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TEILDOKUMENT:




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IV. Die Staatsfinanzen neu ordnen



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1. Die Entwicklung des Staatssektors



1.1. Zu den Aufgaben der Haushaltspolitik

Die wichtigste Aufgabe der Haushalts- und Finanzpolitik besteht in der Koordination der Fachpolitiken zu einem gesamtwirtschaftlich und finanzpolitisch verträglichen Ganzen, und an dieser Aufgabe ist sie in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend gescheitert. Das natürliche Optimierungsstreben der einzelnen Politikbereiche – Bildung, Soziales, Verkehr, Wirtschaftsförderung, Verteidigung etc. – führt ohne das Gegengewicht einer durchsetzungsstarken, gleichwohl aber gesamthaft und konzeptionell orientierten Haushalts- und Finanzpolitik, leicht zu einer ungesteuerten Ausgabenmaximierung einzelner Bereiche, in der weiteren Folge zu übermäßigen Defiziten, zu „Notbremsungen" und unkoordinierten „Sparaktionen" – am Ende im besten Falle zu einem suboptimalen Zustand notdürftiger Mangelverwaltung, in dem Mangel und Verschwendung dicht beieinander liegen.

Die Festlegung der Steuer- und Abgabenquote, der Einnahmestruktur, des zulässigen Defizits, des gesamtwirtschaftlich verträglichen mittelfristigen Ausgabepfads und die Aufteilung des so definierten Ausgabevolumens auf die verschiedenen Politikfelder sind die eigentlich elementaren politischen Entscheidungen, die – ob bewußt oder unbewußt – immer den Rahmen für alles Übrige setzen: Die intelligente Abstimmung und Zusammenführung der unterschiedlichsten Anforderungen und Notwendigkeiten in ein gesamthaftes möglichst widerspruchsfreies Vorgehen ist die eigentliche Aufgabe der Haushalts- und Finanzpolitik und zugleich der – neben der Außenpolitik – wesentlichste Teil der Regierungskunst.

1.2. Die Ausgaben

Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts bildete sich – zunächst langsam und seit dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt – der moderne Leistungsstaat heraus. Im Jahr 1875 betrug der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt – die sogenannte Staatsquote – im Deutschen Reich 7 Prozent, 1925 waren es 12 Prozent. [ Vgl. Walter G. Hofmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin u.a. 1965, S. 108. Aus den dortigen Angaben zum Nettosozialprodukt wurde zur Ermittlung der Relationsziffern das Bruttoinlandsprodukt hochgerechnet.] Im Jahr 1995 dagegen lag der Anteil der Staatsausgaben am BIP mit Sozialversicherung bei 50,4 Prozent, ohne Sozialversicherung immer noch bei 30,3 Prozent. Weil die reale gesamtwirtschaftliche Leistung seit 1950 auf das Siebenfache gestiegen ist, bedeutete der Anstieg des Staatsanteils einen noch höheren Zuwachs beim staatlichen Leistungsumfang.

Durch die doppelte Fütterung aus dem starken Wirtschaftswachstum und der Zunahme des Staatsanteils war beim Umfang der Staatsleistungen gleichsam ein Turbo-Effekt wirksam. Als dann das Wirtschaftswachstum seit Ende der sechziger Jahre deutlich abflachte – die Gesamtzunahme des realen Bruttoinlandsprodukts betrug in den fünfziger Jahren 120 Prozent, in den Sechzigern 63 Prozent, in den Siebzigern 30 Prozent, in den Achtzigern 25 Prozent und wird in den Neunzigern noch niedriger liegen –, wich das Staatswesen in steigende Verschuldung aus. Mittlerweile wächst die deutsche Wirtschaft deutlich langsamer als im Durchschnitt der Jahre 1850 bis 1970, die die Katastrophe zweier Weltkriege einschlossen, wobei das damalige Wachstum, sieht man von der Finanzierung der beiden Weltkriege ab, ohne nennenswerte staatliche Verschuldung erfolgte.

Noch 1970 war die deutsche Staatsschuld praktisch bedeutungslos. 1998 dagegen gibt der Staat für 2.370 Mrd. DM Schulden rund 140 Mrd. DM Zinsen aus. Da aber die Steuer- und Abgabenquote erstens nicht mehr weiter steigen kann und zweitens nach Auffassung aller Parteien sogar sinken muß, haben wir jetzt bei den staatlichen Ausgabemöglichkeiten einen umgekehrten Turbo-Effekt: Der Finanzierungseffekt einer zunehmenden Abgabenquote fällt weg, das Wirtschaftswachstum schafft kaum noch zusätzliche Ausgabemöglichkeiten. Gleichzeitig steht ein wachsender Teil der Einnahmen für die Finanzierung staatlicher Ausgaben gar nicht mehr zur Verfügung, sondern wird durch die Zinsen weggefressen. Folge: Wir sind in eine Phase eingetreten, in der die realen staatlichen Ausgabemöglichkeiten sinken, anstatt zu steigen.

Durch andere in der Vergangenheit eingegangene Zukunftslasten wird die finanzielle Beweglichkeit des Staates noch weiter eingeschränkt: Das deutsche Wirtschaftswachstum liegt mittlerweile in Europa am unteren Rand. Insbesondere die Wachstumsdynamik in Großbritannien und den USA ist schon seit anderthalb Jahrzehnten viel ausgeprägter als in Deutschland, und diese Auseinanderentwicklung hat sich in den neunziger Jahren noch deutlich verstärkt. Auch der „Aufschwung" 1997/98 vollzieht sich in Deutschland deutlich langsamer als in den europäischen Nachbarstaaten. Trotz guter Entwicklung der Exporte und steigender Kapazitätsauslastung springen die inländischen Investitionen nicht so an, wie es dem traditionellen Aufschwungsmuster entspricht. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die weitgehende Zurückhaltung ausländischer Investoren bei gleichzeitig erheblichen Nettoinvestitionen der deutschen Industrie im Ausland. Sicher ist dabei, daß auch die Abgabenstruktur und das Kostenniveau in Deutschland zu den Ursachen zählen.

