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Bildung - wo liegen die Schwächen dieses Standortfaktors? / dieses Papier wurde erarb. von Michael Domitra ... Unter Federführung von Ulrich Pfeiffer. Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung. - [Electronic Ed.]. - Bonn, 1996. - 10 S. = 32 Kb, Text
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




BILDUNG - WO LIEGEN DIE SCHWÄCHEN DIESES STANDORTFAKTORS?

Dieses Papier wurde erarbeitet von
MICHAEL DOMITRA
WERNER ENGELHARDT
PETER HOFELICH
HANS-HELMUT KOTZ
FRITJOF MIETSCH
HARALD MÜLLER-WITT
VOLKER RIEGGER
ANDREAS SCHLEEF
DIETHARD B. SIMMERT
JOCHEN STEMPLEWSKI
PETER TURKOWSKI
Unter Federführung von ULRICH PFEIFFER

MAI 1996

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1. ZUR SITUATION DES BILDUNGSSEKTORS


1. [Punkt]

"Humankapital ist gesamtwirtschaftlich wichtiger als Sachkapital." - "Bildung ist Bürgerrecht." - "Bildung wird immer mehr zur Voraussetzung einer erfolgreichen, erfüllenden Teilhabe am wirtschaftlichen und sozialen Leben einer Gesellschaft." Mit Sätzen dieser Art ist die Relevanz des Bildungssektors - der Schulen, der Lehrlingsausbildung, der Hoch- und Fachschulen, aber auch des ständigen Weiterlernens am Arbeitsplatz - umrissen. Eine Bildungskrise bedeutet mehr als eine Krise bei Kohle und Stahl und mehr als Ineffizienz der staatlichen Verwaltung. Verfehlte Bildung, falsche Bildung, verschlafene Bildungschancen können kaum oder nur zu hohen subjektiven und wirtschaftlichen Kosten nachgeholt werden. Das Bildungssystem ist zu wichtig, als daß man es Lehrern und Spezialisten allein überlassen kann.

2. [Punkt]

Man mag darüber streiten, ob sich das deutsche Bildungssystem in einer Krise befindet oder ob nur einige im Laufe der Zeit enstandene Mängel zu beseitigen sind. Zwei Indikatoren verdeutlichen jedoch das Ausmaß, in dem das Bildungssystem hinter den Ansprüchen zurückbleibt, die daran gestellt werden müssen:

- Das Pensionsalter der Lehrer ist von durchschnittlich 63 Jahren zum Ende der 70er Jahre auf 59 Jahre abgesunken. Das seit Beginn der 80er Jahre ständig steigende Durchschnittsalter wird bei gleichzeitiger Frühpensionierung zu einem Krisenzeichen. Ein Pensionsalter von 59 Jahren läßt sich nur realisieren, wenn schon jahrelang vorher durch Verhalten - und häufige Abwesenheit -demonstriert wird, daß man pensionsreif sei. Man muß davon ausgehen, daß ein großer Teil der über 50- oder 55jährigen sich nach einem 20- oder 25jährigen Verschleiß- und burning-out-Prozeß in einer Art innerer Emigration befinden. Bedenkt man, daß es ganze Lehrerkollegien mit einem Durchschnittsalter von über 50 gibt, dann wird deutlich, in welche Krise mancher Schulalltag durch schleichende Lethargie und Resignation geraten ist.

- Deutsche Akademiker sind 28 bis 30 Jahre alt, wenn sie in den Beruf eintreten. Sie sind dann reich an Wissen und arm an Erfahrungen. Innerhalb der nächsten fünf bis acht Jahre sollen sie in einem trial-and-error-Prozeß ihren beruflichen Weg finden, Familien gründen, Vermögensbildungsprozesse starten und z.B. nach Möglichkeit Wohneigentum erwerben. Vor allem Frauen werden durch die Verkürzung dieser Gründungszeit ihres Berufs- und Familienlebens völlig überfordert. Der "Geburtenstreik" deutscher Frauen ist ein Zeichen dieser Überforderung. Zwei bis drei Jahre mehr Zeit durch frühere Studien- und Berufsabschlüsse können die Risiko- und Familienfähigkeit deutlich erhöhen. Beides ist für die Gesellschaft und die einzelnen von zentraler Bedeutung. Junge Berufsanfänger brauchen mehr Zeit, um mit sich selbst zu experimentieren, Berufswege auszuprobieren, hohe Risiken einzugehen und ganz einfach den Arbeitsplatz mehrfach zu wechseln, ehe sie sich auf einen bestimmten Karriere- oder Berufsweg einlassen. Die menschlichen und volkswirtschaftlichen Verluste überlanger Bildungszeit sind weit größer als weithin angenommen.

