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Demographie, Staatsverschuldung und Umbau der sozialen Sicherung : Thesenpapier / von Ulrich Pfeiffer ... Unter der Federführung von Ulrich Pfeiffer. Managerkreis der FES. - [Electronic ed.]. - Berlin, 2000. - 26 S. : graph. Darst. = 62 Kb, Text & Image files
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

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INHALT




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Demographie, Staatsverschuldung und Umbau der sozialen Sicherung

Thesenpapier von
Ulrich Pfeiffer
Dr. Thilo Sarrazin
Harald Simons
Gert von der Groeben
unter der Federführung von Ulrich Pfeiffer
20. März 2000


I. ANALYSEN

1. Ausgangsituation

Die Ausgaben des Staates sind seit 1962 von Jahr zu Jahr um real insgesamt 340 % gestiegen. Das BIP wuchs dagegen nur um 220%, so daß sich die Staatsquote von 36% auf knapp 50% erhöhte. Innerhalb der Staatsausgaben entwickelten sich wiederum die konsumptiven Ausgaben im Gegensatz zu den investiven Ausgaben am dynamischsten. Die Bruttoinvestitionen stiegen nur um 55%, während der Staatsverbrauch um 320%, und die Einkommensübertragungen um 415% zunahmen.

Die Einnahmen des Staates konnten mit der drastischen Ausgabenausweitung nur bedingt Schritt halten. Seit 1962 ist der Staatshaushalt [In der Abgrenzung der Finanzstatistik. ] , mit Ausnahme nur eines Jahres (1969), stets unausgeglichen. Zwar stiegen auch die Einnahmen des Staates seit 1962 um real 300%, damit allerdings um 13% oder 40%-Punkte weniger als die Ausgaben. Innerhalb der Einnahmen gab es eine deutliche Gewichtungsverschiebung zugunsten der Sozialversicherungsabgaben, die 1997 41% der Gesamteinnahmen ausmachen nach 22% in 1962.

Abbildung 1: Reale Entwicklung des BIP und der Staatsausgaben, 1962=100

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Quelle: SVR empirica

Die Finanzierung des Haushaltsdefizits erfolgte vorrangig über die Aufnahme von Staatsschulden. Diese stiegen von 1962 bis 1997 um 1200%, in Relation zum BIP von 17% auf 61%. Eine Folge sind ständig steigenden Ausgabenanteile, die der Staat für Zinsen (ohne Tilgung) aufwenden muß, 1997 über 3,5% des BSP.

Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Entstehung der Staatsverschuldung. Der Primärüberschuss (Gesamtausgaben abzüglich Zinszahlungen) beschreibt das Verhältnis von Staatsausgaben, die dem Bürger in Form von Übertragungen oder Leistungen zugute kommen, und den Steuern und Abgaben im jeweiligen Jahr. Die Differenz zum gesamten Staatsdefizit sind die Zinsen auf die Staatsschulden.

Abbildung 2: Entwicklung des Primärüberschusses, 1992 - 1997

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Quelle: eigene Berechnung auf Basis der Finanzstatistik empirica

Bereits in den 60er Jahren in Erhards Kanzlerschaft war der Primärüberschuß negativ, d.h. die in dem jeweiligen Jahr dem Bürger zugute kommenden staatlichen Übertragungen und Leistungen überstiegen die in dem Jahr eingenommenen Steuern und Abgaben. Das Haushaltsdefizit (Primärdefizit zzgl. Zinsen) wich aufgrund des niedrigen Bestands der Staatsschulden noch wenig vom Primärdefizit ab. Anfang der 70er Jahre wurde das Primärdefizit drastisch ausgeweitet, im wesentlichen über Transfers an die Haushalte, und damit der Grundstock für die Staatsschulden gelegt. In der Folge wuchsen die Zinslasten und damit die Differenz zwischen Primärdefizit und Haushaltsdefizit ständig an. In den 80er Jahren war der Primärüberschuß wieder positiv. Der Staat sparte in dem Sinne, daß die Steuern und Ausgaben die staatlichen Übertragungen und Leistungen überstiegen. Wenn es keine Altlasten gegeben hätte, wäre der Staatshaushalt ausgeglichen gewesen. Mit der Wiedervereinigung wurde der Primärüberschuß nochmals negativ, allerdings bei weitem nicht in dem Maße (in Relation zum BSP) wie in den 70er Jahren. Die Kosten der Wiedervereinigung sind nicht allein verantwortlich für die Staatsverschuldung, der Grundstock der Staatsverschuldung wurde in den 60er und insbesondere in den 70er Jahren gelegt. Die einseitige „Schuldzuweisung„ an die Vereinigungskosten als „Schuldenmacher„ übersieht, daß das keynesianische „Defizit Spending„ in Folge der Ölkrise mindestens die gleiche Bedeutung hatte und mitverantwortlich ist für die desolaten Staatsfinanzen. Der Hinweis macht im übrigen deutlich, wie schwer es ist, einmal aufgehäuften Schuldenberge wieder abzutragen.

Abbildung 3: Ausgabenstruktur des Staates, 1997

Die Zinsausgaben auf die bereits aufgelaufenen Staatsschulden beschränken die Handlungsspielräume des Staates. Knapp 8% aller Staatsausgaben entfallen bereits heute auf die Bedienung der Schuldzinsen. Da die Zinssätze in aller Regel die Wachstumsraten des BIP übersteigen, wird der Handlungsspielraum zunehmend weiter eingeschränkt. Trotz des wieder positiven primären Haushaltsüberschusses steigt die Schuldenquote weiter. Die Verschuldung nährt sich aus sich selbst heraus, wie die Bundesbank schreibt [Deutsche Bundesbank, „Die Entwicklung der Staatsverschuldung seit der Vereinigung" im: Monatsbericht, 49. Jg, März 1997, S. 17 – 32.] . Zur reinen Konstanthaltung der Schuldenquote am BSP ist ein permanenter primärer Budgetüberschuß in Höhe von knapp 2,4% des BSP nötig [Bei nominal 3% BSP-Wachstum, 7% Zinssatz, 60% Schuldenquote] , in 1997 betrug der primäre Budgetüberschuß knapp 1%. Weitere Leistungseinschränkungen sind notwendig, um die Schuldenquote auch nur konstant zu halten.