Eine andere Ursache ist der langsame Anstieg der verfügbaren Einkommen in Deutschland, der zu einer gedrückten Konsumnachfrage führt. Hier muß man sich jedoch hüten vor allzu linearen Schlußfolgerungen: Nicht der niedrige Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen ist das Problem – er ist vielmehr eine notwendige Bedingung, auf der Kostenseite die Voraussetzung für mehr Arbeitsplätze zu schaffen –, sondern der Umstand, daß so wenige Köpfe Arbeitseinkommen beziehen. Für das Wachstum des privaten Verbrauchs ist die Entwicklung der Gesamteinkommen entscheidend, die sich ergibt aus der Zahl der Bezieher von (Arbeits-)Einkommen und der durchschnittlichen Einkommenshöhe. Außerdem ist entscheidend, welcher Anteil des (kostenrelevanten) Bruttoeinkommenszuwachses tatsächlich in verfügbares Einkommen umgesetzt wird.

Steigende Exporte und wachsende Unternehmensgewinne setzten sich um so eher in inländische Investitionen und ein wachsendes Arbeitsplatzangebot in Deutschland um,

• je niedriger die Grenzbelastung zusätzlicher Einkommen, je höher also der potentielle Nachfrageimpuls eines Einkommenszuwachses ist,

• je höher die Nettokapitalrendite einer Investitionsaktivität im Verhältnis zu einer vergleichbaren Auslandsinvestition ist und – in Zusammenhang damit –

• je unkomplizierter und einfacher es ist, zusätzliche Arbeitskräfte zu im internationalen Konkurrenzvergleich rentablen Bedingungen einzustellen und sich gegebenenfalls auch wieder von ihnen zu lösen.

Erhebliche Veränderungen gab es in der Ausgabenstruktur des Staatssektors (inklusive Sozialversicherung):

• Der Anteil der Einkommenstransfers an private Haushalte stieg seit 1970 kontinuierlich an: zunächst von 15,9 Prozent des BIP in 1970 auf 17,2 Prozent im Jahr 1980; auf diesem Niveau blieb er bis 1991 konstant, um dann – unter anderem bedingt durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit – bis 1998 auf 18 Prozent anzuwachsen.

• Dagegen fiel der Anteil der staatlichen Investitionen seit 1970 kontinuierlich ab: Von 4,6 Prozent im Jahr 1970 über 3,6 Prozent in 1980 und 2,6 Prozent in 1991 auf nur noch 1,8 Prozent im Jahr 1998.

• Der sogenannte Staatsverbrauch, der insbesondere die staatlichen Personalkosten widerspiegelt, erhöhte sich seit 1970 von 15,8 Prozent zunächst stark auf 20,2 Prozent im Jahre 1980 und sank seitdem wieder auf 18,7 Prozent in 1998.

• Die extremste Verschiebung gab es im Bereich der staatlichen Zinsausgaben: 1970 hatten sie 1 Prozent des BIP ausgemacht, 1980 waren es 1,9 Prozent, dann 1991 2,7 Prozent, und 1998 werden es voraussichtlich 3,6 Prozent sein.

Der starke Anstieg der Zinsausgaben fand statt, obwohl sich die Zinsen seit einigen Jahren auf einem historisch sehr niedrigen Niveau bewegen. Deshalb kommt die Problematik noch ausgeprägter in der Quote des staatlichen Schuldenstandes am BIP zum Ausdruck. Die Summe aller staatlichen Schulden betrug

• 1970: 16,6 Prozent,

• 1980: 31,8 Prozent,

• 1991: 41,1 Prozent

und wird 1998 voraussichtlich 61 Prozent des BIP betragen. Damit wird der Maastricht-Wert von 60 Prozent leicht überschritten. Die gesamtstaatliche Defizitquote wird 1998 voraussichtlich mit 2,5 Prozent die Maastricht-Grenze von 3 Prozent leicht unterschreiten. Damit sind die Einnahmen aus zusätzlicher Verschuldung um ein Drittel niedriger als die Zinsausgaben zur Bedienung der vorhandenen Schulden.

Der Anstieg des Zinsanteils seit 1970 entspricht einem jährliche Ausgabevolumen von 101 Mrd. DM, das für andere staatliche Ausgabezwecke nicht mehr zur Verfügung steht. Allein der Zuwachs des Zinsanteils seit 1996 belegt dauerhaft ein jährliches Ausgabevolumen von 35 Mrd. DM. Frappierend ist die Feststellung, daß der Anstieg des Zinsanteils in den öffentlichen Haushalten fast exakt dem Rückgang der Bruttoinvestitionen entspricht: Im Jahr 1970 gab der Staat für Zinsen und Bruttoinvestitionen 5,6 Prozent des BIP aus, 1998 werden es etwa 5,4 Prozent sein. Anschaulicher kann die Tatsache nicht illustriert werden, daß der Preis der Verschuldung stets der Verzicht auf künftige Ausgabemöglichkeiten ist.

In den siebziger und achtziger Jahren hatte der Staat das gegenüber den fünfziger und sechziger Jahren deutlich verringerte Wirtschaftswachstum zunächst durch eine steigende Abgabenquote, dann ergänzend durch eine Zunahme der Staatsverschuldung kompensiert. Mittlerweile sind die ausgabesteigernden Möglichkeiten der Staatsverschuldung aufgezehrt und der die Ausgabemöglichkeiten beschränkende Effekt einer stark steigenden Zinsbelastung hat sich aufgebaut. Die Wirkungen einer ungewollt fallenden Steuerquote treten hinzu. Der Staat ist erstmals seit 1948 in einer Situation, in der seine realen Ausgabemöglichkeiten (nach Zinsen) über eine längere Zeit fallen, anstatt zu steigen.

Damit ist das politische System gegenwärtig offenbar überfordert. Das bloße „Kürzen" reicht nicht mehr, und für prinzipielle Struktureingriffe fehlen teils die Ideen, teils die Kraft und teils die Konsensfähigkeit. Die Stagnation, nach Abzug der Zinsen sogar das reale Schrumpfen, der staatlichen Ressourcen in den neunziger Jahren hat noch nicht ihre Entsprechung in veränderten Mentalitäten und Prioritäten gefunden, und der Umgang mit der Staatsverschuldung ist ein Ausdruck dessen. Diese Problematik geht weit über den Bundeshaushalt und die Zuständigkeiten des Bundes hinaus.

1.3. Steuern und Abgaben

Wie die Ausgabenquote, so war auch die Abgabenquote seit 1970 zunächst stark angestiegen, von 39,3 Prozent auf 46,1 Prozent des BIP in 1980. Seitdem gibt es einen leichten Rückgang auf 45,6 Prozent in 1991 und 44,6 Prozent in 1998.

