen über die Entwickelung bestimmter Spezialzweige der Industrie.

Moskau und Leningrad waren hoch entwickelte Zentren verarbeitender Industrie, z.B. Werkzeugmaschinen, Feinmechanik, Optik. Kiew hatte eine bedeutende chemische Industrie. Im Moskauer Gebiet waren bedeutende Teile der Flugzeugindustrie. Charkow und Rostow am Don sind Zentren der Traktorenindustrie.

Es zeigt sich, dass eines der wichtigsten Probleme der Kriegsindustrie in der Sowjetunion der beschleunigte Ausbau von Kapazitäten im Ural und in Sibirien ist. Gleich wichtig ist der Transport von Maschinen und ganzen Fabriken aus den bedrohten Gebieten.

Die bedeutendsten Industriestädte im Uralgebiet sind Magnitogorsk, Swerdlowsk, Ufa, Nischni-Tagal und Tscheljabinsk, die im Durchschnitt rund 1.500 km in der Luftlinie östlich von Moskau liegen. Die Entwickelung des Kusnezbeckens zeigt sich am besten im Anwachsen der Bevölkerung der drei wichtigsten Städte. Die Bevölkerung betrug,

 

1936

1939

Nowosibirsk

120.128

405.589

Kemerowo

21.726

132.978

Stalinsk

3.894

169.538

Die Vorkommen an Mineralien in den neuen Industriegebieten sind nahezu unerschöpflich.

Die Fernostgebiete der Sowjetunion sind ebenfalls in den vergangenen Jahren soweit industrialisiert worden, dass sie den Bedarf der Armeen, die dort stationiert sind, nahezu decken können. Die Schwerindustrie ist konzentriert in Chabarowsk und in Komsomolsk. Wegen der grossen Entfernungen von den Nahrungsmitteln und Erdölzentren hat sich deren Einfuhr über Wladiwostok [aus den] USA gelohnt.

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Der Verlust des europäischen Teiles der Sowjetunion westlich der Wolga einschliesslich des Nord-Kaukasus braucht also keineswegs das wirtschaftliche Ende der Sowjetunion zu bedeuten. Vorläufig sind die Armeen Hitlers aber noch weit von der Gefahrenlinie entfernt, die entlang der Wolga verläuft. Es ist aber kein Zweifel, dass im Augenblick die industrielle Produktion der Sowjetunion schwere Einbussen erlitten hat.

Der Einbruch in die alten Industriegebiete ist aber nicht gleichbedeutend mit einem unmittelbaren industriellen Gewinn für Hitler. Der grössere Teil der Fabriken und Kraftwerke ist zerstört worden. Die Arbeiter sind nach dem Osten abgewandert. Hitler dürfte kaum über genügend Arbeiter und Materialien verfügen, um die zerstörten Fabriken in kurzer Zeit wieder betriebsfähig zu machen.

Trotzdem können die gewaltigen Verluste der Russen an Kriegsmaterial nur mit fremder Hilfe wieder aufgefüllt werden. Gleichzeitig müssen eine Anzahl Rohstoffe und Maschinen für die Ausdehnung der Produktionskapazitäten von den USA und Grossbritannien geliefert werden.

Die grossen Möglichkeiten industrieller Kriegsproduktion in den neuen Gebieten der Sowjetunion dürfen aber nicht zu unbegründetem Optimismus verleiten. Die Kriegsproduktion Hitlers ist noch auf voller Höhe. Der Verlauf der bisherigen Kämpfe hat bewiesen, dass die deutsche Kriegsindustrie, unterstützt von den Industrien der besetzten Länder, fähig war, nie dagewesene Verluste an Kriegsmaterial wieder zu ersetzen.

wurde in New York gegründet, um die Arbeit fortzuführen, die früher von dem Amsterdamer und Pariser Instituten für Sozialgeschichte, der Genfer Bibliothek des Internat[ionalen] Arbeitsamtes usw. geleistet wurde. Die Leitung des New Yorker Archivs haben Algernon Lee, der Präsident der Rand School, und Boris Nicolajevsky[15], der frühere Direktor des Pariser Instituts für Sozialgeschichte, übernommen.

Das Institut bittet alle sozialistischen Organisationen, insbes[ondere] auch die Emigrantenorganisationen, ihm Publikationen, Zeitschriften, Broschüren, Flugblätter usw. zuzusenden und zwar an folgende Adresse: Institute of Labor History, 7 E, 15th Street, New York City, USA.

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deren Vertreter in Russland zusammentrafen[16], haben ein Programm von acht Punkten aufgestellt. Diese acht Punkte, die in einer gemeinsamen Erklärung niedergelegt wurden, lauten wie folgt:

Die britische Gewerkschaftsmission, die in Moskau die Verhandlungen mit den russischen Gewerkschaften führte, war von Sir Walter Citrine geleitet. Sie begab sich von Moskau nach Kuibishew und hat von dort die Rückreise nach England angetreten.