2. Implizite Staatsschuld

Die implizite Staatsschuld umfasst alle Zahlungszusagen, die der Staat gegenüber Bürgern bereits ausgesprochen hat und die in Zukunft als Ansprüche an das Bruttosozialprodukt geltend gemacht werden können. Das künftige BSP ist in weit höherem Maße schon vorweg verteilt als dies in der Höhe der Staatsschuld zum Ausdruck kommt. In erster Linie sind dies die Zahlungszusagen aus den Sozialversicherungen sowie die Pensionszusagen. In der Wirkung ähnlich sind die Versicherungen (Gesetzliche Krankenversicherung und Pflegeversicherung), die den Mitgliedern im Versicherungsfall einen Anspruch an die Versicherungsgemeinschaft eröffnen. Andere implizite Staatsschulden (z.B. Sell-and-lease-back Instrumente, langjährige Verträge, z.B. Kosten des Atomausstiegs, internationale Verpflichtungen oder auch Verpflichtungsermächtigungen aus früheren Jahren, die in den kommenden Jahren eingelöst werden müssen) sollen hier nicht berücksichtigt werden.

Die Generationenbilanzen von Raffelhüschen et al. (1995, 1996) geben Antwort über die Höhe und Entwicklung der Gesamtverschuldung, die heutige Generationen den zukünftigen hinterlassen. Würde den heute und allen zukünftig Geborenen die Möglichkeit verwehrt, ihrerseits die Altlasten zu erhöhen und an die folgenden Generationen weiterzureichen, würde sich deren Steuer- und Abgabenlast im Vergleich zu ihren Vorgängern um 156 % erhöhen. Die Belastung entsteht dabei etwa zu einem Drittel aus der expliziten Staatsschuld und zu zwei Dritteln aus der demographischen Entwicklung (Raffelhüschen, Walliser, 1995). Allein die implizite Staatsschuld aus den heute bereits aufgebauten Anwartschaften der Rentenversicherung beträgt 10 bis 12 Billionen DM, das ist mehr als das gesamte Anlagevermögen der Bundesrepublik und ein vielfaches der offen ausgewiesenen Staatsschuld von 2,2 Billionen DM.

2.1 Sozialversicherungen

Die deutschen Sozialversicherungen haben keinen eigenen Kapitalstock gebildet, sondern führen die Beiträge der Erwerbstätigen unmittelbar an die Empfänger ab. Die Beitragssätze müssen in jedem Jahr den erwarteten Ausgaben angepaßt werden. Die Gesamthöhe der Ausgaben bestimmt sich grundsätzlich aus den Ausgaben pro Person multipliziert mit der Anzahl der empfangsberechtigten Personen. Steigen die Ausgaben pro Kopf oder steigt die Anzahl der Empfänger, muß systemimmanent auch der Beitragssatz steigen.

In der ersten Hälfte des dieses Jahrtausends wird die Zahl der Empfänger kräftig steigen. Die deutsche Gesellschaft altert. Unter Zugrundelegung einer sehr optimistischen Bevölkerungsprognose steigt die Anzahl der über 60 Jährigen zwischen 2000 und 2030 um 55%, während die Zahl der 20 bis 60 Jährigen um 12% zurückgeht. Der Altersquotient - i.e. das Verhältnis zwischen potentiellen Beitragsempfängern und Beitragszahlern der Sozialversicherung - steigt von 42% auf 78% in 2030 und verdoppelt sich bis 2050 auf 84%. Der Anstieg erfolgt nicht gleichmäßig, sondern konzentriert sich auf die Jahre zwischen 2020 und 2030.

Abbildung 4: Optimistische Bevölkerungsprognose bis 2030

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Quelle: Birg (1999), Variante 20, mit TFR: 1,6, mittlere Lebenserwartung, 225.000 Nettozuwanderung p.a. empirica

Für die Rentenversicherung muß die Verdoppelung der Empfänger relativ zu den Beitragszahlern zwangsläufig in einer Verdoppelung der Beitragssätze oder in einer Halbierung der Renten im Vergleich zu einer konstanten Bevölkerungsschichtung münden. Spätestens seit Anfang der 80er Jahre, 15 Jahre nach dem Pillenknick, mahnt die Ökonomie die Politik vorzusorgen, aber die Politik der 80er und 90er Jahre immunisierte sich gegen Mahnungen.

Zwar wurde mit über 10 Jahren Verspätung ein erster Schritt mit der Einführung der nettolohnbezogenen Rente 1992 getan, dem 1999 mit dem Rentenreformgesetz eine zweite Stufe folgen sollte. Beide Reformen zusammen hätten die Beitragssätze statt auf ca. 40% auf „nur" 28%-31% steigen lassen (Neumann et al, 1998). Keine der beiden Rentenreformgesetze sah eine Rentenkürzung, sondern nur eine Minderung des Rentenanstiegs vor. Bis zum Jahr 2030 sollte die Standardrente von bisher 70% des durchschnittlichen Nettolohnes auf 64% abgesenkt werden. Mit der jetzt vorgesehenen marginalen Minderung des Rentenanstiegs, wird eine neuerliche Niveauabsenkung vorgenommen. Beide Initiativen unterscheiden sich in ihrer langfristigen Wirkung nur geringfügig (Sinn, Thum, 1999).

Neben den Beiträgen zur Rentenversicherung werden die Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge durch die Alterung steigen. Die Gesundheitsausgaben für über 80-Jährige liegen nach Schätzungen sieben mal so hoch wie die eines Jugendlichen [Prognos AG, „Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung für Gesamtdeutschland vor dem Hintergrund veränderter politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen", Studie im Auftrag des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, 1998.] , die Pflegeversicherung richtet sich vorrangig an die Älteren. Für die Krankenversicherung wird ein Beitragssatz von rund 17,5% prognostiziert, für die jüngst eingeführte Pflegeversicherung eine Verdoppelung auf 3,5% (Börsch-Supan, 1997). Ohne Berücksichtigung der Arbeitslosenversicherung ergibt sich aus den Sozialversicherungen bereits eine Gesamtbelastung der Löhne und Gehälter von deutlich über 50%. Die steigenden Lohnnebenkosten lassen allerdings auch einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit befürchten.