3. Ein kultureller Widerspruch

Die Gesellschaft und die Eltern erwarten viel vom Bildungssystem, insbesondere von den Schulen. Allerdings trägt die Gesellschaft wenig dazu bei, die Schulen bei ihrer Aufgabe zu stärken und zu unterstützen. Die wachsenden Klagen, daß viele Schüler nicht lern- und schulfähig sind, haben leider eine hohe Plausibilität und immer häufiger auch eine solide empirische Basis. Ganz offensichtlich herrscht bei den Eltern in einer Welt ständig wachsender Wahlmöglichkeiten und Wertzersplitterung eine ständige Erziehungsunsicherheit. Ein Banalhedonismus im Konsumalltag lenkt Schüler immer häufiger vom Lernen ab. Eine wachsende Zerstreuungsindustrie nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Fernsehen, Videospiele, zeitaufwendige Konsumstile gehen Hand in Hand. Als Ergebnis berichten die Schulen von "neuen Kindern'' (Hensel). Diese neuen Kinder werden als nervös, wenig konzentrationsfähig, auf der Suche nach ständigen Reizen und Sensationen und wenig leistungsorientiert beschrieben. Ganz offensichtlich steht die Schule vor einem kulturellen Widerspruch. Lernen erfordert Konzentration auf sich selbst und auf die Mitlernenden, Bereitschaft auf andere einzugehen. Lernen ist langwierig. Vielfach anstehen Erfolge erst nach zeitaufwendigen Anstrengungen. Tatsächlich untergräbt die Welt, in der die Kinder leben, genau diese Verhaltensweisen und die Eigenschaften, die Lernerfolge ermöglichen. Sie signalisiert unbegrenzte Möglichkeiten der instant gratification, überfordert durch ständig neue Anforderungen und Reize. Würde die Schule darauf eingehen und sich den Wünschen und unmittelbaren Bedürfnissen der Schüler anpassen, wäre dies keine Lösung, denn es wäre brutal, Kinder nach einer weichen, ihren Wünschen angepaßten Erziehung in eine brutale Welt des unverändert harten Wettbewerbs zu entlassen. Trotz der Veränderungen der Konsumwelt und trog des kulturellen Widerspruchs muß man die Forderung aufrecht erhalten, daß die Schule auf die Realität, so wie sie ist und wie sie bleiben wird, vorbereitet und Schüler fähig macht, in dieser Welt erfolgreich zu agieren.

Das bedeutet aber: Schule ist mehr als Spaß. Schule ist Arbeit, innere Entwicklung und Leistung. Es muß Aufgabe der Reformen sein, den kulturellen Widerspruch aufzulösen und mit- allerdings modernisierten Methoden und Organisationsformen - die im Kern unveränderten Aufgaben wahrzunehmen.