German und Austrian Dep[artment] im Bloomsbury House, der bisher vom TUC verwaltet wurde, wird in Zukunft der Verwaltung des Internationalen Gewerkschaftsbundes unterstehen.

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Nachstehend bringen wir Auszüge aus Briefen, die von deutschen Flüchtlingen geschrieben wurden, welche, zum Teil auf der Fahrt nach USA, von den französischen Behörden in Internierungslager in Nordafrika überführt wurden. Diese Briefe stellen eine Ergänzung zu dem in No.30 der SM veröffentlichten Bericht über die Lage der Flüchtlinge in Frankreich dar.

In einem Briefe aus dem Lager Oued-Zem in Marokko heisst es: "Wir sind hier 213 Personen, Männer und Frauen, junge und alte, die unter folgenden Verhältnissen interniert sind: Der Ort ist 178 Kilometer von der Küste entfernt, im Innern des Landes; die Temperatur steigt bis zu 122 Grad Fahrenheit an. Es herrscht eine grosse Wasserknappheit für Wäsche und hygienische Bedürfnisse, und wir müssen täglich Trinkwasser kaufen, was bald unser ganzes Geld verschlingen wird. Die sanitären Zustände sind mehr als unzulänglich; es herrscht Mangel an Seife und Medikamenten, was die Arbeit unserer Aerzte sehr erschwert und sogar wirkungslos macht. Wir sind in Holzhütten untergebracht, die mit Wellblech gedeckt sind, was es uns unmöglich macht, den ganzen Tag in ihnen zu bleiben. Wir kochen selbst, und das Essen ist deshalb so gut wie möglich, aber die Mengen sind unzureichend, sodass wir Zusätzliches kaufen müssen."

Ein Brief aus Casablanca berichtet über eine Schiffsreise von Flüchtlingen von Frankreich nach Marokko: "Unsere Reise in diesem Frachtschiff ist kein Vergnügen, es ist eine zweite Internierung. Das Essen ist ganz unzureichend. Mittags bekommen wir Linsen mit ein paar Fleischfasern und einem Apfel; morgens gibt es nur Kaffee, nicht einmal Brot, und abends eine Mehlspeise ... Wir fuhren bei strömendem Regen ab, es hat 24 Stunden ohne Aufhören geregnet, und es regnete in unseren Schlafraum. Wir sind von der Aussenwelt völlig abgeschnitten, und wir haben kein Radio ... 300 Leute sind an Bord ... Wir dürfen nicht an Land gehen, da das nur französischen Untertanen erlaubt ist." Nach der Landung in Casablanca lautet der Bericht: "Die sanitären Verhältnisse spotten jeder Beschreibung. Wir essen im Stehen in ein paar Minuten die kleine Portion, die uns erlaubt ist. Wenn man grosses Glück hat, bekommt man etwas warmes Wasser

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zum Waschen ... Unsere Kleider sind für die Hitze ungeeignet ... Auch hier dürfen wir nicht an Land gehen und etwas kaufen." Später heisst es: "Wir liegen noch immer hier im Hafen, und wir wissen nicht, wie lange noch ... Im Augenblick haben wir noch etwas Geld, und da wir sehr sparsam sind, hoffen wir, es wird bis Martinique reichen, falls diese schreckliche Wartezeit nicht viele Wochen dauert. Leider muss man sich Essen kaufen, und das ist nicht billig, da wir nicht an Land gehen dürfen und gezwungen sind, von Händlern zu kaufen ... Wenn es nicht lange dauert, ohne Bettwäsche, ohne Dusche und in unbeschreiblichem Schmutz - Gurs war im Vergleich dazu ein Sanatorium!"

Ein Bericht aus dem Lager Kasbah-Tatla in Französisch-Marokko enthält folgende Stellen: "Wir sind, 200 Kilometer von Casablanca entfernt, sehr gut untergebracht. Wenn wir nur die schrecklichen Umstände vergessen könnten, unter welchen wir hierherkamen, würden wir die Sache ganz erträglich finden. Der Tag der Ausschiffung ging uns sehr auf die Nerven. Denn wir rechneten jede Minute damit, die telegraphische Bestätigung unserer Weiterreise zu erhalten. Wenn sie gekommen wäre, hätten wir nicht ins Lager müssen ... Wir sind in Schlafräumen verschiedener Grösse untergebracht, in steinernen Häusern. Jeder muss sich seinen Schlafsack mit Gras selbst füllen, was viel Arbeit macht, da das Gras sehr festgewurzelt ist und in Büscheln wächst. Es gibt elektrisches Licht, fliessendes Wasser, Duschen, WCs, und die Stille ist himmlisch. Das Essen ist gut und reichlich. Es gibt eine Kantine. Nur ein Nachteil: Es ist schrecklich heiss. Es ist reinlich, aber es gibt Flöhe; doch daran sind wir von Süd-Frankreich gewöhnt. Jetzt merken wir erst, wie fürchterlich und schmutzig es auf dem Schiff war."