2.2 Personalausgaben des Staates

Nach einer Modellrechnung von Färber (1995) werden die Personalausgaben der Gebietskörperschaften von 10,5% des BIP in 1995 auf rund 16,5% des BIP steigen [Die Modellrechnung unterstellt dabei eine absolute Konstanz, d.h. Anzahl und Struktur der Beamten, Arbeitern und Angestellten der Gebietskörperschaften bleiben konstant, d.h. der Staat paßt die Zahl seiner Beschäftigten nicht der schrumpfenden Zahl der Erwerbsfähigen an. Selbst wenn der Staat aber per Einstellungsstop die Zahl der aktiven Beschäftigten vermindert, verändert sich qualitativ wenig, treibender Faktor sind die Pensionslasten.] . Allein die Versorgungsbezüge von Bund, Ländern und Gemeinden erhöhen sich real von DM 39 Mrd. in 1995 auf DM 172 Mrd. in 2030 und DM 237 Mrd. in 2040. Dabei entwickeln sich die Ausgaben der Länder weit überproportional. Gegeben eine optimistische Wachstumsprognose des BIP in Höhe von real 2,3% p.a. werden im Jahre 2030 rund 3% des BIP nur für die Versorgung der Pensionäre (und ihrer Hinterbliebenen) aufzuwenden sein. Diese Entwicklung ist Folge der erheblichen Ausweitung des Stellenplans und Stellenkegels Anfang der 70er Jahren, einem weiter sinkenden Pensionierungsalter und der steigenden Lebenserwartung. Langfristig steht einem aktiven Beamten ein Pensionär gegenüber. Nach einer Erhebung der bayrischen Landesverwaltung betrug das Pensionseintrittsalter im Bereich „Allgemeine Verwaltung" 1993 noch 53,9 Jahre.

Abbildung 5: Versorgungsausgaben der Gebietskörperschaften 1984 - 2040

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Quelle: Färber (1995) empirica

3. Weiterer Anstieg der Staatsquote programmiert

Leider existieren bisher nur die beschriebenen Partialprognosen über die Entwicklung einzelner Zweige der Sozialversicherungen sowie der Personalausgaben des Bundes. Dies ist nicht zuletzt deshalb ärgerlich, weil die Öffentlichkeit durch Partialprognosen z.T. irregeführt wird. So gelang der Prognos AG die Stabilisierung der Rentenversicherungsbeiträge auf Werte unter 25% auch über das Jahr 2020 hinaus nur durch verschiedene Umbuchungen zwischen Steuerbelastung, anderen Sozialversicherungen und der Rentenversicherung [Sinn, H.W., Thum, M., „Gesetzliche Rentenversicherung: Prognosen im Vergleich", ifo Diskussionspapier, Juni 1999.] .

Für eine rationale Diskussion über die Lasten der Alterung fehlen damit die entscheidenden Grundlagen. Werden hilfsweise die einzelnen Prognosen trotz unterschiedlicher Annahmensysteme addiert, ergeben sich bereits Werte in nicht durchsetzbarer Größenordnung.

Die Beiträge zu den Sozialversicherungen werden sich demnach von rund 23% auf 30% des BSP erhöhen. Die Personalausgaben des Staates sowie der aufgrund früherer Staatsschulden notwendige primäre Budgetüberschuß erfordern im Vergleich zu heute zusätzliche rund 7,5% des BSP. Insgesamt steigt damit die Staatsquote von heute 50% auf 65% des BSP. Wohlbemerkt - damit geht keine Erhöhung der Leistungen oder Übertragungen pro Kopf einher. Diese Staatsquote ist notwendig, um die Leistungen pro Kopf auf dem heutigen Status quo zu halten.

Tabelle 1: Vorwegverteilung des BSP 2030

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Quelle: Sinn, Thum (1999), Börsch-Supan (1997), Färber ( 1995), Dt. Bundesbank (1997), SVR (1998) empirica

Selbst wenn man unterstellt, daß sich die Kosten der Arbeitslosigkeit halbieren und sich die übrige Staatsquote durch Abbau von Subventionen und Einsparungen im Bildungssektor um 1,5% verringern lassen, dann ergäbe sich immer noch eine Steigerung auf 60%. In der öffentlichen Diskussion wird vielfach unterstellt, daß die Arbeitslosigkeit mit dem Auslaufen des Baby Booms und dem anschließend geringer werdenden Nachwuchs fast automatisch verschwinden wird. Diese globale Betrachtungsweise verdrängt, daß z.B. die Abgaben durch die Alterung der Bevölkerung steigen werden, was insbesondere einfache Dienste verteuert und eine Ausweitung der Beschäftigung erschweren wird. Die Alterung wird einen allgemeinen Strukturwandel der Nachfrage hervorrufen, was wiederum die Wirtschaftsstruktur verändern wird. Auch die Innovationsprobleme können wachsen. Angesichts solcher Veränderungen kann Arbeitslosigkeit leider noch lange bestehen bleiben. Es wäre leichtfertig auf eine Automatik des Abbaus zu setzen. [Es besteht die Gefahr, daß die nahenden Belastungen aus der Alterung vorübergehend mit einer höheren Kreditaufnahme finanziert werden. Der Anstieg des Altersquotienten verläuft in den nächsten 15-20 Jahren sehr allmählich. Erst nach 2020 beschleunigt sich der Anstieg drastisch, so daß noch einige Jahre ein Ignorieren der Belastungen möglich ist. Der „Erfolg" einer solchen Politik ist naheliegend, eine weiter steigende Vorwegverteilung des BSP. Ein anschließendes Zurückführen der Staatsverschuldung erfordert einen umso größeren Primärüberschuss im Staatshaushalt. Beträgt z.B. die Schuldenquote 70% und soll innerhalb von 10 Jahren auf 60% zurückgeführt werden, erhöht sich der notwendige Primärüberschuss von 2,4% des BSP auf 3,6%. Bei einer Schuldenquote von 110% des BSP sind 8,5% erforderlich. In diesem Falle würde die Staatsquote ohne Berücksichtigung der Wechselwirkungen mit der Entstehungsseite des BSP um weitere 6%-Punkte auf über 70% steigen.]