1.3.1. Sozialabgaben

Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich allerdings eine dramatische Strukturverschiebung weg von den Steuern, hin zu den Sozialabgaben: 1970 betrug der Anteil der Sozialabgaben am BIP 12,6 Prozent. 1980 waren es 16,9 Prozent, 1991 dann 18 Prozent und 1998 schließlich 19,8 Prozent. Bei einem BIP-Anteil wie 1970 wären die Sozialabgaben 1998 um 230 Mrd. DM niedriger als sie tatsächlich sind! Die Sozialabgabenquote ist gegenwärtig in Japan, England und den USA wesentlich niedriger, in Italien und in Schweden kaum höher als im Deutschland des Jahres 1970. Die deutschen Bemühungen, den weiteren Anstieg des Rentenversicherungsbeitrags durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verhindern, können allenfalls eine Atempause darstellen. Wollte man die Sozialabgabenquote des Jahres 1970 durch Umschichtung in steuerfinanzierte Ausgaben wiederherstellen, so müßte man dafür praktisch das gesamte Mehrwertsteueraufkommen (1998 ca. 250 Mrd. DM) verwenden.

Zwar sollte man auch hier nicht voreilig Kausalitäten konstatieren: Aber es ist schon plausibel, daß das deutsche Arbeitsmarktproblem auch mit dieser seit 1970 eingetretenen gewaltigen Mehrbelastung des Produktionsfaktors Arbeit zu tun hat. Jedoch ist die Rückführung der Sozialabgabenquote auf ein mit unseren wichtigen Wettbewerbern vergleichbares (und der Ausgangslage des Jahres 1970 in etwa entsprechendes) Niveau ohne große und prinzipielle Struktureingriffe in die Sozialversicherung nicht zu lösen.

1.3.2. Steuern

Der Anteil der Steuereinnahmen am BIP (die sogenannte ‘volkswirtschaftliche Steuerquote’) war seit 1970 zunächst ebenfalls deutlich – wenn auch weniger ausgeprägt als die Sozialabgabenquote – angestiegen, von 24 Prozent im Jahr 1970 auf 25,9 Prozent in 1980. Bis 1991 sank die Steuerquote aber wieder auf 24,2 Prozent und damit in etwa auf das Ausgangsniveau des Jahres 1970. Seitdem ging sie fortlaufend stark zurück und wird 1998 voraussichtlich nur 21,7 Prozent betragen. Diese Aufkommenslücke von 2,5 Prozent entspricht einem Steuerausfall von rund 97 Mrd. DM jährlich und damit dem Gesamtumfang des Staatsdefizits 1998.

Der Rückgang der Steuerquote entfällt zum größten Teil (ca. 60 Prozent) auf die Einnahmeverluste bei Lohn- und Einkommensteuer (inklusive Solidarzuschlag und Zinsabschlagssteuer) sowie Körperschaft- und Gewerbesteuer, der Rest insbesondere auf den Fortfall der Erbschaftssteuer und den relativen Rückgang der spezifischen Verbrauchsteuern des Bundes inklusive Mineralölsteuer.

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2. Die besonderen Probleme des Bundeshaushalts

Die Situation des Bundeshaushalts ist geprägt durch den:

• steigenden Anteil an der gesamtstaatlichen Verschuldung,

• fallenden Anteil seiner Ausgaben sowohl am gesamtstaatlichen Ausgabevolumen als auch am BIP und den

• fallenden Anteil seiner Steuereinnahmen sowohl am gesamten Steueraufkommen als auch am BIP,

mit der Folge einer in den letzten Jahren immer spürbarer werdenden Bewegungsunfähigkeit.

Noch 1970 hatte der Bundeshaushalt – letztmals – einen kleinen Überschuß ausgewiesen. Bis 1980 stieg sein Anteil am gesamtstaatlichen Defizit auf 48,4 Prozent, fiel bis 1991 leicht auf 43,3 Prozent und stieg dann bis 1996 auf 65,8 Prozent. Beim Schuldenstand war die Entwicklung ähnlich. Im Jahr 1994 lagen 64,4 Prozent aller staatlichen Schulden beim Bund, 1980 waren es noch 50,3 Prozent gewesen.

2.1. Die Einnahmen des Bundes

Mit dem steigenden Schuldenanteil kontrastiert der sinkende Einnahmeanteil des Bundes. Im Jahr 1970 hatte der Bund 46,9 Prozent der Einnahmen des öffentlichen Gesamthaushalts auf sich vereinigt, 1980 dann 41,6 Prozent, 1991 noch 41 Prozent und 1996 nur noch 35,4 Prozent.

Noch deutlicher war der Rückgang der Einnahmen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. 1970 liefen 12,4 Prozent des BIP als Steuereinnahmen in die Kassen des Bundes, 1980 waren es 12,0 Prozent, 1991 dann 11,1 Prozent und lediglich noch 8,9 Prozent.

Waren die Steuereinnahmen des Bundes im Durchschnitt der siebziger Jahre um 7,7 Prozent und im Durchschnitt der achtziger noch um 5,5 Prozent gestiegen, so reduzierte sich dieser Zuwachs auf nur 1,2 Prozent jährlich im Zeitraum 1991 bis 1998. Allein der Anteilsrückgang seit 1991 repräsentiert einen Rückgang an Einnahmemasse von jährlich 120 Mrd. DM. Der starke Anstieg der Erlöse aus Vermögensverkäufen und Privatisierungen – 1998 werden hieraus Einnahmen von 26 Mrd. DM geschöpft – verblaßt dagegen in seiner relativen Bedeutung.

Die auf der Einnahmeseite schlichtweg katastrophale Lage des Bundes hat – neben den Auswirkungen des schwachen Wirtschaftswachstums – im wesentlichen zwei Gründe:

• Der Bund wurde, wie alle öffentlichen Haushalte, Opfer der stark gesunkenen Ergiebigkeit von Lohn- und Einkommensteuer (Bundesanteil 42,5 Prozent) und Körperschaftssteuer (Bundesanteil 50 Prozent). [ Vgl. hierzu ausführlicher in diesem Kapitel Abschnitt 4 un ten.] Auch die dem Bund allein zustehende, seit 1995 erhobene Ergänzungsabgabe (Solidarzuschlag) konnte hier keinen Ausgleich schaffen.