Eine "Special Edition" der SM in englischer Sprache wurde an einen besonderen Interessentenkreis verschickt. Diese Sondernummer enthielt in englischer Sprache den Bericht "Flüchtlinge in Frankreich" aus Nr.30 der SM und einen weiteren Bericht über die Tätigkeit der deutschen Abteilung des Int[ernational] Sol[idarity] Fund und die Bemühungen um die Internierten in England und den Dominions.

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Wir haben früher über die Reihe von Einzelvorträgen berichtet, die sich mit dem obigen Thema vor einem Kreis Londoner Parteigenossen beschäftigt haben.

Inzwischen ist die Arbeit in Form einer Arbeitsgemeinschaft zur Erarbeitung von konkreten Formulierungen fortgesetzt worden.

In bisher sieben Zusammenkünften wurde der erste Abschnitt eines umfangreichen Arbeitsprogramms behandelt. Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit den Problemen der Liquidierung der Hitlerdiktatur und mit den notwendigen Uebergangsmassnahmen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Verwaltung und der Justiz.

Einige der aufgeworfenen Fragen, so die Frage der Abrüstung, der Behandlung der Kriegsschuldigen, der Gestaltung des Uebergangsregimes führten zu eingehenden Aussprachen, die wesentlich zur Klärung der Auffassung beitrugen.

Das Ziel der Arbeitsgemeinschaft ist, in gemeinsamer Arbeit die Auffassungen zu entwickeln, die die Grundlage einer späteren schriftlichen Formulierung der Stellungnahme der Partei bilden sollen.

Der bisherige administrative Leiter des Central Committee for Refugees und damit des Bloomsbury House, Mr. Clare Martin, ist kürzlich zurückgetreten. Sein Amt ist von Rev. M. A. Simpson (General Secretary Christian Council for Refugees)[17] übernommen worden.

Das Musicians Committee im Bloomsbury House veranstaltet seit einigen Wochen jeden Mittwoch in der Empfangshalle des Bloomsbury House mittags 1.15 [Uhr] bis 2.15 [Uhr] ein Kammerkonzert. Der Eintritt ist frei. Die Unkosten werden durch Sammlung gedeckt. Die Konzerte haben ein hohes künstlerisches Niveau, ihr Besuch ist allen Freunden zu empfehlen.

Im Czech Refugee Trust Fund, Windsor, ist vom Home Office zum Direktor Mr. Paterson bestimmt worden. Mr. Paterson war bekanntlich vom Home Office nach Kanada entsandt worden, wo seine Tätigkeit wesentlich zur Beschleunigung der Befreiung zahlreicher Internierter beitrug. - Aus Kanada zurückgekehrt ist ein neuer Transport von etwa 200 Internierten. Der grösste Teil dieser Zurückgekehrten befindet sich noch auf der Isle of Man.

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[Veranstaltungshinweise]

VORTRAG

der SPD in London

Sonnabend, den 15. November, nachm[ittags] 3.30 Uhr
in London, W2 Westbourne Terrace 128

(Untergrund Station Paddington, Bus 7, 27A)

Gerhard Kreyssig[18], Wirtschaftsexperte des IGB,
spricht über:

"Erlebnisse und Erfahrungen in Frankreich"

Der Referent ist kürzlich aus Lissabon eingetroffen
und hat 14 Monate im unbesetzten Frankreich gelebt.




Für unsere

JUGENDGRUPPE

finden die ersten beiden
Veranstaltungen in Mill Hill, 33 Fernside Avenue, NW 7, statt.
Es sprechen:

Sonntag, den 16. November, nachm[ittags] 3 Uhr
Friedrich Stampfer über:

"Junge Welt jenseits des Ozeans"

und Sonntag, den 30. November, nachm[ittags] 3 Uhr
Gerhard Gleissberg über:

"Geschichte und Technik des Films"

Wir bitten unsere Genossen und Freunde, ihre Kinder im Alter zwischen 14 und 18 Jahren auf diese ersten Veranstaltungen aufmerksam zu machen.





