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    VI. Den Sozialstaat modernisieren



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    1. Die Schlüsselaufgabe: Balance wahren

    Jede Gesellschaft muß als Gegenstand der kollektiven Wahl darüber entscheiden, wie der Lebensunterhalt der Alten und der Kinder finanziert werden soll, welche Krankheits- und Pflegerisiken von kollektiven Versicherungssystemen getragen oder privat abgesichert bzw. finanziert werden müssen.

    Die Bundesrepublik steht vor einem Dilemma. Das System der dynamischen Rente stammt aus einer Phase

    • hohen Wachstums und

    • hoher Kinderzahl,

    • in der Kinderlosigkeit noch die Ausnahme war und das Modell des Einverdienerhaushalts als Normalfall galt.

    In der Zwischenzeit hat sich das Wachstum nachhaltig verlangsamt und wird wahrscheinlich niemals mehr die Niveaus der fünfziger und sechziger Jahre erreichen und ein Drittel aller Erwachsenen wird kinderlos bleiben. (Dies gilt für die Gesamtbevölkerung, für die Deutschen ist die Quote deutlich höher.) Die Erwerbsquote der Frauen hat 60 Prozent (Ostdeutschland 74 Prozent) erreicht und steigt weiter. Gleichzeitig hat sich die Lebenserwartung erhöht (Männer 72,8 Jahre, Frauen 79,3), und das Rentenalter ist ständig gesunken. Der durchschnittliche Staatspensionär genießt seine Pension 18 Jahre (Durchschnittspensionsalter 59 Jahre für Männer, für Frauen 56 Jahre). Diese Zeiträume werden sich noch erhöhen. Heute beträgt der Altenquotient 35. (Auf hundert Menschen im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 60 entfallen 35 Personen über 60 Jahre.) Durch weiter steigende Lebenserwartung, bei weiter niedrigen Geburten von 1,4 Kindern je Frau und unveränderte Einwanderung, verdreifacht sich der Altenquotient in etwa bis zum Jahr 2050. Auf jeden Menschen im Alter von 20 bis 60 würde dann ein Mensch im Alter von über 60 entfallen. Das wird dramatische Veränderungen und Anspruchsteigerungen im Gesundheitssystem, bei der Pflege und bei den Renten- und Pensionsansprüchen hervorrufen. (Beitragssatz Rentenversicherung 25 bis 30 Prozent, Krankenversicherung über 15 Prozent, Pflegesatz ebenfalls deutlich erhöht, weil allein die Zahl der über 80jährigen bis zum Jahr 2030 von 3 Mio. auf 4.4 Mio. steigen wird.)

    Gegenwärtig leben wir noch in einer demographischen Schönwetterperiode. Der Altenquotient hat einen Tiefstand erreicht. Das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen ist niedrig. (Konsequenz des Babybooms). Dennoch machen die Sozialleistungen etwa 60 Prozent der Staatsausgaben aus. Die Mehrheit der sozialversicherungspflichtigen Bürger zahlt mehr Sozialbeiträge als Steuern. Dahinter steht: Bei hohem Wachstum und günstiger Altersschichtung konnten die Renteneinkommen über zwei Jahrzehnte ständig schneller steigen als die Einkommen der Erwerbstätigen. Armut war bis in die sechziger Jahre hinein Altersarmut. In der Zwischenzeit leben als Folge hoher Rentensteigerungen vor allem Kinder und Jugendliche von der Sozialhilfe. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich seit 1980 fast verdreifacht. Im Jahr 1995 lebten in Deutschland 2,5 Mio. Menschen ganz oder teilweise von der Sozialhilfe. Dabei stieg die Zahl der Kinder, die Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, weit überdurchschnittlich (in Westdeutschland 1980 rund 80.000 Kinder unter 7 Jahren, 1997 fast 400.000).