Exkurs

Es häufen sich die Hinweise, daß die Schule in der Konkurrenz zum Fernsehen um die Aufmerksamkeit der Kinder den Kürzeren zu ziehen droht. Aus ganz unterschiedlichen Untersuchungsansätzen werden negative Auswirkungen eines hohen Fernsehkonsums auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen analysiert (Verzögerung der Sprachentwicklung durch bloße Anwesenheit in Räumen mit ständig laufenden Fernsehapparaten, dadurch Störung der individuellen Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenen, die sich auf die Entwicklung der Sprachfähigkeit auswirkt; Reduktion der Konzentrationsfähigkeit durch ständige Ablenkung durch das Fernsehen; Rückgang der Lesezeiten; Einseitigkeit der Entwicklung von Fähigkeiten aufgrund des Übergewichts optischer Reize..). Ganz offensichtlich wird es zu einer großen inneren Bildungsaufgabe, Menschen gegen zu hohen Konsum von Fernsehen genauso wie gegen Überernährung zu schützen. Die Fähigkeit zur Selbststeuerung in einer Welt der Überangebote unterschiedlicher Konsummöglichkeiten muß ganz offensichtlich gezielter entwickelt werden. Es fehlt an gesellschaftlich gestützten Regeln und Gewohnheiten. Die einzelnen Eltern und Kinder sind ganz offensichtlich überfordert. Die in England gegenwärtig propagierte Vorstellung, daß Eltern und Schulen einen Vertrag schließen sollten, in dem Prinzipien der gegenseitigen Unterstützung in der Ausbildung und Erziehung der Kinder festgelegt werden, macht deutlich, in welcher Richtung Lösungen gesucht werden sollten. Ganz offensichtlich muß die Bildungs- und Erziehungsaufgabe der Schulen breiter als in der Vergangenheit neu definiert werden und in Kooperation mit den Eltern auch breiter angelegte Inhalte umfassen als bisher.

4. Bildung als Quelle von Ungleichheit

Das Bildungssystem erzeugt extreme Ungleichheiten. Auf der einen Seite erzielen Akademiker, insbesondere wenn sie in Partnerschaft als Berufstätige zusammenleben, hohe Ausbildungsrenten, auf der anderen Seite stehen 20% der Ausländerkinder ohne Hauptschulabschluß da, und gescheiterte Bildungsprozesse führen zu fast lebenlanger Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von Sozialhilfe und der Unfähigkeit zur erfolgreichen Partizipation am Arbeitsmarkt. Dabei wird der Wettbewerb zu Lasten Niedrigqualifizierter ständig zunehmen, weil allein die Nähe zu den Niedriglohnländern Osteuropas und die Einwanderung den Nachfragewettbewerb um einfache Arbeitsplätze dauerhaft erhöhen werden.

5. Technikfeindliches Bildungssystem?

Vor allem die Schulen scheinen noch immer sehr technikfeindlich zu sein, obwohl die Fähigkeit des Umgangs mit neuen Medien und die Fähigkeit, technikgestützt selbständig zu lernen, eine Voraussetzung ist für lebenslange Partizipation in Berufen, deren Arbeitsinhalte sich ständig verändern. Gelingt es der Schule nicht, Technik arbeitssparend in den Unterricht zu integrieren, dann werden vor allem intelligente Eltern mit ausreichenden Ressourcen ihre Kinder von den Schulen mehr und mehr emanzipieren, weil individuelles Lernen dann erfolgreicher sein wird als schulisches Lernen.

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II. EIN ERSTER SATZ VON FOLGERUNGEN