• Der Bund hat darüber hinaus in den letzten Jahren in erheblichem Umfang Einnahmeanteile an die Länder abgegeben. Diese Abgaben waren in der Summe so umfangreich, daß sie das herkömmliche System der Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern grundlegend aus dem Lot gebracht haben.

Fast jede grundlegende Reform der letzten Jahre hat der Bund mit einer dauerhaften Umschichtung von Einnahmen zugunsten der Länder bezahlt:

• Mit dem 1993 zwischen Bund und Ländern vereinbarten „Solidarpakt" waren ab 1995 die neuen Bundesländer in den bundesstaatlichen Finanzausgleich einbezogen worden. Das geltende System des Finanzausgleichs bewirkt im Ergebnis, daß alle Bundesländer pro Einwohner gleich hohe Steuereinnahmen (inklusive Bundesergänzungszuweisungen) haben. Der bundesstaatliche Finanzausgleich teilt sich auf in den sogenannten horizontalen Finanzausgleich, der in die finanzielle Last der Länder fällt, und in die Bundesergänzungszuweisungen an die finanzschwachen Länder. Die westlichen Länder setzten damals durch, daß ihnen der größte Teil ihrer Mindereinnahmen aufgrund der Einbeziehung der neuen Länder in den Finanzausgleich vom Bund durch Abtretung von Einnahmeanteilen an der Umsatzsteuer ausgeglichen wurde. Dies kostet den Bund einen jährlichen Einnahmeverlust von 17,5 Mrd. DM. Außerdem kosten den Bund die Bundesergänzungszuweisungen an die neuen Länder jährlich 15 Mrd. DM.

• Einen weiteren erheblichen Einnahmeverlust brachte 1995 die Bahnreform. Als Ausgleich für die künftige Zuständigkeit der Länder für den Schienenpersonennahverkehr erhalten diese jährlich 12,4 Mrd. DM aus dem Mineralölsteueraufkommen.

• Im Zuge der Reform des Familienlastenausgleichs wird seit 1996 das Kindergeld unmittelbar mit der Lohn- bzw. Einkommensteuer verrechnet, weil es der verfassungsmäßig gebotene Ersatz für die andernfalls zwingenden steuerlichen Kinderfreibeträge ist. Die dadurch möglich gewordene Einsparung beim Bundeskindergeld ließen sich die Länder mit der Abgabe von weiteren fünf Umsatzsteueranteilspunkten des Bundes bezahlen, die zu einem jährlichen Einnahmeverlust des Bundes von 13,7 Mrd. DM führen.

In der Summe hat der Bund also seit 1995 Einnahmeverzichte zugunsten der Länder mit einem Gesamteffekt von 58,8 Mrd. DM jährlich geleistet. Jeder Einzeloperation gingen unendliche Diskussionen voraus, bei denen am Ende aber immer klar war, daß die Länder notfalls ihre Verhinderungsmacht im Bundesrat einsetzen würden. In der Abwägung zwischen Reformverhinderung einerseits und Einnahmeverzicht andererseits hat der Bund sich dann jedesmal für den Einnahmeverzicht entschieden.

Durch die unterschiedlichen politischen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ist das Problem zwar verschärft worden. Es liegt aber ursächlich im Rollenkonflikt zwischen Bundesregierung und Bundesrat, der zur auf Konsens ausgerichteten Finanzverfassung in Widerspruch steht. Letztlich können die Länder bei wichtigen Reformvorhaben gefahrlos engste fiskalische Eigeninteressen verfolgen, weil sie wissen, daß nur die politische Legitimation der Bundesregierung, nicht aber die der einzelnen Landesregierung, an solchen Reformvorhaben hängt. Zahlreiche strategische und taktische Fehler und Ungeschicklichkeiten des Bundes kamen in den letzten Jahren hinzu, das ändert aber nichts an der Grundsubstanz des Problems.

2.2. Die Ausgaben des Bundes, sinkender Ressourcenanteil

Im Jahr 1980 hatte der Umfang des Bundeshaushalts 14,7 Prozent des BIP entsprochen. Er lag damit deutlich über dem BIP-Anteil des Jahres 1970 von 13 Prozent. Dieser Anteil sank während der achtziger Jahre auf 14,1 Prozent im Jahr 1991 ab. Seitdem ist ein starker Rückgang auf voraussichtlich nur noch 12 Prozent BIP-Anteil im Jahr 1998 zu beobachten. Erstaunlich ist, daß dieser starke Abfall trotz der finanziellen Mehrbelastungen aus der deutschen Einheit auftrat.

Dies war nur möglich, weil wesentliche Finanzierungsbeiträge für die deutsche Einheit

• zunächst auf Sondertöpfe verschoben wurden (Fonds Deutsche Einheit, Kreditabwicklungsfonds, Treuhandanstalt),

• auf der Einnahmeseite abgesetzt wurden (Solidarpakt),

• durch Steuervergünstigungen geleistet wurden (Sonderabschreibungen in Ostdeutschland) sowie

• der Sozialversicherung angelastet und mithin über steigende Sozialbeiträge finanziert wurden.

Auch die Reform der Familienlastenausgleichs bedeutete eine Umschichtung von der Ausgabe- auf die Einnahmeseite des Haushalts.

Gleichwohl ist es ein bemerkenswerter Trend, daß die Bundesausgaben in den siebziger Jahren noch um 9,4 Prozent, in den Achtzigern um 5,8 Prozent und seit 1991 nur um 1,8 Prozent jährlich zunahmen. Gleichzeitig mit dem relativen Ausgabenrückgang häuften sich jedoch im Bundeshaushalt Altlasten an, die quasi nur noch durchlaufende Posten darstellen, für politische und wirtschaftliche Zwecke aber nicht mehr zur Verfügung stehen (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1:
Die Altlasten im Bundeshaushalt
(in Mrd. DM)

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Nach Abzug der Altlasten nahmen die Bundesausgaben im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 1998 nur noch um 0,8 Prozent jährlich zu, d.h., sie fielen jedes Jahr real um 1 Prozent bis 2 Prozent. Dahinter verbarg sich ein durchaus differenziertes Durchschnittswachstum, denn in vielen Bereichen ist seit 1991 der Anteil der Bundesausgaben im Verhältnis zum BIP gesunken. Darüber hinaus wächst das BIP seit 1991 real so langsam wie in keiner vergleichbaren Periode der Nachkriegszeit.