    Abbildung 3:
    Anzahl der Sozialhilfeempfänger je 1000 Einwohner nach Altersgruppen 1990-1995

    Undisplayed Graphic

    Quelle: Statistisches Bundesamt, empirica

    Armut ist heute vor allem Jugendarmut und Familienarmut. Die Anpassungen an die schon eingetretenen Veränderungen und erst recht an die noch absehbaren Veränderungen hinken demgegenüber nach. Doch noch immer werden höhere Renteneinkommen nicht voll besteuert. Noch immer entstehen bei Hinterbliebenen mit eigenen und ererbten Rentenansprüchen Überversorgungen. Noch immer nimmt das Renten- und Pensionssystem nicht zur Kenntnis, daß Alterssicherung nicht nur durch Beiträge und Steuerzahlungen finanziert wird, sondern die Kosten für die Erziehung der nächsten Generation auch eine Alterssicherungsleistung darstellen. Jeder Bauer im 19. Jahrhundert wußte, daß seine Alterssicherung von der Arbeitskraft seiner Kinder, der Fruchtbarkeit seiner Felder und dem guten Zustand seiner Gebäude abhing. Realwirtschaftlich und kollektiv hat sich daran nichts geändert. Das Umlagesystem der Rentenversicherung belohnt Kinderlosigkeit, obwohl Kinder die wichtigste Investition bleiben. In einer Gesellschaft, in der ein Drittel der künftigen Rentner keine Kosten für Kinder getragen hat, wachsen die ungeplanten Umverteilungen zwischen Familien und Kinderlosen in einem unerträglichen Ausmaß.

    Als Folge entstehen immer mehr Verteilungsungerechtigkeiten (Überlastungen der Familien, die volle Alterslasten und die „Sonderkosten" für Kinder tragen; Überversorgungen, steuerfreie Einkommen) und langfristig eine Überlastung der Generationen nach dem Babyboom (die heute unter 30jährigen). Die „grauen" Sorgen dieser Generation sind mindestens so begründet wie ihre „grünen" Sorgen.

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    2. Einwanderung in der bisherigen Form – keine Lösung des Überalterungsproblems

    Man muß vermuten, daß die Alterung der Erwerbstätigen, legt man bisherige Erfahrungen zugrunde, die Produktivitätsentwicklung bzw. das wirtschaftliche Wachstum eher beeinträchtigen (Überalterung des Wissens, sinkende Mobilität und Flexibilität in der Wirtschaft, konservative Konsumgewohnheiten, Zwang zu einem riesigen Konsum lokaler Dienstleistungen, niedrige Sparquote, geringe Investitionen in neue Arbeitsplätze, geringes Veränderungstempo usw.). Ein Staat der Überalterung und der fehlgesteuerten Einwanderung wird als Standort immer unattraktiver, wenn gleichzeitig die heutigen Schwellenländer ihre Infrastruktur und Steuerungsprobleme bewältigt haben und mit einer gut mit neuem Wissen ausgebildeten Erwerbsbevölkerung um nach wie vor knappes Kapital konkurrieren. Alterung kann Kapitalflucht hervorrufen. Ein so beeinträchtigtes Produktivitätswachstum würde die Finanzierung der Alterssicherung weiter erschweren. Der Hinweis vieler Sozialpolitiker: „Nicht die Altenquotienten sondern noch mehr die künftigen Produktivitätssteigerungen bestimmen das Rentenniveau" wird bei kritischer Analyse zu einem Krisenzeichen und nicht zu einem Hoffnungshorizont.

    Die „Lösung" Einwanderung hat in der bisherigen Form zu hohe negative Nebenwirkungen, denn Einwanderer verfügen vielfach nicht über ausreichende Qualifikationen. Ihre Kinder werden zu schlecht ausgebildet. Viele verlassen das Ausbildungssystem als Drop Outs. (20 Prozent der Ausländerkinder erreichen keinen Hauptschulabschluß.) Diese Chancenarmut in einer lebenswichtigen Frage wird sich schon bald rächen, denn in vielen deutschen Großstädten wird die Quote der Aussiedler und Ausländer bei den 20- bis 40-jährigen schon in 10 bis 15 Jahren die 50 Prozent Grenze überschreiten. Die Unterausbildung der Zuwanderer und eine fehlende Integrationspolitik wachsen sich zu einem schleichenden Krise des Sozialstaats aus, wenn sie nicht energisch bekämpft wird. Die Arbeitslosenquote unter den Ausländern hat 22 Prozent erreicht. Deutschland ist unter allen Industrieländern das Land mit der höchsten Einwanderungsintensität. (Zahl der Einwanderer pro 100.000 Einwohner und Jahr von 1983 bis 1988 in den USA 245, in Kanada 479, in Deutschland West 1022.) Doch wir sind nach politischem Verständnis kein Einwanderungsland. Diese Realitätsverweigerung wird eine der teuersten, die sich die Bundesrepublik leistet. Niedrige Geburtenraten der Deutschen und hohe Einwanderung werden die Bewohner deutscher Abstammung in 50 Jahren zu Minderheiten machen. Eine größeres Ausmaß an Illusionen, als es sich konservative Politik in Deutschland leistet, ist kaum vorstellbar.