1. Schulen

Ein erfolgreiches System muß weniger verschwenderisch mit der Zeit der Schüler und Studenten umgehen. Ein Abitur muß mit 18 möglich sein, ein erster Studienabschluß mit 22 oder 23 Jahren. [ Die Schäden, die sich für die Ausbildung und Entwicklung durch die Wehrpflicht ergeben, sind angesichts der weiter wachsenden Lern - und Bildungsaufgaben nicht mehr zu rechtfertigen. Die anstehenden Verteidigungsaufgaben sind mit einer Berufsarmee weit besser zu erfüllen. Die Sorgen gegen eine Berufsarmee in Deutschland können 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich in den Hintergrund treten. Es kommt aus unterschiedlichen Motiven zu einer unheiligen Allianz gegenüber jungen Männern, die - wie man an der wachsenden Zahl der Wehrdienstverweigerer ablesen kann, mit Recht immer weniger Sinn in einem Wehrpflichtjahr sehen.] Zweite Studienabschlüsse wären mit 25 oder 26 möglich. Die Schulen müssen aus der bürokratischen Zentralsteuerung befreit werden. Sie müssen autonomer und dezentraler werden. Statt einer Zentralverwaltung von über 100.000 Lehrern, wie z.B. in Nordrhein-Westfalen, müssen dezentrale Arbeitsmärkte entstehen. Dies setzt autonome Schulen als eigene Rechtspersönlichkeiten mit eigener Anstellungsfähigkeit voraus. Zwischen den Bildungseinrichtungen muß Wettbewerb herrschen. Das wird nur möglich sein, wenn die Nachfragemacht der Eltern, Studenten und auch der Schüler gestärkt wird. Mehr Steuerung durch Nachfrage statt Steuerung durch zentrale Bürokratie sollte ein Ziel ein. Dies setzt wiederum Transparenz über die Erfolge von Schulen und ihre spezifischen Eigenheiten voraus. Da es nicht möglich sein wird, alle Eltern auf gleiche Bildungsinhalte und Bildungsmethoden oder Schultypen zu verpflichten, sollte ein Wettbewerb der Schulformen eine möglichst große Wahlfreiheit durch Steuerung von der Nachfrageseite her zulassen.

1.1. Breiterer Auftrag für die Schulen

Die Schule ist nicht verantwortlich für den bildungsfeindlichen Banalhedonismus der Gesellschaft. Doch ihre Rolle als Ort des Lernens, der Konzentration und der beobachtenden Auseinandersetzung und Teilnahme an der Realität, in der die Schüler leben, kann gestärkt und erweitert werden. Schulen müssen die Chance haben, auch die Bildungsmotivation der Schüler zu stärken. Dies erfordert Ganztagsschulen, die allerdings mehr sind als Aufbewahranstalten. Ohne stärkere Kontrolle über das Zeitbudget der Schüler und ohne Angebote für aktives Gestalten des Lernens wird die Schule in Konkurrenz mit den Zerstreuungsindustrien nicht bestehen können. Die Schule wird kaum in eine "Spaßkonkurrenz" mit ihnen eintreten können, sie muß allerdings die Chance erhalten, den Schülern die Relevanz des Lernens zu vermitteln und ihnen ein Umfeld zu bieten, in dem sie in Auseinandersetzung mit Lehrern und Mitschülern ihre Fähigkeiten entwickeln können.

1.2. Mehr Autonomie der Schulen - dezentrale Organisationsstrukturen

Schulen sind hierarchisch organisiert. Sie sind Teil eines hierarchisch-bürokratischen Systems, in dem sie ihre Ressourcen zugeteilt erhalten. Sie haben keine Personalhoheit und keine eigene Rechtspersönlichkeit. Die einzelnen Lehrer erfüllen ihre Aufgaben weitgehend isoliert oder nur in geringer Kooperation mit anderen. Die formalen Kontrollen sind hoch, die materiellen Kontrollen gering. Für Erfolge gibt es kaum Belohnung, Leistungsanreize sind schwach. Allerdings fehlen auch Leistungskontrollen, und eine Präsenzpflicht für Lehrer für die Unterrichtsvorbereitung in den Schulen besteht nicht.

Niemand würde als Organisationsfachmann für eine so schwierige Aufgabe eine so unmögliche Organisationsform erfinden. Sie ist historisch gewachsen. Jeder Reformversuch stößt deshalb auf enorme Durchsetzungsschwierigkeiten, ideologische Vorprägungen, aber auch auf vested interests. Die Richtung der Veränderung ist eindeutig: Mehr Autonomie, mehr Leistungskontrolle, insbesondere Schulleiter, die auf Zeit von lokal verantwortlichen Gremien bestimmt werden und - wie die Chefs von Aktiengesellschaften oder GmbHs - nach einiger Zeit wiedergewählt werden müssen.