Dies erklärt die seit einigen Jahren zu beobachtende paradoxe Lage der Bundesfinanzen: Einerseits ist der Bundeshaushalt wegen einer im Übermaß steigenden Verschuldung und immer neuer Haushaltslöcher ständig negativ im Gerede, andererseits hat er in allen wichtigen Politikbereichen ein ständiges Sinken der finanziellen Handlungsmöglichkeiten zu verzeichnen. Durch die oben dargestellten durchweg fallenden Anteilsquoten wird das Problem ja noch eher unterzeichnet (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2:
Prozentualer Rückgang der Ausgaben
des Bundes bei ausgewählten Haushaltspositionen seit 1991 (in % des BIP)

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In jedem Bereich gibt es wiederum spezifische „Altlasten": Altzusagen, die abgewickelt werden müssen (z.B. Steinkohlesubventionen), gesetzliche Leistungen, deren Durchführung keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr offenläßt (z.B. Kriegsopferversorgung) etc. Wenn man dann noch Eingriffe in vorhandene Strukturen scheut, dann können auch hohe Geldbeträge keinen angemessenen Gegenwert mehr bringen.

Das Wagnersche Gesetz des steigenden Staatsanteils, das seit dem 19. Jahrhundert ein ehernes Theorem der Finanzwissenschaft zu sein schien, bedarf seit 1991 der Ergänzung durch das „Waigelsche Gesetz des fallenden Bundesanteils". Im Jahr 1998 sind die Ausgaben des Bundes um 80 Mrd. DM niedriger, als sie bei der Ausgabenquote von 1981 gewesen wären. Dies war nicht die Folge einer gezielten Politik, sondern

• einer unerwarteten Erosion der Steuerbasis,

• eines wachsenden Anteils der Länderhaushalte,

• einer zunehmenden Verlagerung staatlicher Ausgaben auf die Sozialversicherung, und

• der „Bezahlung" dreier Großreformen – Solidarpakt, Bahnreform, Familienlastenausgleich – mit dauerhaften, dynamisch wachsenden Einnahmeverzichten zu Lasten des Bundes.

Erstaunlicherweise wurde das Problem öffentlich niemals richtig thematisiert. Nicht einmal wiederholte schwache Versuche, einen teilweisen Ausgleich durch die Erhöhung der dem Bund allein zustehenden Mineralölsteuer vorzunehmen, waren mit der FDP mehrheitsfähig. Dabei wäre eine grundsätzliche, perspektivisch angelegte Lösung unbedingt nötig gewesen, um die Diskussion um die Steuerreform auf eine rationale Grundlage zu stellen. Allerdings hätte solch eine Lösung verbunden sein müssen

• mit einer Strategie für die künftige Arbeitsteilung zwischen Bundeshaushalt und Sozialversicherung,

• mit grundsätzlichen Überlegungen über die Einnahmeaufteilung zwischen Bund und Ländern,

• mit einer politischen Entscheidung über den insgesamt (also inklusive Sozialversicherung, Länder und Gemeinden) und speziell für den Bund anzustrebenden Staatsanteil.

Dann hätte es auch ein rationales Raster für die Diskussion einer „Nettoentlastung" bei der Steuerreform gegeben. Auch diese Entscheidung mußte ja im Vorfeld der eigentlichen Reform fallen.

Der Bundeshaushalt wird in der absehbaren Zukunft kaum in eine Lage kommen, die es ihm erlaubt, in größerem Stil sogenannte versicherungsfremde Leistungen aus der Sozialversicherung zu übernehmen. Dieses Problem kann vielmehr nur im Rahmen tiefgreifender Reformen der Renten- und Arbeitslosenversicherung angegangen werden.

Auch hängt eine rationale Entscheidung über die Staatsquote des Bundes von den Ergebnissen einer Reform der Finanzverfassung ab. Der Bund braucht zur Erfüllung seiner Aufgaben beileibe keinen steigenden Staatsanteil, wohl aber eine Stabilisierung seines Einnahmeanteils am BIP auf einem Niveau, das ihn zu einer dauerhaften Aufgabenerfüllung befähigt. Folgende Zahlen veranschaulichen den Handlungsbedarf:

Tabelle 3:
Ungeplante Mindereinnahmen des Bundes 1991 bis 1998 (kumuliert)

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In diesem Umfang ist der Steueranteil des Bundes am BIP in den letzten Jahren quasi unbeabsichtigt und politisch ungewollt abgesunken. Die Abtretung von Einnahmeanteilen an die Länder im Rahmen des Familienlastenausgleichs, der Bahnreform und des Solidarpakts mag je für sich zum Entscheidungszeitpunkt politisch opportun und teilweise auch sachlich geboten gewesen sein. Zusammen mit den „unwillkürlichen" Einnahmeverzichten von 41 Mrd. DM haben sie den Bund auf der Ausgabenseite des Haushalts handlungsunfähig gemacht.

Einen gewissen Teilausgleich brachte zwar die Steigerung der Erlöse aus Vermögensverkäufen und Privatisierungen von knapp 6 Mrd. DM in 1991 auf über 25 Mrd. DM in 1998. Dies konnte aber den Rückgang der Steuereinnahmen nicht annähernd ausgleichen und wird außerdem ein vorübergehendes Ereignis bleiben. Auch wird damit zu rechnen sein, daß der Gewinnanteil des Bundes an der europäischen Zentralbank deutlich niedriger sein wird als der bisherige Bundesbankgewinn.

2.3. Ein Ausweg

• Über den anzustrebenden Einnahmeanteil des Bundes am BIP wäre eine politische Entscheidung zu treffen. Dies erfordert gleichzeitig Richtungsentscheidungen

– über die Grundzüge einer Reform der Finanzverfassung und

– über den künftig zulässigen Korridor der Sozialabgaben, denn der Bund wird am Ende immer für die Gesamtbelastung des Bürgers mit Steuern und Abgaben zur Verantwortung gezogen.

• Das mit dem politisch festgelegten Einnahmeanteil verbundene Einnahmevolumen und seine trendmäßige Entwicklung wären auf der Grundlage einer vorsichtigen Schätzung des durchschnittlichen mittelfristigen BIP-Wachstums zu schätzen. Das zyklische Auf und Ab von Wirtschaftswachstum und Inflation wäre dabei außer acht zu lassen. Die so ermittelten Einnahmezahlen wären der Haushalts- und Finanzplanung zugrundezulegen.