    Die Kosten der nicht bewältigten Einwanderung sind schon heute unübersehbar. Zu wenige junge Ausländer und Aussiedler besuchen weiterführende Schulen. Einwanderung in der bisherigen Form belastet das Sozialsystem in unerträglichen Maße. Es steht vor einer doppelten Krise durch nicht bewältigte Einwanderung und Überalterung.

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    3. Eine steuerfinanzierte Einheitsrente – die bessere Lösung?

    Angesichts der Risiken für Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivitätswachstum, die als Folge der Geburtenentwicklung und der hohen Abgabenlasten zu befürchten sind, müssen alle künftigen sozialpolitischen Überlegungen die Rückwirkungen der Sozialtransfers auf die wirtschaftliche Entwicklung in Rechnung stellen. Maximierung der Transfers kann nicht mehr unbefragt als sozial gelten, wenn dadurch die wirtschaftliche Basis des Systems gefährdet wird. Unselbständige Arbeit in Deutschland wird gegenwärtig mit Sozialabgaben von 770 Mrd. DM pro Jahr belastet. Ein weiterer dynamischer Anstieg in allen Zweigen der Sozialversicherung ist vorprogrammiert. Für die Rentenversicherung sollte man deshalb nicht nur die Konsequenzen einer Weiterentwicklung des Status quo bedenken. In einer kritischen Gesamtanalyse müssen auch Alternativen genauso auf ihre Auswirkungen durchdacht und ihre Akzeptanz überprüft werden. Die bisherigen staatlichen Alterssicherungssysteme waren eine der großen sozialpolitischen Innovationen des zwanzigsten Jahrhunderts, die von Deutschland ihren Ausgang nahmen. Sie wurden zum Fundament des Wohlfahrtsstaats. Inzwischen haben sich die Voraussetzungen dramatisch verändert. Dabei darf man nicht nur an die hohen Belastungen denken. Auch die private Vorsorgefähigkeit und die Vorsorgeformen haben sich ausgeweitet.

    Statt der bisherigen staatlichen Systeme sollte – entsprechend dem holländischen oder dänischen Beispiel – eine allgemeine steuerfinanzierte Altersrente durchdacht werden, die das soziale Existenzminimum sichert und ab dem 65sten Lebensjahr gezahlt wird. Ergänzend wäre zu prüfen wie die Formen betrieblicher oder privater Altersversorgung steuerlich gefördert werden könnten. Beiträge in die Alterssicherungssysteme sollten steuerfrei, die späteren Rentenauszahlungen dagegen steuerpflichtig sind. Eine Einheitsrente von 1.500 DM monatlich für die Bevölkerung Deutschlands im Alter von 65 Jahren und älter (12,54 Mio. Menschen in 1994) würde 226 Mrd. DM kosten statt 441,0 Mrd. DM, die jetzt schon für alle Systeme aufgewendet werden (vgl. Tabelle 4).

    Tabelle 4:
    Ausgaben der staatlichen Alterssicherungssysteme im Jahr 1995

    [Undisplayed Graphic]

    Eine steuerfinanzierte Einheitsrente wäre bei der Vermeidung von Altersarmut treffsicherer als das bisherige System. Die Kosten unselbständiger Arbeit würden erheblich abgesenkt. Die Abhängigkeit von der Beschäftigungssituation ginge zurück. Der Staat würde entlastet, seine Verantwortung auf einen Kernbereich der Sicherung konzentriert. Die Anreize für eine private Vorsorge würden steigen, die volkswirtschaftliche Kapitalbildung würde beträchtlich angeregt, was Wachstum und Beschäftigung stärken müßte. Die Folgewirkungen im Hinblick auf mehr Gleichheit oder Ungleichheit müßten genauso wie die Akzeptanz bei verschiedenen Altersgruppen vergleichend untersucht werden. Dabei liegt auf der Hand, daß die Übergangsprobleme nicht einfach zu lösen sein wären. Sie sollten jedoch, wenn eine kritische Prüfung der Transfersysteme einschließlich der Pensionsverpflichtungen des Staates einen Systemwechsel als dringlich ergibt, grundsätzlich lösbar sein.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

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