4. Erfolg bisheriger Sparbemühungen

4.1 Sparbemühungen in der Vergangenheit

Die Sparbemühungen der Vergangenheit waren durchweg nicht hinreichend und nachhaltig, sondern gekennzeichnet durch eine stärker werdende Liquiditätspräferenz. In der Folge vergrößerten die bisherigen Sparanstrengungen die Zukunftslasten, statt sie zu verkleinern. Drei Beispiele:

4.2 Die Eichelsche Sparpolitik

Die Eichelsche Sparpolitik beruht auf der Erkenntnis, daß

Es beginnt außerdem die Erkenntnis zu wachsen, daß die staatlichen Haushalte einen größeren Anteil an den finanziellen Lasten der sozialen Sicherung übernehmen müssen, und zwar weder durch Ausdehnung der Steuerquote noch durch Erhöhung der Staatsverschuldung. Bundesfinanzminister Eichel plant vielmehr nach seinen öffentlichen Aussagen, ab 2005 in eine Nettotilgung der Staatsschulden einzusteigen, um so mehr Raum zu schaffen für die Staatsfinanzierung der sozialen Sicherung.

Auch dies zählt zum Umbau des Sozialstaates, daß sich der Staat aus vielen noch heute öffentlichen Ausgaben zurückzieht, bzw. sich auf eine regulierende Rolle beschränken muß: Steigende staatliche Ausgaben für Verkehrsinfrastruktur, Wirtschaftsförderung, Forschung, Bildung und Wissenschaft - all dies wird (jedenfalls relativ zum Sozialprodukt) nicht stattfinden, wenn der jetzt von der Bundesregierung richtigerweise verfolgte Ansatz langfristig zur Richtschnur wird. Die Sparpolitik, die seit Eichels Amtsantritt betrieben wird, kann allerdings quantitativ nur als Anfang einer langen Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte und der Anpassung der Ausgaben an die Einnahmen interpretiert werden. Wichtig sind dabei konzeptionelle Veränderungen. Hohe Ausgaben werden nicht mehr automatisch gleichgesetzt mit einem sozialen Staat, der seinen Bürgern möglichst viele Leistungen ermöglicht. Hohe Ausgaben und hohe Staatsverschuldung werden stärker als bisher als Gefährdung der künftigen Wirtschaftsentwicklung und damit als unsozial angesehen, weil unter den später unvermeidbaren Kürzungen und der Gefährdung des Wachstums, vor allem die Einkommensschwächeren oder die Arbeitslosen zu leiden haben.

5. Über eine Sparpolitik hinaus

5.1 Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Staatssektors und der Wirtschaftsentwicklung.

In der öffentlichen Debatte begegnet man vielfach dem Bild einer überlasteten Wirtschaft, die durch die wachsenden Abgaben niedergedrückt wird und sich deshalb nicht entfalten kann. Eine solche Packeseltheorie wäre natürlich zu einfach. Abgaben sind nicht einfach nur Belastungen. Den Einnahmen stehen Ausgaben gegenüber, die das Wirtschaftswachstum fördern können, weil sie z.B. Bildung und Forschung finanzieren. Die Ausgaben kommen anderen Bürgern zugute, die aus Transfereinkommen sparen und konsumieren oder investieren.

Im Kontrast zur Packeseltheorie von Lobbyisten und Ökonomen steht die Wasserhahntheorie vieler Sozialpolitiker. Sie unterstellen, die Sozialpolitik könne aus dem wachsenden Strom der wirtschaftlichen Wertschöpfung nahezu beliebige Ströme für soziale Zwecke umlenken, ohne daß der Wachstumsstrom selbst dadurch beeinflußt wird. Auch diese Wasserhahntheorie ist natürlich zu einfach. Es gibt keinen eindeutigen und direkten Zusammenhang zwischen Wirtschaftsentwicklung und Abgabenquote. Das Wachstum ist aber auch nicht unabhängig von den Abgabenquoten, die für staatliche Zwecke umgelenkt werden und Unternehmen und privaten Haushalten damit nicht mehr zur Verfügung stehen.

Als Anschauungsbeispiel können die Erfahrungen der BRD in den 90er Jahren dienen. In dieser Phase wurde es durch die Wiedervereinigung erforderlich, etwa 5 % des Bruttoinlandsprodukts Westdeutschlands in Form von unterstützenden Transfers zugunsten Ostdeutschlands aufzuwenden. Diese abrupten Belastungssteigerungen in den öffentlichen Budgets haben zu erheblichen Spannungen und Verwerfungen geführt. Die Schwierigkeiten bei der Überwindung der Arbeitslosigkeit, bzw. die teilweise wieder ansteigende Arbeitslosigkeit, kann auch mit diesen Belastungssteigerungen in Zusammenhang gebracht werden.

Will man kritisch und empirisch fundiert bleiben, dann besteht die ständige Aufgabe, die staatlich erforderlichen und dringlichen Aufgaben so zu finanzieren, daß dadurch die wirtschaftliche Entwicklung möglichst wenig beeinträchtigt wird. Dabei wird dies natürlich um so schwerer, je höher das Abgabenniveau wird. Daneben besteht die parallele Aufgabe, eingenommene Gelder wirksam für die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und für soziale Ziele aufzuwenden.

Hier nur einige wesentliche Argumente:

Abbildung 6: Durchschnittsabgabensätze von 1958 bis 2002 auf äquivalente Einkommen

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Anmerkung: Durchschnittsabgabensätze (KV-, RV-, AV- und Durchschnittssteuersätze) bezogen auf Bruttoeinkommen, Bruttoeinkommen = Werte in Legende (DM p.a. in Löhnen von 1998); vertikale Linien = "große Steuerreformen"
Annahmen: Splittingtarif, ein Einkommensbezieher, Bruttoeinkommen rückwärts deflationiert mit dem Tarifindex für Angestellte bzw. bis zum Jahr 2002 mit 2 % p.a. inflationiert (indexierte Bemessungsgrundlage). Zu versteuerndes Einkommen = Bruttoeinkommen abzgl. der jeweils gültigen Arbeitnehmerfreibeträge und der abziehbaren gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge. Interpretation: Eine Kurve repräsentiert ein über die Zeit durch Indexierung konstant gehaltenes Äquivalenzeinkommen.