• Nach den großen politisch entschiedenen Einnahmeverzichten des Bundes zugunsten der Länder im Umfang von 1,5 Prozent des BIP seit 1991 ist es unrealistisch, den früheren Einnahmeanteil des Bundes am BIP (1991 12,2 Prozent) schnell wieder zu erreichen. Bei den 10,3 Prozent des Jahres 1998 kann es allerdings auch nicht bleiben, 11 Prozent sollten angestrebt werden. Da die Einnahmen aus Privatisierungen und Notenbankgewinnen zurückgehen werden, wird der Anteil der Steuereinnahmen des Bundes um deutlich mehr als 0,7 Prozentpunkte des BIP angehoben werden müssen.

• Aus einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung bei gleichzeitiger Absenkung des Progressionsgrades und der Tarifsätze können nach einer Übergangsfrist gesamtstaatliche Mehreinnahmen von etwa 1,2 Prozent des BIP, darunter für den Bund von 0,5 Prozent des BIP, erwartet werden. Ein ähnlich hoher Betrag könnte für den Bund aus einer Erhöhung der Mineralölsteuer erzielt werden, was einer Erhöhung von rund 30 Pfennig pro Liter entspräche.

• Als Entscheidungsregel sollte gelten:

– Fällt der Einnahmeanteil des Bundes unter die politisch festgesetzten 11 Prozent des BIP (oder eine andere politisch entschiedene Anteilsquote) oder steigt er darüber, so ist Handlungsbedarf für die Steuergesetzgebung gegeben, falls es sich nicht nur um eine zyklische Bewegung handelt.

– Fällt das Trendwachstum der Einnahmen bei gegebenem BIP-Anteil unter das Wachstum der Ausgaben, so ist Entscheidungsbedarf bei den Ausgaben gegeben. Wichtig ist aber, daß die Ausgaben am Wachstumstrend der Einnahmen orientiert bleiben.

• Für die dauerhaft tragfähige Nettoneuverschuldung des Bundes sollte eine Obergrenze von 1 Prozent des BIP angesetzt werden. Damit ist gewährleistet, daß – einschließlich der Verschuldung von Ländern und Gemeinden – ein gewisser Sicherheitsabstand zur Maastricht-Obergrenze von 3 Prozent eingehalten wird.

• Aus dem politisch normierten Einnahmeanteil und der dauerhaft tragbaren Verschuldung ergibt sich dann eine zulässige Ausgabenquote des Bundes von 12 Prozent des BIP – exakt die voraussichtliche Ausgabenquote des Jahres 1998. Diese wäre dann zwar durch den erhöhten Einnahmeanteil am BIP dauerhaft solide finanziert, neue Ausgabespielräume ergeben sich dadurch aber nicht.

In der fast schon totalen Krise der Bundesfinanzen liegt auch eine Chance. Keine Bundesregierung wird die nächste Legislaturperiode politisch überleben, wenn sie finanzpolitisch am Ausgangspunkt des September 1998 einfach weitermacht, denn alle rationalen Möglichkeiten der Verschuldung wie auch des Schiebens und Streckens sind erschöpft:

• Die Einnahmeseite des Haushalts muß wieder auf eine rationale Grundlage gestellt werden. Dazu gehört, daß man einen politisch gesetzten Anteil der Bundeseinnahmen am BIP tatsächlich wirksam sicherstellt. Dazu gehört aber auch, daß man ein leistungs-, wachstums- und beschäftigungsfreundliches Steuersystem verwirklicht, das nachhaltige Erträge in einer wieder dynamischer wachsenden Wirtschaft erbringt.

• Die Finanzverfassung muß so geändert werden, daß Bundesregierung und Bundesrat zu einem rationalen, kooperativen Verhalten nachhaltig angehalten sind und die Eigenverantwortung aller staatlichen Ebenen auf der Einnahme- und Ausgabeseite gestärkt wird.

• Die Mittelzuweisung an die verschiedenen Politikbereiche muß eine rationale, mittelfristig verläßliche und berechenbare Basis erhalten.

• Durch Strukturreformen in allen Bereichen staatlichen Handelns müssen neue Produktivitätsreserven erschlossen werden. Hier schlummert ein gigantisches Potential.

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3. Intelligente Konsolidierung durch Budgetierung und Modernisierung

Wenn wir weiterhin ein leistungsfähiges, auch für neue Aufgaben hinreichend flexibles Staatswesen wollen, dann sind wir an einem Wendepunkt angelangt. Der rationale Ausweg heißt: Es muß eine systematische Strategie entwickelt werden, die das langfristige Ausgabewachstum an die langfristigen Einnahmemöglichkeiten bindet und das solchermaßen exogen festgelegte Ausgabevolumen nach möglichst rationalen Kriterien auf die verschiedenen Ausgabezwecke verteilt. Das hierfür zu entwickelnde und teilweise schon vorhandene Instrumentarium läßt sich zusammenfassen unter dem Begriff ‘Budgetierung’.

Am Ende wird die Einhaltung von Budgetrestriktionen durch die Realität immer erzwungen. Wird dies nicht rechtzeitig beachtet, so sorgt der Faktenzwang irgendwann für eine unsystematische oder chaotische Budgetierung, die durch das unvermittelte Nebeneinander von falschen Prioritäten, Geldverschwendung und unakzeptablen Ad-hoc-Eingriffen gekennzeichnet ist.

Die rationale Alternative besteht

• in einer realistischen, am langfristigen Trend orientierten Einschätzung der Einnahmenentwicklung. Für eine rationale Haushaltspolitik ist es z.B. relativ gleichgültig, welches Ergebnis aktuelle Steuerschätzungen haben. Wir wissen nämlich, daß bei einem Wirtschaftswachstum von 1 Prozent bis 2 Prozent, einer erträglichen Preisstabilität und konstanter Steuerquote der langfristige jährliche Einnahmezuwachs kaum höher als 3,5 Prozent bis 4 Prozent sein kann.

• Auf dieser Grundlage müssen den verschiedenen Ausgabebereichen verläßliche, langfristig orientierte Ausgabekorridore zur Verfügung gestellt werden.

• Dann müssen die notwendigen langfristigen Konsequenzen vorausschauend innerhalb des jeweiligen Ausgabenbereichs gezogen werden. Das schließt eine umfassende Prüfung von Normen, Gestaltungsprinzipien und Art der Aufgabenerfüllung ein.