1.3. Strukturelles Ungleichgewicht des Schulsystems

Das Schulsystem befindet sich in einem strukturellen Ungleichgewicht. Da die Eltern die Bedeutung der Bildung für den Lebensweg ihrer Kinder sehr ernst nehmen, beobachtet man eine ständige Wanderung der Schüler in die höherwertigen Schulen, insbesondere in die Gymnasien. In den Stadtstaaten besuchen heute schon mehr als 50% aller Schüler Gymnasien. Die Hauptschule wird zu einer Minderheitenschule, sie ist fast schon stigmatisiert. Die gegenwärtige Entwicklung kann so nicht weitergehen, weil das Gymnasium dann zur Hauptschule würde, was seinem Anspruch und seiner Aufgabe nicht gerecht würde. Das gesamte Schulsystem befindet sich in einer Umstrukturierung, die keine Lösung bringt, denn ein Gymnasium als Mehrheitsschule würde entwertet, die Hauptschule zur "Versagerschule". Die Gesamtschule als Lösung ist in der Öffentlichkeit und bei den Eltern und Schülern nur partiell akzeptiert. Angesichts der politischen Fixierung ist eine Lösung sehr schwierig. Sie könnte darin bestehen, die Hauptschulen mit den Realschulen zu integrieren und gleichzeitig durch bessere Ausstattung und veränderte Aufgabenstellung (Ganztagsschulen, Bildungsmotivation, Integration von Ausländern) aufzuwerten (vgl. hierzu auch den Beschluß der saarländischen Landesregierung).

1.4. Strukturreform

Ein historisch gewachsenes Bildungssystem läßt sich nicht am Reißbrett verändern, indem abstrakt optimale Modelle entwickelt und dann realisiert werden. Wahrscheinlich ist, daß ausgehend von den Mißständen eine Offenheit für unterschiedliche Lösungen geschaffen wird. Allerdings erscheinen bestimmte Voraussetzungen generell sinnvoll. So sollten Lehrer keine Beamten sein, sondern Angestellte, die gleichen Regeln unterworfen sind wie die Angestellten der Privatwirtschaft. Es sollte einen dezentralen Arbeitsmarkt für Lehrer geben, was erfordert, daß die einzelnen Schulen eine Personalhoheit erhalten. Dies würde auch für staatliche Schulen gelten, die dann allerdings rekommunalisiert werden müßten, weil eine lokale politische und gesellschaftliche Kontrolle notwendig ist. Um den Wettbewerb zwischen Schulen anzuregen, könnten die einzelnen Schulen schülerorientierte Zuweisungen erhalten, aus denen sie z.B. ihre Personalkosten finanzieren. Dabei würden Schulen in Problemgebieten oder unter ungünstigen Voraussetzungen im Vergleich zu anderen Zuschläge erhalten können. In der politischen Diskussion wird von eher rechtsorientierten Ökonomen immer wieder ein voucher-System diskutiert, bei dem die einzelnen Eltern Schulkaufkraft vom Staat erhalten, um als Bildungsnachfrager auf dezentralen Märkten aufzutreten. Dies ist sicherlich ein Extrem, sollte aber als Option durchaus erprobt werden. Die Befürchtung, daß dadurch Ungleichheit gefördert wird, ließe sich durch entsprechende Ausgestaltung der Zahlungen zumindest weitgehend aus der Weltschaffen. Sicher wären voucher-Systeme nicht als Einstieg in eine Reform anzusehen, sondern eher eine Variante nach längeren Erfahrungsfristen mit dezentralen, wettbewerbsorientierten Systemen. Als ein Experimentierfeld könnten voucher-Systeme z.B. für benachteiligte Kinder eingeführt werden, deren Eltern Bildungskaufkraft zur Verfügung gestellt bekommen, mit der sie für ihre Kinder Nachhilfeunterricht an offenen Wettbewerbsmärkten finanzieren können. Das Ausmaß des Nachhilfeunterrichts hat so zugenommen, daß hier eine erhebliche Quelle von Ungleichheit der Bildungschancen anstanden ist. Der Gleichheitsanspruch des öffentlich-rechtlichen Schulsystems wird immer mehr zum Selbstbetrug.