Quelle: Braun/Pfeiffer 1999 empirica

In Zukunft werden die budgetverursachten Risiken verstärkt durch die reinen Alterungsrisiken. Bei konstantem Erwerbsverhalten wird das Arbeitsvolumen deutlich zurückgehen. ( Bei konstanter Einwanderung und Lebensarbeitszeit wird das Arbeitsvolumen in 30 Jahren etwa 17% geringer sein als heute). Gleichzeitig steigt die Quote der nicht mehr Erwerbstätigen deutlich an (siehe Abb. 4).

Es werden jährlich 0.7 % Steigerung der Arbeitsproduktivität benötigt, um das Einkommen konstant zu halten. Erst darüber hinaus gehende Produktivitätssteigerungen erlauben es, Einkommenszuwächse zu verteilen. Während die Bedeutung der Produktivitätssteigerungen in einer alternden Gesellschaft mit in der Tendenz eher schrumpfenden Arbeitsvolumen zunimmt, nehmen die Chancen für solche Produktivitätssteigerungen aus verschiedenen Gründen eindeutig ab.

Natürlich können solche Tendenzen etwa durch ein sehr diszipliniertes Ausgabenverhalten der öffentlichen Hand kompensiert werden, in dem die öffentlichen Budgets Überschüsse erwirtschaften. Angesichts der wachsenden Transfervolumen im Sozialsektor ist ein solches Verhalten jedoch eher unwahrscheinlich. Wie man die Argumente und die empirischen Hinweise auch dreht und wendet, es spricht mehr für eine Verlangsamung der Produktivitätsentwicklung als für eine Beschleunigung.

5.2 Mögliche Anpassungen zur Kompensation der Risiken

Eine so dramatische wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung wie die Alterung kann enorme Anreize, aber auch einen Zwang zu Verhaltensänderungen auslösen. Solche Veränderungen können erhebliche Kompensationswirkungen entfalten und die erkennbaren Risiken überkompensieren. Beispiele:

Die Lebensarbeitszeit kann dramatisch steigen, indem die Ausbildungszeit verkürzt wird und das Pensionsalter in Stufen ganz erheblich gesteigert wird. Eine Ausweitung des Pensionsalters hat dabei den Vorteil, daß nicht nur das Arbeitsvolumen steigt, sondern gleichzeitig die Ansprüche an die Transfersysteme oder an die Staatskasse deutlich zurückgehen. Diese doppelte Wirkung einer Anhebung des Pensionsalters kann zahlreiche Befürchtungen obsolet machen.

Die drohende Kapitalknappheit kann ebenfalls durch erhöhtes privates Sparen und entsprechend diszipliniertes Ausgabeverhalten der öffentlichen Hände kompensiert werden. Die Abbildung 7 zeigt die Sparquoten nach Altersschichten in Deutschland (West) 1993. Die Haushaltssparquote in den USA folgt annähernd dem gleichen Muster, nur sparen dort ältere Erwerbstätige weiter, vor allem zur Alterssicherung. Der dramatische Abfall der Sparquoten in Deutschland nach dem 55sten Lebensjahr kann durchaus durch veränderte Erwartungen an die Alterssicherungssysteme verändert werden. Die drohende Kapitalknappheit ist kein Schicksal, sondern eine Prognose bei konstanten Verhaltensweisen.

Auch die Sorgen über eine künftige Produktivitätsentwicklung können ausgeräumt werden, wenn es gelingt, tatsächlich ein lebenslanges Lernen zu etablieren. Dies setzt veränderte Arbeitsmärkte aber auch veränderte Karriereplanungen in den großen Unternehmen voraus. Empirische Untersuchungen zeigen, daß ältere Erwerbstätige, die immer wieder neuen Herausforderungen ausgesetzt waren, durchaus anpassungsfähig, flexibel und lernfähig bleiben. Nur dann, wenn Erwerbstätige über Jahrzehnte in gleichen Rollen gleichsam eingesperrt bleiben, hat dies erhebliche negative Rückwirkungen auf ihre Lern- und Anpassungsfähigkeit.

Abbildung 7: Sparquote nach Alter in Deutschland (West) 1993

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Quelle: eigene Berechnungen aus EVS empirica

Die kritische Frage bleibt, wie die künftige Produktivitätssteigerung auf das Zusammenwirken von Alterung und steigenden Abgaben reagieren wird. Als ein wichtiger Effekt wird die Alterung bei konstantem Verhalten zu einer drastischen Kapitalverknappung führen. Diese Kapitalverknappung ergibt sich aus dem „global ageing", das in der ganzen entwickelten Welt zu erwarten ist, und aus der einfachen Tatsache, daß ältere Menschen geringere Sparquoten erreichen als Jüngere.

II. VORSCHLÄGE ZUM UMBAU DER SOZIALEN SICHERUNGSSYSTEME

1. Ein radikales Konzept

1.1 Hintergrund

Der moderne Sozialstaat - sprich: das öffentliche Versprechen auf soziale Absicherung unabhängig von den Banden der Familie, des Clans oder der Dorfgemeinschaft - ist elementarer Bestandteil der im wesentlichen auf formalen, verrechtlichten Beziehungen gründenden modernen Industriegesellschaft. Er ist sowohl ihr Dünger und ihre Legitimationsbasis als auch ihr Reparaturkitt.

Das gilt für die unterschiedlichsten Systeme des Sozialstaats, von denen die USA und Deutschland sicherlich zwei Extreme darstellen. Nur solche Staaten, in denen sich eine starke Mehrheit der Bevölkerung auch sozial gesichert fühlt, können auf die Dauer auch stabile Demokratien bleiben.

Inhalt und Umfang des Sozialstaats allerdings sind sehr plastisch. Sie hängen ab vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand, von der demographischen Entwicklung, von Gewohnheiten, Werturteilen und historisch überkommenen Strukturen. Die Plastizität muß jedoch mit den Veränderungen von Rahmenbedingungen Schritt halten, sonst kommt es zu wirtschaftlich schädlichen Fehlentwicklungen, Legitimationsproblemen und möglicherweise auch gesellschaftlichen Krisen.

Das heißt nicht, daß es für jeden Stand der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung nur eine richtige Sozialstaatsstruktur gibt. Es gibt aber Trade-offs und erkennbare Systemwidersprüche, die vermieden werden sollten, wenn man nicht in große gesellschaftliche und wirtschaftliche Problemlagen kommen will.