Freiwillige Beiträge für die SM gingen ein: Ka. sh 1/-; FS -/3; HS, York, 3/-; Na. 5/-; Ja. 1/3; Te. -/6; ung. -/6; Egr. 5/-; Schl -/10; Miss C 2/-; GT 1/-, TL 1/-; Dr. W. 10/-; SA. 1 Dollar; AK 3/-; FS -/10; HL 2/6; JRP 60/-; K.E. 3/-; WKr 1/6; Ab. -/9; JG 2/-; HG 1/-; LN 2/-; H. Gr. 2/-; PMOI 3/-; HD 1/-; ungen. 5/-; TL 1/-; F. Br. 10/-; Mrs. Schw. 10/-; Mrs. BCH 20/-; St. 1 Dollar; WL 20/-; SW 3/6; Mrs. Brue. 5/-.

Wir danken allen Freunden für diese Beiträge! Aus Gründen der Arbeits- und Porto-Ersparnis wird nur auf diesem Wege quittiert.




Issued by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London NW7.






Editorische Anmerkungen


1 - Reinhard Heydrich (1904 - 1942), 1934 Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes Berlin, 1936 Chef der Sicherheitspolizei und des SD, 1939 Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, mit der Gesamtplanung für die "Endlösung der Judenfrage" beauftragt, 1941 stellvertretender Reichsprotektor für Böhmen und Mähren. Durch Attentat zu Tode gekommen.

2 - Karl-Heinrich von Stülpnagel (1886 - 1944), ab 1941/42 Militärbefehlshaber in Frankreich, 1944 als Widerständler gegen das NS-Regime hingerichtet.

3 - Am 28.10.1941.

4 - Hermann Liebermann, gestorben im Alter von 71 Jahren, 1931-1940 Mitglied der SAI-Exekutive, seit 1939 im Kabinett Sikorski Justizminister.

5 - Wladyslaw Sikorski (1881 - 1943), polnischer General und Politiker, seit 30.9.1939 Vorsitzender der polnischen Exilregierung in Großbritannien, bei einem Flugzeugabsturz bei Gibraltar umgekommen.

6 - George Dallas (1878 - 1961), bis 1912 Generalsekretär der schottischen ILP, Labour-MP 1929-1931.

7 - Rudolf Bechyne (1881 - 1948), tschechischer Sozialdemokrat und Parlamentsabgeordneter, 1929-1938 stellvertretender Ministerpräsident, ab 1940 Minister der CSR-Exilregierung.

8 - Mieczyslaw Mastek (siehe SM 3, 3. Febr. 1940, Anm. 9) war seit seiner Ankunft in Großbritannien Mitglied des Polnischen Nationalrats im Exil.

9 - Bei Amtsantritt Heydrichs wurde in Böhmen und Mähren der zivile Ausnahmezustand verhängt. Der Protektorats-Ministerpräsident Alois Elias wurde "wegen Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat" zum Tode verurteilt. Im September/Oktober 1941 wurden Hunderte von Tschechen wegen Widerstandstätigkeit hingerichtet.

10 - Georges Gombault, d. i. Joseph Weiskopf (geb. 1881), französischer Sozialist und Journalist, 1940-1944 im englischen Exil, zu dieser Zeit Vizepräsident der International Federation of Journalists.

11 - Wilhelm Frick (1877 - 1946), 1933-1942 NS-Innenminister, 1943-1945 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Aufgrund des Nürnberger Urteils des Internationalen Militärgerichtshofes hingerichtet.

12 - Julius Streicher (1885 - 1946), 1928-1940 NS-Gauleiter von Franken, seit 1923 Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes "Der Stürmer". Aufgrund des Nürnberger Urteils des Internationalen Militärgerichtshofes hingerichtet.

13 - Willy Messerschmitt (1898 - 1978), deutscher Flugzeugkonstrukteur.

14 - William Shirer (1904 - 1993), amerikanischer Autor und Journalist (u. a. Auslandskorrespondent). William Shirer: Berlin Diary, London 1941. Eine deutsche Übersetzung (Berliner Tagebuch) erschien u. a. in den 90er Jahren.

15 - Boris Nicolajevsky (1887 - 1966), ursprünglich russischer Menschewik, 1924-1931 in Berlin wissenschaftlicher Korrespondent des Moskauer Marx-Engels-Instituts, 1933 Exil in Frankreich, ab 1936 Leiter der Pariser Zweigstelle des Amsterdamer IISG, ab 1940 USA. Vgl. Marie Hunink: De papieren van de revolutie. Het Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam 1986.

16 - Anfang November 1941 in Moskau.

17 - Zu "Simpson" konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden. Der vollständige Name des Council lautet: Christian Council for Refugees from Germany and Central Europe; gegründet 1938.

18 - Gerhard Kreyssig (1899 - 1982), Gewerkschafter, Sozialdemokrat und Journalist, 1928-1931 wirtschaftspolitischer Sekretär der AfA, 1931-1945 Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung des IGB in Berlin, Paris und London, 1938 ausgebürgert. 1945 nach Deutschland zurückgekehrt, 1947-1949 Mitglied des Frankfurter Wirtschaftsrates, 1951-1965 SPD-MdB.



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