Aus veränderten organisatorischen und Finanzierungsbedingungen würden sich fast zwangsläufig innere Organisationsveränderungen ergeben. Bei höherer Transparenz und stärkerer Leistungskontrolle würden mehr Kooperation und auch mehr Leistungskontrolle des einzelnen Lehrers fast zwingend. Eine Rationalisierung der Unterrichtsvorbereitung bei weitgehender Nutzung von Informationstechnologien und neuen Medien würde unter dem Wettbewerbsdruck zum Normalfall, weil nur auf diese Weise Unterricht attraktiv genug gestaltet werden kann.

2. Hochschulen

2.1. Krisenzeichen

Die Indikatoren, die eine Krise oder zumindest Mißstände signalisieren, liegen für jeden auf der Hand. Seit 20 Jahren gibt es in Gestalt des Numerus Clausus einen bürokratischen Zuteilungsmechanismus für Studienberechtigungen. Die Abiturnoten haben offensichtlich keinen Aussagewert. Die einzig sinnvolle Lösung unter den Bedingungen einer Übernachfrage wäre ein Heraufsetzen der Leistungsanforderungen in den Hochschulen, wobei die einzelnen Hochschulen ihr Anforderungsniveau selbst bestimmen können sollten. Auf diese Weise würde sich ein Angebots-Nachfrage-Gleichgewicht herausstellen können. Die zeitliche und z.T. auch inhaltliche Überausbildung stellt eine Verschwendung dar. Es ist ein Gemeinplatz, daß viele Akademiker nicht ihrer Qualifikation entsprechend arbeiten.

Genauso bekannt sind die exorbitanten Abbrecherquoten, wobei natürlich einige Jahre Universitätserfahrung für die Arbeitgeber, die diese Studienabbrecher einstellen, durchaus einen Vorteil darstellen können. Man fragt sich jedoch, ob solche Bildungsumwege sinnvoll sind.

Bildung wird immer mehr zu einer Quelle der Ungleichheit. Die Akademikerrenten, die vom Staat durch Bildungsinvestitionen finanziert werden, tragen mehr zur Ungleichheit bei als viele andere, in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund stehende Faktoren.

2.2. Stärkung der Nachfragemacht der Studenten - eine Schlüsselreform

Es ist zwar möglich, im geltenden System die Autonomie der Hochschulen durch pauschale Ressourcenzuweisungen zu stärken. Reformen dieser Art verändern jedoch nicht den Monopolcharakter der Angebote. Ein wirksamer Wettbewerb ist nur zu erwarten, wenn die Nachfrager über Kaufkraft verfügen und durch ihre Nachfrageentscheidung über Einkommen, Umfang und Größe der einzelnen Hochschulen bzw. Hochschullehrer mitbestimmen. Zu diesem Zweck sollte ein beachtlicher Teil der Studienkosten durch kreditfinanzierte Studiengebühren aufgebracht werden. Die einzelnen Studenten würden Kredite aufnehmen können, die einkommensorientiert langfristig zurückzuzahlen sind. Dies würde ihr Verhalten dramatisch ändern. Sie wären interessiert an zügigen, effizienten Ausbildungsgängen. Der Investitionscharakter der Bildung würde sichtbarer.

2.3. Strukturreformen in den Hochschulen

Als Pendant zu einem Wettbewerbssystem, das stärker durch Nachfrage gesteuert wird, könnten die Hochschullehrer nicht mehr Beamte auf Lebenszeit sein. Sie wären Angestellte, deren Arbeitsplatz dann in Gefahr ist, wenn die Nachfrage schwindet. Natürlich müssen in Bereichen mit geringen Studentenzahlen, in denen keine Chance besteht, durch Ausbildung einer großen Zahl von Studenten Einkommen zu erwirtschaften, andere Lösungen gefunden werden. Dies läßt sich leicht organisieren. Vor allem wissenschaftliche Leistungen sind nicht nur als Folge von Nachfragesteuerung von Studenten zu finanzieren.