Der harte Kern des Sozialstaats ist und bleibt die Grundidee der Bismarck´schen Sozialversicherung: Der vermögenslose, aus überkommenen Sicherungssystemen herausgelöste Arbeitnehmer, soll eine gewisse Absicherung gegen die existentiellen Risiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter erhalten. Der Weg der beitragsfinanzierten Sozialversicherung war damals revolutionär und über 100 Jahre sehr erfolgreich. Wegen des niedrigeren Leistungsniveaus, des enger begrenzten Personenkreises, des viel engeren Zielkatalogs und der ganz anderen demographischen Struktur konnte die Sozialversicherung lange Zeit ihre Aufgaben zu recht mäßigen Beitragssätzen erfüllen. Insbesondere aber konnte sie das wenige, was sie versprach, auch halten. Beides hat sich geändert: Die Beitragsbelastung der Sozialversicherung ist mit mittlerweile 42 % der Lohnsumme des typischen Arbeitnehmers unerträglich geworden. Ihre Leistungsversprechen sind auf die künftigen Jahrzehnte gerichtet, gänzlich unglaubwürdig geworden, wenn die Beitragssätze konstant bleiben oder nur maßvoll steigen sollen.

Jeder unter 40 Jahren mit auch nur mäßiger wirtschaftlicher Leistungskraft weiß oder ahnt, daß er viel mehr in das System zahlt, als er je aus ihm erhalten wird. Die Legitimationsgrundlage dieses System ist erschüttert und bröckelt ständig mehr, damit wird auch die Einnahmebasis zwingend weiter erodieren. Dafür sind die Vorgänge um die 630-DM-Regelung und die sog. Scheinselbständigkeit erhellende Symptome. Kein Zwangsabgabensystem ist haltbar, dessen grundlegende Legitimation nicht von der überwältigenden Mehrheit der Beitragszahler anerkannt wird. Die halbwegs Leistungsfähigen werden das System ganz oder teilweise verlassen, ob es dem Staat gefällt oder nicht. Nach dem Prinzip der Berliner Hundesteuer - die Hälfte der Hundebesitzer zahlt, die andere Hälfte aber nicht - wird das System nicht finanzierbar sein.

Wenn keine grundlegenden Reformen kommen, wird sich der Staat über kurz oder lang einem moralischen Trümmerhaufen aus enttäuschten Erwartungen und einem finanziellen Trümmerhaufen von nicht mehr aus dem System finanzierbaren Leistungsverpflichtungen gegenüber sehen.

Mit einer Sozialversicherungslast von 42% auf jede verdiente Mark wird die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht wirksam zu bekämpfen sein. Bei einer absehbaren Sozialversicherungslast von 60%, die rein rechnerisch notwendig wäre, um die Leistungsstandards des Systems längerfristig zu erhalten, wird das System aus Legitimationsmangel schneller implodieren, als viele heute glauben.

Von den Ausgaben des deutschen Sozialbudgets, daß 1997 einen Umfang von 1.256 Mrd. DM hatte, entfielen

Das Sozialbudget macht damit 34,3 % des BIP aus. Zum Vergleich: Die staatlichen Zinsausgaben betrugen 1999 4,2 % des BIP. Um dieses Potential für die verstärkte Staatsfinanzierung von Sozialausgaben zu erschließen, müßte der öffentliche Gesamthaushalt bei 4% nominalem BIP Wachstum 20 Jahre lang einen jährlichen Primärüberschuß von 3,6 - 4% des BIP erwirtschaften. Um einen solchen Überschuß zu erwirtschaften, müßten 75 Milliarden DM der heutigen Ausgaben dauerhaft eingespart werden.

1.2 Ein Korridor

Die politischen Spezialisierungen fördern die Neigung jeweils nur die Entwicklung des eigenen Aufgabenfeldes zu analysieren und zu bewerten. Die Neigung zur Entkoppelung der eigenen Aufgabenfelder von den staatlichen Aufgaben insgesamt wird auch dadurch gefördert, daß die verschiedenen Politikfelder natürlich jeweils fundamentale Interessen oder Ziele repräsentieren. Deshalb ist verständlich, daß die Rentenpolitiker oder Umweltpolitiker jeweils kräftige Steigerungen der „ihnen zuzugestehenden„ Anteile des BIP fast automatisch voraussetzen. Da jedoch die Gesundheitspolitiker, die Technologiepolitiker und andere mit guten Gründen die gleiche expansiven Vorstellungen hegen, stehen die Finanzminister ständig vor anschwellenden Ausgabeforderungen, die alle gut begründet sind und jeweils eine einfache Tatsache aushebeln möchten: Das BIP kann nur einmal verwendet werden. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden diese im Ergebnis irrationalen Versuche bisher nicht gekannte Dimensionen erreichen und zu bisher nicht gekannten Konflikten führen, denn die Alterung der Bevölkerung erzeugt bisher nicht gekannte Anspruchslawinen.

Weil diese Konflikte so einfach und eindeutig absehbar sind, müssen die traditionellen Verfahren der Bedarfsermittlung für die öffentlichen Haushalte vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Es geht nicht mehr an, Gesamtbedarf durch Aufaddieren von Einzelbedarf zu ermitteln, um dann zu versuchen ihn auf ein erträgliches Maß zusammen zu streichen. Es muß zuerst festgelegt werden, welcher Korridor den öffentlichen Aufgaben angesichts ihrer Dringlichkeit und der Dringlichkeit der privaten Aufgaben und Interessen zukommen soll. Die Politik muß sich einen Gesamtrahmen stecken, der nicht gesprengt werden sollte, weil dann zu hohe negative Nebenwirkungen zu erwarten sind (Negative Anreize auf Arbeit und Sparen wegen zu hoher Belastungen der Einkommen, zu starke Einschränkung privater Bedürfnisse, Abwanderung Hochqualifizierter, Kapitalflucht, etc.)