Budgetierung umfaßt sowohl den Prozeß der finanzpolitischen Entscheidungsfindung – sei es im Parlament, sei es in der Regierung – als auch die Art, wie die Mittel durch die haushaltsbewirtschaftenden Stellen – vom Ministerium bis hinab auf die Ämterebene – verausgabt werden und welche Bindungen oder Freiheiten es dabei gibt.

An der Spitze der Budgetierung muß eine Regelbindung der Ausgabenentwicklung an die Einnahmenentwicklung stehen. Es kommt darauf an – und das ist der Kern des Budgetierungsgedankens –, die Ausgaben nicht mehr als Summe der wie auch immer ermittelten Bedarfe festzulegen, sondern umgekehrt, die Standards der Bedarfsdeckung vorausschauend zu orientieren am Entwicklungstrend der Einnahmeseite und auf dieser Grundlage die unvermeidliche Konkurrenz um knappe Mittel möglichst rational und transparent zu organisieren. Rational und transparent bedeutet: Von vornherein muß klar sein, daß im Rahmen des einnahmeorientierten Ausgabevolumens ein Mehr an einer Stelle stets ein Weniger an anderer Stelle bedeutet.

Dabei kommt es darauf an, die Art der Aufgabenerfüllung auch tatsächlich dem dauerhaft für einen bestimmten Sektor zur Verfügung stehenden Mittelvolumen anzupassen: Aus den oben dargestellten Eckwerten zur Haushaltsstruktur des Bundes kann unschwer abgeleitet werden, daß der gesamte Ausgaberahmen (nach Altlasten) bei vertretbarer Verschuldung auf längere Sicht nicht mehr real wachsen kann, oder umgekehrt, daß Wachstum in einem Bereich die reale Abnahme in einem anderen voraussetzt. Die Finanzkorridore der verschiedenen Bereiche müssen für einen mittelfristigen Zeitraum politisch verläßlich festgelegt werden. Auf dieser Basis kann dann jeder Minister seine Ressortverantwortung wahrnehmen und am Ergebnis auch gemessen werden.

Ein Beispiel: Wenn gegenwärtig bei der Bundeswehr

• ein Jagdflugzeug angeschafft wird, das auf 10 Jahre ein Drittel aller Beschaffungsmittel beansprucht,

• 80 Prozent der Transportmaschinen vom Typ Transall, die z.B. für Bosnien gebraucht werden, nicht einsatzfähig sind,

• notwendige Übungen wegen Spritmangels ausfallen,

• die Qualität der Truppenbekleidung sich deutlich verschlechtert hat und

• ein großer Teil der Verbände militärisch nicht einsatzfähig ist,

dann läßt dies nur einen Schluß zu: Die Verantwortlichen haben noch nicht zur Kenntnis genommen, daß sich der Verteidigungshaushalt seit Mitte der achtziger Jahre real halbiert hat und in absehbarer Zukunft auch nicht mehr real zunehmen wird. Weil sie die strukturellen und organisatorischen Konsequenzen aus dieser Entwicklung bisher nicht gezogen haben, ist der Gegenwert der Haushaltsmittel noch stärker gesunken als die Mittel selber.

Die Ausgaben aller Gebietskörperschaften müssen entsprechend den langfristigen Einnahmemöglichkeiten verstetigt werden und auf dieser Grundlage in ihrer Produktivität optimiert werden. Die Produktivitätsreserven sind gigantisch. Sie werden aber erst erschlossen, wenn die zentralen finanzpolitischen Entscheidungen sich auf die Festlegung der großen Ausgabenblöcke konzentrieren und der politische Leistungswettbewerb seine Erfüllung in der optimalen Nutzung eines gegebenen und mittelfristig verläßlich festgelegten Ausgabevolumens findet.

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4. Reform des Steuersystems

Wie bereits dargelegt, ist der Staatsanteil am BIP in den letzten beiden Jahrzehnten auf der Einnahme- und Ausgabeseite weitgehend konstant geblieben, in den letzten Jahren sogar gesunken. Dem widerspricht die weitverbreitete Empfindung einer ständig wachsenden Abgabenbelastung. Die meisten Bürger haben diese Empfindung zu Recht, denn sie leiden unter dem doppelten Zugriff ständig steigender Beitragssätze in der Sozialversicherung und einer wachsenden Grenzbelastung mit Lohn- und Einkommensteuer. Stieg – trotz Schwarzarbeit – der Anteil der Sozialabgaben am BIP wenigstens noch kräftig an, so scheint der ständig fallende Anteil der Lohn- und Einkommen- sowie der Unternehmensteuern alle jene Lügen zu strafen, die über eine wachsende Steuerlast klagen.

In der politischen Diskussion wird demgegenüber oft auf den fallenden Anteil der Einkommensteuerbelastungen verwiesen. Diese Meinung sieht die Bürger nur als Kollektiv. Tatsächlich ist der Preis für immer mehr Abschreibungsmöglichkeiten, Ausnahmen und Schlupflöcher, die immer nur einer Minderheit zugute kommen, die ständig wachsende Belastung der Mehrheit, die (noch) keine besonderen Steuersparanstrengungen unternimmt und vielleicht dazu auch gar keine Möglichkeit hat.

Dies führt trotz formal hoher Steuerprogression zu einer erheblichen verteilungspolitischen Schieflage des deutschen Einkommensteuersystems zugunsten jener Besserverdienenden, die an einer steuersparenden Gestaltung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten ein aktives Interesse zeigen. Eine alle Ausnahmeregelungen und Gestaltungsmöglichkeiten weitestgehend beseitigende Einkommensteuer mit flacher Progression und niedrigem Spitzensteuersatz würde mehr tatsächliche Umverteilung bewirken als das jetzige System und wäre zudem wesentlich ergiebiger. Sie wäre auch die notwendige Bedingung für eine Verbesserung des allgemein zu beobachtenden Verfalls der Steuer- und Abgabenmoral. Unser jetziges System prämiert mit hohen Erträgen legale und illegale Steuer- und Abgabevermeidungsstrategien. Es erzwingt geradezu die Forderung nach immer neuen Ausnahmetatbeständen, und es ermuntert die politischen Entscheidungsträger immer wieder zu einer steuerpolitischen Subventions- und Lenkungspolitik, bei der die vollen Kosten nicht offengelegt und schon gar nicht politisch gerechtfertigt werden müssen.