Analog zum Wettbewerb um mit Nachfragemacht ausgestattete Studenten sollte der Wettbewerb um Forschungsmittel und Forschungskapazitäten ausgeweitet werden. Die Vergabe von Ressourcen in Ausschreibungssystemen sollte nach Möglichkeit zur Regel werden. Auch hier gilt, daß dies kein Allheilmittel ist, sondern daß diese Finanzierung sich eher auf Routineforschung bezieht. Daneben sollten nach wie vor v.a. an ausgewiesene Wissenschaftler Pauschalmittel für Grundlagenforschung, die nicht unmittelbar zu Ergebnissen führen kann, bereitgestellt werden. Insgesamt würde die Finanzierungsstruktur heterogener, allerdings durch Wettbewerbsverfahren auch transparenter und dezentraler organisiert.

2.4. Rückwirkungen auf die innere Struktur

Man muß sich über die innere Struktur einer Hochschule dann keine Gedanken machen, wenn sie sich im Wettbewerb behaupten muß und die Lehrenden unmittelbar am Bildungserfolg der Hochschulen partizipieren. Transparente Lehrangebote, zügige Ausbildungsmöglichkeiten, hohe Leistungsanforderungen, die einen erfolgreichen Start ins Berufsleben garantieren, und andere Merkmale würden aus Eigeninteresse der Hochschulen zur "Standardausrüstung".

2.5. Eine Qualitätshierarchie?

Der Versuch, ein gleichförmiges Hochschulsystem zu organisieren, sollte aufgegeben werden. Neben einer Ausweitung der Fachhochschulen, in denen praktisch verwertbare Fähigkeiten erlernt werden können, sollte es bei den Universitäten eine Qualitätsabstufung geben können. Es sollte zu denken geben, daß es im deutschsprachigen Raum kein Oxford und kein Cambridge, kein Harvard, Yale oder Princeton gibt. Durch den Wettbewerb würden bestimmte Hochschulen sich als besonders leistungsfähig erweisen. Ihre Attraktivität würde steigen. Sie könnten hohe Anforderungen an ihre Studenten stellen und gleichzeitig wären ihre Forschungsergebnisse überdurchschnittlich, was ihre Chancen im Wettbewerb um Forschungsmittel erhöhen würde. Unabhängig davon blieben natürlich für die Grundlagenforschung pauschal gewährte staatliche Finanzierungsmittel bestehen. Eine Verteilung im Hinblick auf Leistungskriterien und Erfolgschancen würde die Forschungserfolge verbessern.

3. Fazit

Die Richtung der Reformen erscheint eindeutig: Dezentralisierung, Wettbewerb, mehr Autonomie, mehr Transparenz, mehr unterschiedliche Lösungswege. Das sind die Kriterien, die einer differenzierten Gesellschaft unterschiedlicher Lebensstile und unterschiedlicher Bildungsanforderungen und -Vorstellungen gerecht werden. Der Versuch, ein homogenes, staatliches Bildungssystem aufrecht zu erhalten, wird in bürokratischer Überreglementierung und einem schematischen Angebot enden, das niemanden befriedigen kann. Gleichzeitig wird die Stigmatisierung der Hauptschule bei Entwicklung der Gymnasien zu Einrichtungen der Massenbildung weiterlaufen. Die schleichenden Krisen sind so eklatant, daß die Scheinlösungen, die seit langem propagiert und praktiziert werden, als solche entlarvt und kritisiert werden sollten. Es geht um die Reform einer Schlüsselinstitution unserer Gesellschaft, um die Reform des Bildungssystems, dessen Bedeutung ständig zunimmt und insbesondere aufgrund der langanhaltenden Einwanderung beschleunigt zunehmen wird, weil die Wissensindustrien und Wissensdienstleistungen Zukunft die internationalen Märkte mehr und mehr determieren werden. Nicht nur die individuelle Entfaltung, sondern auch die Entwicklung der Gesellschaft hängt mehr als jemals zuvor von der Qualität und Leistungsfähigkeit des Bildungssystems ab. Bildung als ständige Lebensbegleitung wird Grundlage einer persönlichen Entfaltung und einer befriedigenden Stellung der jeweiligen Gesellschaft in der Welt.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1998