Die Diskussion um die langfristige Entwicklung des öffentlichen Korridors der Einnahmen und Ausgaben muß frühzeitig und umfassend geführt werden, denn ohne eine solche Debatte, die alle wesentlichen Ausgabenblöcke umfaßt, drohen sich zu lange falsche Erwartungen zu entfalten. Das wäre unsozial und gefährlich zugleich, denn Alterssicherungs- und Vermögensbildungsplanungen brauchen möglichst realistische Erwartungen über drei Jahrzehnte. Zu späte Korrekturen rufen oft zu hohe und vermeidbare Opfer hervor.

Deshalb muß den Fachpolitiken ein realistisches und verkraftbares Gesamtausgabevolumen vorgegeben werden, das vertretbare Staatskorridore vorsieht. Die Fachpolitiken müssen ihren Anteil am vertretbaren Korridor zugewiesen erhalten, um den Wählern in detaillierten Fachkonzepten die Konsequenzen zu verdeutlichen. Wer diesen Konsequenzen widerspricht, muß automatisch verdeutlichen welche anderen Teilkorridore er einschränken will. Die Kumulation der Anforderungslawinen, die zu einer eigenen Wirklichkeit werden, der man kaum mehr Herr werden kann, darf nicht mehr weitergehen, weil die unterstellten Verteilungsspielräume nicht verfügbar sind.

Das hier vereinfacht dargestellte Verfahren wird natürlich nicht dazu führen, daß alle Verteilungskonflikte um öffentliche Ressourcen verschwinden. Aber es kann den Selbstbetrug unterbinden, der darin liegt, daß Fachpolitiken ihre unerfüllbaren Anspruchskumulationen vorantreiben und dadurch falsche Erwartungen wecken und falsches Verhalten anregen, um dann am Ende durch die Brutalität der leeren Kassen zu unsozialem Sparen gezwungen zu werden.

1.3 Ergänzende Anpassungen

Mittlerweile ist weitgehend unstrittig, daß auch der Umfang der hohen gesetzlichen Lohnnebenkosten die deutschen Wachstums- und Beschäftigungsprobleme mit verursacht. Wegen mangelhafter Durchsetzbarkeit versperrt, aber auch ökonomisch unvernünftig, ist eine über die allgemeine Einkommensentwicklung hinausgehende Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Dies würde nur kurzfristig zu einer Entlastung durch Mehreinnahmen führen, langfristig aber den Beitragswiderstand wesentlich erhöhen, Flucht- und Ausweichtendenzen stärken und im höheren Einkommensbereich zu noch krasseren Mißverhältnissen von Beiträgen und Einnahmen führen, denn es ist ja klar, daß eine so motivierte Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze nicht zu höheren Leistungsansprüchen führen darf, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll.

Unter Beschäftigungsgesichtspunkten ist ein weiterer Anstieg der Beitragssätze nicht mehr tragbar, darüber hinaus sogar eine Beitragsfreiheit von Einkommensanteilen bis etwa 1.500 DM monatlich geboten. Die Finanzierungslast wäre vom Staat zu übernehmen.

Ab 1.500 DM wäre die Beitragsstaffel so anzusetzen, daß der Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung und die Lohnsteuer niemals zu einer Grenzbelastung von mehr als 45% bis 50% führen. Das würde bedeuten, daß die Beitragsbemessungsgrenze in einem Einkommensbereich angesiedelt ist, der eine Grenzbelastung mit Lohnsteuer von nicht mehr als 25-30 % hat. Ferner würde dies bedeuten, daß auch der Beitragssatz auf die Einkommen oberhalb der Freigrenze in der Summe 35 bis 40 % nicht überschreiten darf.

Diese unter Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsgesichtspunkten gesetzte Beitragsnorm (die sicherlich im einzelnen diskussionsfähig ist) ist faktisch nur durchsetzbar, wenn die historische Prioritätenfolge umgedreht wird: Grundsätzlich entscheidet nicht mehr der Leistungsumfang über die Beitragshöhe, sondern die zulässige Beitragshöhe bestimmt über den Leistungsumfang.

Dies ist freilich nur die Norm, die der Ausgangspunkt und Maßstab für die Reformen in den einzelnen Sozialversicherungszweigen ist. Sie setzt hinsichtlich der inhaltlichen Auffüllung ein grundlegendes Umdenken voraus: Umsetzbar wäre eine solche Linie, wenn in den einzelnen Sozialversicherungszweigen in etwa die nachfolgend beschriebenen Grundsätze beachtet würden:

1.4 Rentenversicherung:

1.5 Krankenversicherung

Die durch den Geburtenrückgang bedingte Verschiebung der Alterspyramide,

führen insgesamt zu einer Lawine finanzieller Ansprüche, die jeden Budgetierungsansatz immer wieder hinwegfegen wird, so dass eine völlige inhaltliche Neubestimmung der Aufgaben und der Funktionsweise der gesetzlichen Krankenversicherung notwendig wird. Es gibt praktikable und sozialpolitisch vertretbare Lösungsansätze. Aber sie rühren an so viele Tabus und sind auch so empfänglich für Mißverständnisse, daß sie hier nicht kursorisch ausgebreitet werden sollen.

1.6 Pflegeversicherung

Die gesetzliche Pflegeversicherung war ein grundsätzlicher Irrweg zu einem richtigen Ziel. Sie sollte völlig umgebaut werden. Nur ein kleiner Teil der Menschen wird im Alter vom Pflegerisiko betroffen. Das ist der grundsätzliche Unterschied zur Renten- und Krankenversicherung. Soweit Pflegebedürftige eigenes Einkommen und Vermögen besitzen, sollte dieses grundsätzlich voll für den Pflegezweck eingesetzt werden können. Darüber hinaus sollte es vom Bund mitfinanzierte Ergänzungsleistungen der Sozialhilfe geben. Durch großzügige Freibetragsregelungen kann sichergestellt werden, daß in der Lebenslage pflegebedürftiger Pensionäre und Rentner beim persönlich verfügbaren Einkommen ein adäquater Abstand zur Sozialhilfe bleibt. Die Anreize zur häuslichen Pflege etc. können auch in solch einem System erhalten und gestärkt werden. Auch eine hinreichende Abgrenzung zu den Leistungspflichten der gesetzlichen Krankenversicherung bedarf der Pflegeversicherung nicht.