All dies hat jedoch nur sehr begrenzt in die deutsche steuerpolitische Diskussion der letzten beiden Jahre Eingang gefunden. Die tatsächliche Alternative

• hohe Steuersätze, steile Progression, viele Ausnahmen, große Ungerechtigkeiten, sinkende Ergiebigkeit im geltenden System oder

• niedrige Steuersätze, flache Progression, wenig Ausnahmen, trotz niedriger Spitzenbelastung mehr Verteilungsgerechtigkeit, höhere Ergiebigkeit in einem reformierten System

wurde auch von der veröffentlichten Meinung nicht wirklich verinnerlicht.

Statt dessen geriet die Diskussion durch die (vor allem von der FDP betriebene) Fixierung auf eine „Nettoentlastung" in eine völlige Schieflage. Eine einflußreicher Teil der öffentlichen Meinung möchte offenbar die steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Besserverdiener weitgehend erhalten und einen neuen, weit niedrigeren Steuertarif. Das geht natürlich schon deshalb nicht, weil – gemessen am Steueraufkommen – ein Bedarf für Nettoentlastung nicht erkennbar ist, ganz im Gegenteil: Der Anteil der Lohn- und Einkommensteuer, Körperschaft- und Gewerbesteuer am BIP ist seit 1991 von 12,2 Prozent auf 10,7 Prozent gesunken und liegt damit – trotz Zinsabschlagssteuer und Ergänzungsabgabe – noch weit unter dem Niveau des Jahres 1970. Dies entspricht einer „Nettoentlastung" 1998 von 58 Mrd. DM im Vergleich zu 1991. Bezogen auf das gesamte Steueraufkommen beläuft sich der Ausfall sogar auf 97 Mrd. DM.

Zahlreiche Staaten – unter anderem die USA, England, Neuseeland, Australien, die Niederlande, Österreich und Italien – haben mittlerweile ihre Steuerprogression über die Länge des gesamten Tarifs teilweise erheblich gesenkt, gleichzeitig die Bemessungsgrundlage verbreitert und allesamt bei niedrigeren Sätzen ein höheres Aufkommen als wir. Soweit es dabei im Einstieg eine Nettoentlastung gab, wurde diese alsbald durch die Wirkungen einer breiteren Steuerbasis, größerer Steuerehrlichkeit und die einnahmesteigernden Wirkungen des bewirkten Wachstumsimpulses zunächst ausgeglichen und dann überkompensiert.

Gleiches gilt für die Körperschaftsteuer. Auch hier haben wichtige ausländische Konkurrenten bei wesentlich niedrigeren Sätzen ein höheres Aufkommen als wir.

Dabei darf auch nicht außer acht bleiben, daß die Tarifbelastung der Einkommen- und Körperschaftsteuer für Standortentscheidungen ein ständig wachsendes Gewicht bekommt:

• Die im Zuge der Globalisierung allgemein gewachsene Mobilität des Kapitals,

• die marktwirtschaftliche Öffnung Osteuropas und Südostasiens,

• die wachsende Transparenz durch Datennetze und Telekommunikation, verbunden mit einem gigantischen Verfall der Transportkosten für Informationen bei steigender Informationsgeschwindigkeit,

• die Deregulierung der Transportmärkte mit der Folge eines erheblichen Absinkens der physischen Raumüberwindungskosten für Güter und Menschen,

• insbesondere aber die Einführung der einheitlichen europäischen Währung,

alle diese Elemente verstärken die Tendenz,

• daß das Kapital dorthin geht, wo es die höchste Nettorendite hat,

• und Bezieher hoher Einkommen ihren Wohnsitz dort nehmen bzw. ihr Geld dorthin verbringen, wo sie die niedrigste Einkommensteuer zahlen.

Für eine Einkommen- und Körperschaftsteuer mit breiter Bemessungsgrundlage und niedrigen Sätzen sprechen also vier Aspekte:

Der Ergiebigkeitsaspekt: Eine niedrige Besteuerung mit breiter Bemessungsgrundlage bringt fiskalisch mehr, weil alle Einkommensbestandteile erfaßt werden und der Drang zur Steuervermeidung und zur Schwarzarbeit wesentlich vermindert wird.

Der Wachstumsaspekt: Solch eine Besteuerung regt das Wirtschaftswachstum an, weil sich Einkommenszuwächse auch ohne Steuervermeidungsumwege sofort in höheres Nettoeinkommen umsetzen und weil das Kapital nicht mehr dorthin geht, wo man am meisten Steuern spart, sondern dorthin, wo es am produktivsten ist.

Der Konkurrenzaspekt: Standorte mit vergleichsweise niedriger Besteuerung sind für in- und ausländische Investoren attraktiver. Auch der Konkurrenzaspekt trägt bei zum Wachstumsaspekt.

Der Gerechtigkeitsaspekt: Ein flacher Tarifverlauf mit niedriger Progressionsrate mit niedrigem Spitzensteuersatz, der auch tatsächlich durchgesetzt wird, bringt erheblich mehr Umverteilung als das gegenwärtige System, von dessen Gestaltungsmöglichkeiten vorrangig die Besserverdiener profitieren.

Auch in Deutschland gibt es tragfähige und durchgerechnete Vorschläge, sei es der Vorschlag der Bareis-Kommission oder das Modell des ehemaligen rheinland-pfälzischen Finanzstaatssekretäres Dr. Thilo Sarrazin. Dennoch scheiterte die Reform, weil keine der traditionellen Parteien den unterschiedlichen Gruppierungen ihrer Klientel den Verzicht auf bestimmte Vergünstigungen zumuten wollte. Im Ergebnis blieben jene, die einen großen Wurf wagen wollten, überall in der Minderheit. Damit haben nur wenige einen Nutzen, die meisten aber einen Schaden. Wir behalten den absurden Zustand, daß mehr als die Hälfte des deutschen Volkseinkommens nicht in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer fällt und daß z.B. in der Einkunftsart ‘Vermietung und Verpachtung’ nicht nur keine Einkommensteuer gezahlt wird, sondern durch Produktion steuerlicher Verluste auch noch das Steueraufkommen anderer Einkunftsarten um Milliarden vermindert wird.

Der größte Reformverhinderer war dabei die FDP: In der Tat hätte die Klientel der steuersparenden „Besserverdiener" am Ende trotz niedrigerer Tarife mehr gezahlt als jetzt. Das sollte durch „Nettoentlastung" von 30 Mrd. verhindert werden, die dann von der SPD zu Recht als unfinanzierbar abgelehnt wurde.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

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