1.7 Weitergehende Lösungen

Für eine durchgreifende Sparpolitik ist eine erweiterte öffentliche Debatte notwendig, die zunächst dem Wähler auf die langfristigen Risiken aufmerksam macht. Dazu ist eine umfassende und für den Wähler nachvollziehbare mittel- und langfristige Finanzplanung notwendig, die zusätzlich alle (impliziten) Vorbelastungen enthält. Diese darf nicht von der Politik selbst verfaßt werden. Eine unabhängige Institution - in Analogie zur Bundesbank - sollte die Aufgabe übertragen bekommen, jeweils ein langfristiges Szenario des Staatsbudgets zu schätzen, daß alle Vorbelastungen umfaßt. Dieses Status-Quo Szenario [Generationenbilanzen geben Auskunft darüber, in wieweit zukünftige Generationen durch die aktuelle Ausgabenpolitik belastet werden. Generationenbilanzen werden in vielen Staaten jährlich von staatlichen Institutionen erstellt und finden faktisch als Entscheidungsgrundlage in der Politik auch Verwendung. In Deutschland wird seit geraumer Zeit die Erstellung von Generationenbilanzen gefordert.] muß deutlich machen, inwieweit durch geltende Gesetze und eingegangene Verpflichtungen das künftige BSP schon verteilt ist. Wie in den vorangegangenen Kapiteln erläutert, würde das Status-Quo Szenario als Ergebnis eine auf Werte zwischen 60% und 65% steigende Staatsquote prognostizieren.

Die Politik könnte als Reaktion auf das Status-Quo Szenario ihrerseits mit langfristigen normativen Entwicklungsszenarien reagieren, die ihre Vorstellungen von einer optimalen Entwicklung der Staatsquote umfassen, indem sie sich beispielsweise auf Obergrenzen oder Bandbreiten verpflichtet. Die einzelnen Fachbereiche der Politik müssen frühzeitig einkalkulieren, daß ihnen nur ein eng begrenztes Budget zur Verfügung steht, mit dem die anstehenden Aufgaben bewältigt werden müssen. Die Methode, dringlichen Bedarf der unterschiedlichen Fachbereiche hochzurechnen wird immer nur zu einer Überforderung führen. Angesichts der programmierten Steigerungen muß ein akzeptabler Korridor öffentlicher Einnahmen und Ausgaben festgelegt werden, in dem die einzelnen Ausgabenkorridore Platz finden müssen.

Als erste Voraussetzung für diese Lösung muß die Öffentlichkeit ständig ein Gesamtszenario der staatlichen Ausgaben als eine Art Spiegel der fiskalischen Wirklichkeit in einem umfassenden Status Quo Szenario vorgehalten werden. Diese Aufgabe könnte von der Bundesbank oder dem Sachverständigenrat übernommen werden. Ein Vorbild könnte das „Central Planning Bureau" in den Niederlanden sein, das zwar integriert in das Finanzministerium ist und dort für die Haushaltsabwicklung (Buchhaltung) zuständig ist. Gleichzeitig ist das CPB aber auch ein anerkanntes und unabhängiges Forschungsinstitut, das unabhängige Wirtschaftsprognosen, Generationenbilanzen und wirtschaftspolitische Analysen erstellt, die durchaus im Gegensatz zur Meinung des Kabinetts stehen. Im Vorfeld jeder Wahl beurteilt das CPB alle Parteiprogramme nach ihrer finanziellen Machbarkeit und vor dem Hintergrund jährlich aufgestellter Generationenbilanzen.

2. Auseinandersetzung mit Gegenargumenten

Gemessen an der gegenwärtigen Diskussion zwischen Regierung und Opposition, erscheinen die Forderungen als zu radikal und nicht durchsetzbar. Angeblich soziale Rücksichten verhindern, daß so weitreichende Konzepte in den Entscheidungsgremien diskutiert werden. Doch Behauptungen wie: „Nicht vermittelbar, unsozial, zu radikal, zu belastend....." beziehen sich auf ein sozialverträgliches Wissen, das auf den Erfahrungen der Vergangenheit beruht und die wahrscheinliche künftige Wirklichkeit verdrängt. Nicht die Intentionen der Akteure entscheiden darüber, ob eine Lösung im Ergebnis sozial wirkt, sondern die Veränderungen der Wirklichkeit. Man sollte nicht vergessen, daß gegenwärtig nicht die erste Rentenreform gestartet wird, um die Renten sicher zu machen.

Die relevanten Fragen lauten:

Können die Verfechter des Status Quo sicherstellen, daß die nächste Generation der Beitragszahler nicht überlastet werden? Können sie sicherstellen, daß die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Systems nicht beeinträchtigt wird und es nicht zu krisenhaften Entwicklungen kommt? Können die jetzigen Politiker den Rentnern des Jahres 2030 garantieren, daß die dann Erwerbstätigen die hohen Beitragssätze klaglos tragen werden und nicht zu radikalen Ausweichreaktionen bis hin zur Leistungsverweigerung greifen? Können sie versprechen, daß die Belastungskumulationen und die Verringerung der Sparquote der privaten Haushalte keine negativen Rückwirkungen auf die volkswirtschaftliche Produktivitätsentwicklung haben werden, was eine Voraussetzung der Überlebensfähigkeit der diversen Ansprüche wäre? Können sie sicherstellen, daß die Alterung der Erwerbstätigen die Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt und Deutschland für internationale Kapitalanleger attraktiv bleibt? Dabei muß man berücksichtigen, daß alle großen Unternehmen von Daimler über VW bis hin zur Deutschen Bank künftig immer mehr zu internationalen Unternehmen werden.

Alle in den jetzigen Reformvorschlägen enthaltenen impliziten Versprechungen stehen auf wackeligen Beinen. Es ist deshalb wahrscheinlich sozialer, die Versprechungen zu verringern, die Komponente Selbstverantwortung deutlich zu erhöhen, um bei niedrigeren Belastungen eine günstigere Wirtschaftsentwicklung zu erreichen. Es wird im Ergebnis immer weniger sozial, viel zu versprechen. Im Ergebnis wird nur Realismus sozial wirken. Nur realistische Versprechungen, die zu realistischen Verhaltensweisen führen, sind vertrauenswürdig. Nicht die Motive zählen. Deshalb muß vor allen Motivdiskussionen eine nüchterne Wirkungsdebatte geführt werden, um soziale Motive und ökonomische Wirkungen in Übereinstimmung zu bringen.

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